Einführung
Am Abend des 15. Juni 2013 gegen 21 Uhr wurde der Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul durch die Polizei gewaltsam geräumt. Vierzehn Tage lang war er von einer großen spontanen Volksbewegung besetzt gewesen. An diesem Samstagabend war der Park besonders dicht gefüllt. Niemand hatte mit einer Räumung am Wochenende gerechnet. Ich war an dem Tag in einem abgelegenen Stadtteil unterwegs. Von der Räumung erfuhr ich erst, als ich im Bus zurück eine junge Frau am Telefon zu ihrer Mutter sagen hörte, sie könne heute nicht nach Hause kommen. In der Hand hielt sie eine Zitrone – ein oft benutztes Mittel zur Behandlung von durch Tränengas gereizten Augen. Schließlich bekam der Busfahrer die Weisung, uns ohne Stopp im großen Bogen um den Taksim-Platz herumzufahren. Wir wurden erst drei Kilometer hinter dem Platz herausgelassen. Zu Fuß strömten die Menschen in Richtung Gezi-Park. Als wir die Gegend erreichten, war der Park bereits geräumt, aber auf der Cumhuriyet Caddesi, einer sehr breiten Allee, die auf den Park zuführt, befanden sich Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschen. Die meisten schienen spontan und unvorbereitet zur Rettung des Parks herbeigeeilt zu sein. Ich erinnere mich an eine Frau in Abendkleid und Stöckelschuhen, die als Teil einer Menschenkette Pflastersteine für den Bau einer Barrikade weiterreichte. Trotz der Menschenmassen war die Räumung der Allee nur eine Frage der Zeit. Immer wieder schoss die Polizei Tränengas in die Menge, gegen das nur wenige mit Atemmasken geschützt waren. Die wenigsten der dort versammelten Menschen hatten Erfahrung im Straßenkampf, so dass sie vor den übermüdeten und daher aggressiven und gewaltbereiten Polizisten ohne größeren Widerstand zurückwichen.
Tief in der Nacht, nach mehreren Stunden, in denen sich Tränengaseinsätze, Zurückweichen, Barrikadenbau und erneutes Zurückweichen abwechselten, verstreute sich die Menge. Müde und verschwitzt, die Augen vom Tränengas gereizt, beschloss auch ich, in meine nahegelegene Wohnung zu gehen. Trotz der Erschöpfung, der Wut über die Polizeibrutalität und der Sorge um Freundinnen und Freunde in anderen Stadtteilen, die ich wegen der polizeilichen Straßensperren nicht erreichen konnte, hatte ich erstaunlicherweise ein gutes Gefühl. Es war das Gefühl, mit mir, meinen Mitmenschen und der Stadt um mich herum im Reinen zu sein. Es ist eine eigenartige Stimmung, die schwer zu beschreiben ist und die wohl nur in historisch bedeutenden Momenten klar hervortritt. Hier hatten Menschen kreativ, solidarisch und verantwortungsvoll gehandelt und so ihr »Recht auf Stadt« ausgelebt.
Das »Recht auf Stadt« wurde am deutlichsten von Henri Lefebvre in seinem 1968 erschienenen gleichnamigen Buch formuliert. Demnach ist die Stadt mehr als lediglich eine Reservatenkammer an Arbeitskräften, die nach getanem Werk ihre Bedürfnisse durch Massenkonsum befriedigen und ansonsten in schlichten Großwohnanlagen weggeschlossen werden. Stattdessen schwebte Lefebvre die Vision einer Stadt als gelebte Utopie vor, als Ort der Vielfalt, des Austausches und des gemeinsamen Feierns. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass die Stadtbewohner sich auf unterschiedliche Aufgaben spezialisieren, sollte allen als öffentliches Gut zur Verfügung stehen. Dies meinte Lefebvre nicht nur im Sinne von Geld: Vor allem sollten die kulturelle und intellektuelle Produktion, die soziale Infrastruktur und insbesondere der städtische Raum allen im gleichen Maß zur Verfügung stehen.[1] Ein solches utopisches Fest, bei dem Kreativität, Ressourcen und Aufgaben freigiebig geteilt wurden, hatten die Bewohner Istanbuls im Gezi-Park gerade hinter sich.
