Theresa May: Sphinx ohne Geheimnis
Sie präsentiert sich als akribische, verkrampfte, phantasiearme Politikerin. Was steckt hinter der Fassade? Ein Porträt.
Von Gina Thomas
Frivolität und Ausgelassenheit sind keine Begriffe, die man mit Theresa May in Verbindung bringt. Dabei hat sich die Pastorentochter der breiteren Öffentlichkeit zunächst durch ihr extravagantes Schuhwerk eingeprägt. Drei Monate nach ihrer überraschenden Ernennung zur Generalsekretärin trat sie im Oktober 2002 in spitzen Kitten-Heel-Pumps mit Leopardenmuster vor den Parteitag. Halb Dominatrix, halb fromme Gouvernante, belehrte sie die Delegierten, dass die Konservativen sich nach zwei schweren Wahlniederlagen verändern müssten, um den Ruf als »nasty party«, als »fiese Partei« der Privilegierten, Anrüchigen und Ewiggestrigen, abzuschütteln. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass diese eher behutsame Politikerin mit unliebsamen Wahrheiten vorgeprescht ist.
Eleven der britischen Eliten-Internate wird aufgrund der Rutenschläge, mit denen Verstöße gegen die Vorschriften bis vor einigen Jahren geahndet wurden, schon seit dem achtzehnten Jahrhundert eine Vorliebe für den sado-masochistischen »vice anglais« nachgesagt. An der Tracht Prügel durch die kess beschuhte Generalsekretärin fanden die Parteigranden jedoch keinen Gefallen. Einige verdenken ihr bis heute das schlagkräftige Beiwort »nasty party«. Damit habe sie der Labour Party einen Knüppel in die Hand gegeben, den die Opposition den Konservativen nur zu bereitwillig zwischen die Beine werfe.
Als die langlebigste Innenministerin seit fünfzig Jahren nötigte sie Kollegen und politischen Beobachtern einen gewissen Respekt ab mit ihrer sachlichen Dienstauffassung und der sturen Beharrlichkeit, mit der sie etwa die Abschiebung des islamistischen Fundamentalisten Abu Qatada nach Jordanien betrieb, mit der sie sich frei von feministischer Rhetorik für mehr Frauen in der Politik und gegen die moderne Sklaverei einsetzte oder es wagte, der Polizei die Leviten zu lesen über deren Missbräuche insbesondere im Umgang mit Schwarzen. Theresa May hat sich eher als hartnäckige Prinzipienreiterin hervorgetan denn als Überzeugungspolitikerin im Stil von Margaret Thatcher.
Wer aber ist die Frau, die Britannien durch eine der folgenschwersten Zäsuren seiner Geschichte steuert? Sie lässt sich so wenig in die Karten schauen, dass selbst Eingeweihte rätseln, ob sie eine nüchterne Technokratin sei, eine aufrichtige Verfechterin der sozialen Gerechtigkeit oder eine Sphinx ohne Geheimnis.
Theresa Mays Bekenntnis, dass sie in der Küche nach Art von Jamie Oliver lieber nach Gefühl ein bisschen hier und ein bisschen da zugibt, statt sich an ein genaues Rezept zu halten, offenbart Züge, die ihrem sonstigen Behagen widersprechen. Ihr Schuh- und Kleider-Geschmack steht dabei in seltsamem Kontrast zur allgemeinen Wahrnehmung ihrer Person. Sie gilt als ernst, reserviert und äußerst akribisch. In der Hörfunksendung »Desert Island Discs«, in der Prominente Musikstücke auswählen, die sie auf eine Insel mitnehmen würden, bejahte sie die Frage, ob sie eine gute Schülerin gewesen sei, mit der apologetischen Phrase, »I'm afraid, yes«, die Engländer gern verwenden, um eine Aussage zu entschärfen oder bescheiden zu wirken. Theresa May gestand, gern gelesen und ihre Hausaufgaben gemacht zu haben. »Ich war die Art von Schülerin.« Das ist auch die Art von Politikerin, die sie ist.
Am häufigsten wird denn auch reklamiert, dass sie sich vor lauter Gewissenhaftigkeit im Detail verliere und den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe. Nick Clegg, der ehemalige liberaldemokratische Parteiführer, der unter David Cameron fünf Jahre mit May im Koalitionskabinett saß, bemängelt, dass sie nie willens gewesen sei, eine Frage unter vier Augen zu erörtern. Sie habe stets die Begleitung von Beamten vorgezogen, auf deren Urteil sie vertraute. Auch habe sie bei Sitzungen nie eine Entscheidung fällen können, sondern erst nach langem Abwägen. Ein früherer Redenschreiber hat aus nächster Nähe beobachtet, dass ihr die Fähigkeit vieler Anwälte und mancher Politiker fehle, ein Mandat schnell zu lesen, die wesentlichen Punkte zu erkennen und spontan das weitere Vorgehen zu bestimmen. Stattdessen leite sie langwierige Beratungsprozeduren ein, im rechtschaffenen Glauben, auf diese Weise zum richtigen Schluss zu kommen. Das hat ihr den kalauernden Beinamen »Theresa May, or maybe not« eingetragen. Anders als Politiker, die aus dem Bauch heraus handelten, wolle sie zur Absicherung immer vier Fallschirme in Bereitschaft halten, formulierte es ein früherer Mitarbeiter.
