9. Die Kontextualisierung von Störungen
Im Allgemeinen scheuen postmoderne Psychotherapeuten vor traditionellen Diagnosen zurück, obwohl sie wissen, dass sie notwendig sind, um die Anforderungen der Krankenkassen zu erfüllen. Diese Zurückhaltung bezüglich formeller Diagnosen ist eine Reaktion auf die objektivistische, reduktionistische und modernistische Art, Menschen über ihre Diagnosen zu beurteilen, anstatt durch ihren einzigartigen Weg, wie sie mit Schwierigkeiten umgehen. Obwohl es sprachlich bequem sein mag, einen Klienten mit extremen Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen, mit Angstschüben wegen realem oder nur imaginiertem Verlassenwerden und mit selbstschädigenden Tendenzen als „Borderliner“ zu bezeichnen, ist dies wenig hilfreich im Sinne einer Erweiterung des Spektrums an Optionen, die dem Klienten oder seinem Therapeuten zur Verfügung stehen (Harter, 1995). Aus diesem Grund beziehen postmoderne Therapeuten die formellen Diagnosen in ihre therapeutische Praxis ein, lassen sich hierdurch jedoch nicht in ihrem Handlungsspielraum einschränken.
Ungeachtet dieser Ambivalenz gegenüber traditionellen Diagnosen nutzen postmoderne Psychotherapeuten eine Reihe distinktiver Problemformulierungen auf unterschiedlichen Ebenen der epigenetischen Hierarchie, von der biogenetischen bis zur kulturell-linguistischen. Hierbei sind sie sich jedoch bewusst, dass es sich bei diesen Diagnosen an sich ebenfalls um menschliche Konstruktionen handelt (Raskin & Lewandowski, 2000), die für manche Klienten oder Therapeuten hilfreich sind, für andere hingegen nicht. So war im einleitenden Fallbeispiel etwa Joannes Diagnose „Panikattacken psychogenen Ursprungs“ für sie nicht hilfreich dabei, ihre lähmende Angst zu verstehen, obwohl dieselbe Diagnose einem anderen Klienten ein hinreichendes Verständnis der erlebten Angstgefühle gestatten und ihm einen Bezugsrahmen für die Arbeit an der daraus resultierenden Symptomatik hätte bieten können. Dessen ungeachtet ist es stets das Wechselspiel zwischen Klient und Therapeut, das für die Sinnhaftigkeit einer formellen Diagnose für einen bestimmten Klienten ausschlaggebend ist, ebenso wie das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie den diagnostischen Prozess beeinflusst. Die Tendenz, die Interaktion zwischen den Ebenen zu berücksichtigen, unterscheidet die postmoderne Psychotherapie von anderen psychiatrischen und psychotherapeutischen Ansätzen, die sich lediglich auf das untere Ende des Spektrums konzentrieren – die biogenetischen und persönlich-agentischen Ebenen –, wie es traditionellere kognitive Therapien in der Regel tun. Die Einsicht, dass ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zu persönlichen Schwierigkeiten führen kann, eröffnet Therapeuten multiple Zugänge zur Erkundung von Problemen. Aus diesem Grund werde ich in diesem Kapitel einen allgemeinen Ansatz zum Verständnis von „Störungen“ auf allen vier Ebenen beschreiben, wobei ich die Erörterung spezifischer Problemkonzeptualisierungen im Rahmen diverser konstruktivistischer, sozialkonstruktionistischer und narrativer Perspektiven auf spätere Abschnitte dieses Buches verschiebe, wo sie in detaillierten Fallbeispielen verankert werden können.
Bei der Betrachtung auf der biogenetischen Ebene erkennen konstruktivistische Psychotherapeuten an, dass manche persönlichen Schwierigkeiten physiologische Ursachen haben können. Wie es für die besten Methoden in der Psychotherapie wichtig ist, so ist es auch für den praktischen Arzt wichtig, die physiologische Ursachen von Leid zu identifizieren (Schilddrüsenerkrankungen bei affektiven Störungen, Kreislauferkrankungen bei erektiler Dysfunktion etc.). Aus diesem Grund sind Überweisungen oder Empfehlungen einer medizinischen Untersuchung nicht prinzipiell problematisch, auch wenn ein rein pharmakologischer Therapieansatz selten als ausreichend angesehen werden kann. In Joannes Fall war bereits eine medizinische Untersuchung durchgeführt worden, und da es keine biogenetische kausale Erklärung für ihre Symptome gab, hatte sie sich für eine Therapie entschieden. Tatsächlich war es in diesem Fall nicht erforderlich, allzu viel therapeutische Aufmerksamkeit auf ihre physischen Beschwerden zu richten, da die Ursache ihrer Symptome in den persönlich-agentischen und dyadisch-relationalen Bereichen ausgemacht wurde.