Doch nicht nur mit den heutigen Menschen Istanbuls – und mit seinen zahlreichen Straßenkatzen und -hunden, die bei der Verarztung nach den Tränengaseinsätzen nicht vergessen wurden – fühlte ich mich verbunden. Auf eine seltsame Weise fühlte ich mich auch mit dem Geist dieser Stadt im Reinen. Mark Mazower hat in seinem Buch Salonica Thessaloniki als »Stadt der Geister« bezeichnet, als Stadt, in der es bis heute spukt. So sei in den 1930er Jahren der Geist des islamischen Heiligen Musa Baba gesehen worden, wie er in der Nähe seines Grabes in der Oberstadt umherwandert. Noch heute träumen Menschen dort von Kellern voller Janitscharen oder byzantinischen Nekropolen, die unter ihren Häusern liegen. Gerüchte über versteckte Schätze der deportierten Juden oder Geister in den verfallenen Villen am Meer halten sich hartnäckig. Denn die deutschen Besatzer (1941–1944) und der griechische Nationalstaat seit 1913 hatten die multikulturelle Geschichte der Stadt auslöschen wollen und dazu die muslimischen und jüdischen Friedhöfe, die Derwischkonvente und die Synagogen zerstört. Durch den Spuk, so Mazower, kommt zum Ausdruck, dass das Gedenken an die Toten vergangener Jahrhunderte in der heutigen Stadt keinen Ort mehr findet, jedoch ebenso wenig dem Vergessen anheimfällt.[2]
Mit Istanbul verhält es sich anders. Im Jahr 2014 spürte der Filmemacher Ben Hopkins in einem experimentellen Dokumentarfilm den Geistern Istanbuls, der langen Vergangenheit der Stadt, nach. Er durchstreifte mit seinem Kamerateam die Straßen und fand zahlreiche Hinweise auf frühere Zeiten.[3] Zwar wurde durch Fortschrittsglauben, kurzsichtiges Profitstreben, einseitige Erinnerungspolitik und Vernachlässigung sehr viel der alten städtischen Substanz zerstört. Sowohl das Gedächtnis der Menschen weit über die Stadtgrenzen hinaus als auch die zahlreichen Bibliotheken, die Straßen und vor allem der Istanbuler Boden sind jedoch so gesättigt mit Überresten aus der Vergangenheit, dass ihre Geister stets Gehör und einen Ort finden werden. Neben den großen, spektakulären Moscheen, Kirchen und Palästen sind es vor allem die unscheinbaren, kleinen Orte, an denen dies möglich erscheint. So folgte ich vor ein paar Jahren einigen Jugendlichen durch eine einfache Tür, hinter der es abwärts ging, bis wir mehrere Stockwerke unterhalb der Straßen ankamen. Dort spazierten wir durch die gewaltigen Bögen des Verlieses, in das der oströmische Kaiser Alexios I. Komnenos einst den unbotmäßigen General Michael Anemas gesperrt hatte und in dem der abgesetzte Kaiser Andronikos seine letzten Tage verbrachte. Bei anderer Gelegenheit zeigten mir Arbeiter in einer ärmlichen Metallwerkstatt im Stadtteil Galata stolz das zwischen ihren zurechtgeschnittenen Blechen sichtbare Deckengemälde, das offenbar auf die vor Hunderten von Jahren hier residierenden Italiener zurückgeht. Vor allem aber sind es die Friedhöfe der Stadt, die noch heute Zeugnis ablegen vom Leben der vielen vorangegangenen Generationen und von der einstigen religiösen Vielfalt der Stadt. Muslimisch, griechisch-orthodox, bulgarisch-orthodox, rumänisch-orthodox, armenisch-apostolisch, jüdisch-sephardisch, jüdisch-karaimisch, katholisch, evangelisch, anglikanisch – all diese Gemeinden haben noch heute eigene Grabplätze in der Stadt. In meinem Stadtteil Beşiktaş frühstückten Studenten bis vor kurzem in Pandos Café, dessen Familie aus der Gegend des heutigen Bulgariens stammt. Pando selbst hatte als Kind noch den Paschas der letzten Sultane Sahne (kaymak) in ihre Villen geliefert. Und nur wenige Meter von dem inzwischen durch den Hausbesitzer geschlossenen Café entfernt steht eine Backstube, die bis heute »7-8 Hasan Pascha« heißt, nach dem berüchtigten Polizeichef von Sultan Abdülhamid, dem sie im 19. Jahrhundert gehörte.
Mit diesen Geistern, oder besser gesagt: mit dem Geist der Stadt fühlte ich mich nun, nach fünf Jahren in Istanbul, mehr verbunden als je zuvor. Denn wie erst im Nachhinein deutlich wurde, hatten wir in diesen Tagen Ende Mai und Anfang Juni 2013 tatsächlich an einem bedeutenden Ereignis teilgehabt. Es war allerdings in der langen Geschichte dieser Stadt keineswegs einzigartig, sondern stand in einer langen Tradition. Istanbul und zuvor Konstantinopel ist zwar wie keine andere Stadt von Anfang an eine Stadt der Kaiser und Sultane gewesen; gleichzeitig haben sich jedoch zu den unterschiedlichsten Zeiten stets Menschen in der Stadt zusammengefunden, die ihr »Recht auf Stadt« reklamierten und nicht bereit waren, dem Kaiser zu geben, was angeblich des Kaisers ist. Sie versammelten sich auf den Plätzen oder in den Kaffeehäusern, im Stadion oder an den Ufern, um sich den sozialen, infrastrukturellen oder kreativen Mehrwert der Stadt anzueignen oder ihn umzuverteilen. Nicht alle diese Menschen kann man umstandslos als Helden feiern, und vielleicht sind nicht alle Herrschenden, die die Stadt gesehen hat, uneingeschränkt als Tyrannen zu bezeichnen. Doch das Wechselspiel zwischen diesen unterschiedlichen Polen, der Gestaltung der Stadt von oben wie von unten, hat wesentlich zu ihrem facettenreichen Charakter beigetragen.
Diese wechselhafte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Herrschenden und Widerspenstigen um Konstantinopel-Istanbul, die das Leben in dieser Stadt über die Epochen hinweg geprägt hat, soll auf den folgenden Seiten erzählt werden. Zahlreiche spannende Geschichten gäbe es zu erzählen, denn über viele Jahrhunderte war Istanbul die bevölkerungsreichste, intellektuell produktivste und reichste Stadt in Europa und dem Nahen Osten. Zwar werden auch die Entwicklung der Stadt im Laufe der Jahrhunderte, ihre Geographie und ihre Bauten eine wichtige Rolle spielen. Doch vor allem geht es darum, bestimmte entscheidende Momente, einzelne...