Die einen sehen in diesem beflissenen Arbeitsstil die Tugenden der Gründlichkeit und des Pflichtbewusstseins, andere den Makel des Zauderns einer Politikerin, der es an intellektuellem Selbstvertrauen fehle. Daher wohl auch die Abhängigkeit von den beiden einst wie Zerberus über sie wachenden Stabschefs Nick Timothy und Fiona Hill, von denen sie sich nach dem Wahldesaster trennen musste; daher die Bereitschaft, sich dem Strategen Lynton Crosby zu fügen und entgegen ihrer Neigung, ihre Person hinter die Sache zu stellen, einen präsidialen Wahlkampf zu führen; daher auch die ebenso verhängnisvolle Weigerung, sich im Wahlkampf einer Fernsehdiskussion mit Jeremy Corbyn zu stellen, obwohl der Labour-Parteiführer wahrlich kein geistiges Schwergewicht ist. Seltsam, dass eine Frau, die bereits als Sekundarschülerin den Ehrgeiz bekundete, die erste Frau in 10 Downing Street sein zu wollen, und sich verdrossen gezeigt haben soll, als Margaret Thatcher ihr zuvorkam, sich in der Öffentlichkeit derart befangen gibt. Sie klammert sich lieber an vorgefertigte Parolen wie die im Wahlkampf bis zur Lächerlichkeit wiederholten Sprüche »stark und stabil« oder »Brexit heißt Brexit«.
Für den Mangel an Phantasie und Flexibilität hat der Journalist John Crace die spöttische Bezeichnung »Maybot« geprägt, auf der er gnadenlos herumreitet. Crace karikiert die Premierministerin im »Guardian« als Roboter, der wegen Funktionsstörungen immer wieder neu gestartet werden müsse. Dabei hat diese wiederholt bewiesen, dass sie trotz ihres verkrampften Auftretens über eine trockene Schlagfertigkeit verfügt. Sogar in Momenten, in denen die Welt sich gegen sie verschworen zu haben scheint wie bei ihrer letzten Parteitagsrede, als eine Panne die nächste jagte. Als sie zu allem Überfluss einen Hustenanfall erlitt und ihr der Schatzkanzler mit einem Lutschbonbon zur Hilfe kam, besaß sie immerhin die Geistesgegenwart, zu witzeln, dass der Finanzminister ausnahmsweise etwas umsonst hergegeben habe.
Theresa May vermag auch Schläge unterhalb der Gürtellinie zu verabreichen. Als die Wochenzeitschrift »Spectator« sie kurz nach ihrer Übernahme des Premierministeramtes zur Parlamentarierin des Jahres kürte, erschien sie mit Schutzhelm und Warnweste zur Preisfeier, um die Auszeichnung von George Osborne entgegenzunehmen. Die Aufmachung war ein scharfer Hieb gegen den von ihr geschassten Schatzkanzler, der sich gern auf Baustellen als die Wirtschaft ankurbelnder Macher fotografieren ließ. In ihrer Danksagung feuerte sie mit spitzer Zunge einen Giftpfeil gegen David Camerons im Saal sitzenden Kommunikationsdirektor ab, der geschrieben hatte, dass ihm der Brechreiz gekommen sei, als er das Ergebnis des Brexit-Votums erfuhr. Den Anwesenden verschlug es den Atem, als die Premierministerin fortfuhr, es sei vielen ähnlich ergangen, als sie gesehen hätten, dass besagter Beamter mit dem Rittertitel belohnt worden sei.
Theresa Mays schwärender Affekt gegen David Cameron und die paternalistische Unbekümmertheit, mit der er und sein elitärer Kreis Politik als Spiel auffassten, platzte bei ihrer Übernahme des Premierministeramts wie eine Eiterbeule: Es dauerte keine zwanzig Minuten; nachdem sie in Downing Street installiert war, bis sie George Osborne entließ, von dem sie sich mehrmals herabgesetzt gefühlt hatte. Schonungslos rechnete sie bei der Regierungsbildung mit den Cameron-Getreuen ab, als hätte sie ein Leben lang auf diesen Moment gewartet. Zwischen Theresa Mays »britischem Traum« eines Landes, das für jeden funktioniert, und Camerons Vorstellung einer großen Gesellschaft liegt kein großer Unterschied. Beide pflichten einem pragmatischen, unideologischen Konservatismus bei, dessen Streben nach Verbesserung (statt Weltveränderung) die Einsicht zugrunde liegt, dass nichts Gerades gezimmert werden kann aus dem krummen Holz der Menschheit.
Herkunft und Wesen geben der jeweiligen Anschauung von May und Cameron jedoch eine andere Prägung. Wie ihre Biographin hervorhebt, waren Theresa Mays Großmütter beide Dienstmädchen. Hingegen stammt Cameron aus einer Familie, die eher Hauspersonal beschäftigte, als in jemandes Diensten zu stehen. Zwar haben beide in Oxford studiert, doch bewegten sie sich gesellschaftlich in parallelen Welten. Theresa Mays Werte sind im anglikanischen Pfarrhaus ihrer Kindheit verankert. Ihre kaum verhohlene Missbilligung des Hochmuts von Camerons privilegiertem Klüngel beruht nicht auf sozialem Neid, sondern auf einem moralischen Gerechtigkeitsempfinden. Als sie die Geschäfte von Cameron übernahm, ersetzte sie das Sofa in ihrem Büro in Downing Street durch einen Tisch. Damit signalisierte sie einen Bruch mit dem informellen Stil, den Blair und Cameron pflegten.
Bis heute ist unklar, ob sich Theresa May beim Brexit-Referendum aus Opportunität oder aus Überzeugung der Kampagne für den Verbleib Britanniens in der Europäischen Union anschloss. Der Journalist David Goodhart hat die Begriffe »Anywheres« und »Somewheres« geprägt. Als »Anywheres« kennzeichnete er die weltläufigeren, gebildeteren Menschen, die...