Auf der persönlich-agentischen Ebene konzentrieren sich die diagnostischen Bemühungen auf jene individuellen Arten der Bedeutungskonstruktion, die nicht revidiert wurden, um sich den veränderten Anforderungen erlebter Erfahrungen anzupassen. Tatsächlich beschrieb der Begründer des klinischen Konstruktivismus, George Kelly (1986), eine Störung als jede Art von Konstruktion, die weiterhin verwendet wird, obwohl sie sich wiederholt als Fehlkonstruktion erwiesen hat. Oft sind persönliche Konzepte darüber, „wie die Dinge in der Welt laufen“, in der Frühphase individueller Bedeutungskonstruktion entstanden und haben, obwohl sie seinerzeit angemessene Orientierungshilfen darstellten, mittlerweile jeglichen Nutzen für gegenwärtige Lebenssituationen verloren. So könnte ein Kind beispielsweise lernen, dass es, wenn es andere verägert, auch Liebesentzug und Aufmerksamkeitsverlust ertragen muss, und folgerichtig daran arbeiten, immer „brav“ und artig zu sein. Im Erwachsenenalter führt eine solche Vermeidungsstrategie aber oft zu einem durchsetzungsschwachen Verhalten, niedrigem Selbstwertgefühl und zu Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen. Eine Revision der ursprünglichen Konstruktion „Verärgerung bedeutet Verlust“ wäre daher möglicherweise ein sinnvollerer Weg, den Dingen des Lebens Bedeutung zu verleihen. Beachten Sie, dass eine derartige Revision der Sinngebung ein co-konstruktiver Prozess zwischen Klient und Therapeut ist, wobei die Entscheidung zu einer Revision (und die Auswahl der Richtung, in der diese erfolgt) ausschließlich dem Klienten obliegt. Im Fall von Joanne resultierten die Gefühle von Schuld und Illoyalität – die sie empfand, weil sie einerseits ihre eigenen Ziele verfolgte und andererseits ihre angestammte Gemeinde verlassen hatte – aus den Kernkonstrukten, die ihre Rollen bezüglich ihrer Herkunftsfamilie ebenso betrafen wie ihrer gegenwärtigen Familie und der afroamerikanischen Kirchengemeinde. Sich ein breiteres Spektrum an Optionen für ihre Rollenkonstruktion hinsichtlich der ihr am nächsten stehenden Personen zu gestatten linderte sowohl ihre Schuldgefühle als auch die daraus entstandene panikartige Symptomatik.
Ebenso wie die persönlich-agentische Ebene bezieht sich auch die dyadisch-relationale auf Prozesse der Bedeutungskonstruktion. Jedoch wird die diagnostische Aufmerksamkeit hier auf die Interaktion zwischen Klient und den für ihn wichtigsten Personen in Vergangenheit oder Gegenwart gelenkt. Gegenstand der Betrachtung ist hierbei insbesondere die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) des Klienten, authentische Rollenbeziehungen einzugehen (Leitner, Faidley & Celantana, 2000), welche die Pflege tiefer und bedeutsamer Intimität mit anderen Menschen ermöglichen. Darüber hinaus können bei der Suche nach problematischen Mustern in Paarbeziehungen die Arten, auf die jeder Partner die Bedeutungskonstruktionsprozesse aufseiten des anderen validiert oder invalidiert, diagnostisch reichhaltige Informationen liefern, wie im später folgenden Abschnitt zur Diagnostik noch ausgeführt wird. Zu beachten ist jedoch, dass relationale Schwierigkeiten sich nicht allein auf jene Personen beziehen müssen, die aktuell am Leben des Klienten partizipieren. Wie sich besonders im Fall von Joanne zeigte, berücksichtigen postmoderne Therapeuten die Möglichkeit, dass eine problematische Beziehung auch zu einer bereits verstorbenen Person existieren und Auswirkungen auf die Anpassungsfähigkeit an aktuelle Situationen haben kann. Für Joanne hatte der Tod des Vaters Anteil an ihrer Schwierigkeit, sich an den neuen Wohnort anzupassen, und nachdem in der Therapie mithilfe der „Zwei-Stuhl-Arbeit“ wieder eine Verbindung zu ihrem Vater hergestellt werden konnte, war sie frei für ein „realeres“ Leben mit den Menschen in ihrem Umfeld. Obwohl sich auch einige andere Formen kognitiver Therapie mit interpersonellen Beziehungen befassen, hebt sich der Konstruktivismus von diesen dadurch ab, dass er die relationale Co-Konstruktion von Bedeutung in seinen elementarsten Konzepten stark betont. Ein sehr wichtiger Aspekt des Konstruktivismus ist die Annahme, dass nicht Menschen Beziehungen konstruieren, sondern dass Beziehungen Menschen konstruieren – ob nun zum Guten oder zum Schlechten.
Auf der kulturell-linguistischen Ebene widmen postmoderne Therapeuten der kulturellen Einbettung von Schwierigkeiten im Leben des Klienten besondere Aufmerksamkeit. Wie jedes umfassende Bedeutungssystem ist auch das weite und implizite System von Zeichen, Symbolen, Regeln und Rollen, das eine Kultur konstituiert, ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bietet es ein stützendes Rahmenwerk, innerhalb dessen Menschen einen tragfähigen Identitätssinn konstruieren können, andererseits begrenzt es auch das Spektrum an Möglichkeiten, welche die Menschen in Betracht ziehen oder auch nur erkennen können. In Joannes Fall rückten die Schuldgefühle, die sie aufgrund ihrer Wünsche (nach höherer Bildung) empfand und die nicht zum „dominanten Narrativ“ ihrer Gemeinde (White & Epston, 1990) passten, in den Fokus der Aufmerksamkeit, als sie nach Wegen suchte, um ihren Glauben mit dem Mitspracherecht bei der eigenen Lebensgestaltung vereinen zu können. Dies impliziert, dass postmoderne Therapeuten oft als Agenten sozialer Veränderung fungieren, indem sie Klienten dabei helfen, für sich selbst und andere Menschen repressive kulturelle...