Kapitel 2: Werkzeuge zur Umsetzung von Konzepten: Woran erkennt man gute Tools?
Sabrina Geyer, Cora Titz, Susanne Weber, Anna Ropeter & Marcus Hasselhorn
In Konzepten zur sprachlichen Bildung und Förderung können Fördermaßnahmen und die für ihre Optimierung erforderliche Sprachdiagnostik mit Hilfe verschiedener Werkzeuge (Tools) umgesetzt werden. Im vorliegenden Kapitel werden Qualitätskriterien guter Diagnostik- und Förder-Tools definiert und erläutert. Zunächst wird mit der Passung von Tool, Ziel und Zielgruppe ein wesentliches Prinzip bei der Auswahl von Diagnostik- und Förder-Tools beschrieben. Getrennt für die beiden Bereiche Diagnostik und Förderung werden anschließend zentrale Qualitätskriterien beschrieben, die Fachkräfte bei der Bewertung und Auswahl von Tools unterstützen können. Diagnostik-Tools dienen im Rahmen sprachlicher Bildung der Feststellung und Förderung des aktuellen Entwicklungsstandes von Kindern und Jugendlichen sowie ihres sprachlichen Entwicklungsverlaufs. Die Qualität dieser Tools ist umso höher, je geringer die Risiken für eine Fehleinschätzung des Entwicklungsstandes von Kindern und Jugendlichen sind. Es sollten daher Diagnostik-Tools verwendet werden, die objektiv, reliabel (zuverlässig) und valide (inhaltlich gültig) sind und eine Normierung aufweisen. Darüber hinaus sind Kriterien aus Praxis-Perspektive zu berücksichtigen. Bei der Auswahl von Tools zur Sprach- und Leseförderung ist neben Kriterien aus Perspektive der Praxis auch zu prüfen, inwiefern ein Tool über eine theoretische Fundierung verfügt sowie ob und welche Nachweise zu seiner Wirksamkeit vorliegen.
Einleitung
Seit dem »Pisa-Schock« zu Beginn unseres Jahrhunderts, ausgelöst durch die Offenlegung ungenügender Lesekompetenzen bei rund einem Viertel aller 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland, wurde eine Vielzahl von Maßnahmen zur Sprach- und Leseförderung initiiert. Die Erkenntnis reifte, dass sprachliche und schriftsprachrelevante Kompetenzen von Kindern bereits vor der Einschulung gefördert werden sollten, um ihre Chance auf eine erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem zu erhöhen. Entsprechend ist mit der Ausweitung der Bemühungen um eine effektive Sprach- und Leseförderung in den letzten Jahren auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Werkzeuge (im Folgenden Tools) angestiegen, die zur Diagnose und Förderung von Sprach- und Lesekompetenzen genutzt werden können. Auch in den Verbünden1 der Initiative »Bildung durch Sprache und Schrift« (BiSS) wurde eine Vielzahl solcher Tools eingesetzt, um die jeweiligen Ziele der sprachlichen Bildung und Förderung zu erreichen. Dazu gehören Materialien zur Diagnostik sprachlicher Kompetenzen und zu ihrer Förderung, die die pädagogischen Fachkräfte in ihren Handlungskompetenzen unterstützen sollen. Zu den Diagnostik-Tools zählen Beobachtungs-, Befragungs- oder Testverfahren, die zur Erfassung des Entwicklungsstandes bzw. zur Evaluation von zuvor durchgeführten Fördermaßnahmen eingesetzt werden. Förder-Tools sind u. a. spezifisch gestaltete Förderprogramme zu bestimmten Zielbereichen (z. B. phonologische Bewusstheit, Leseflüssigkeit) sowie Methoden und Techniken, die als Bausteine eines Konzepts genutzt werden können (z. B. dialogisches Lesen, Scaffolding, Sprachlehrstrategien wie Modellieren).
Mittlerweile befindet sich eine kaum mehr überschaubare Vielzahl an Tools auf dem Markt. In verschiedenen Expertisen wurde daher insbesondere für den Elementarbereich versucht, Tools zur Diagnose und Förderung zu sichten und die Qualität von Werkzeugen zur Sprachdiagnostik und Sprachförderung einzuschätzen (zur Diagnostik z. B. Dietz & Lisker, 2010; Neugebauer & Becker-Mrotzek, 2013; zur Förderung z. B. Lisker, 2011; Jampert, Best, Guadatiello, Holler & Zehnbauer, 2007). Dabei zeigte sich u. a., dass für etliche Verfahren gar nicht bekannt ist, inwiefern sie die für professionelle Verfahren festgelegten Qualitätskriterien erfüllen. Das hat zur Folge, dass es für pädagogische Fachkräfte in der Praxis oftmals kaum möglich ist, gute von mangelhaften Tools zu unterscheiden. Um eine Orientierungshilfe zu geben, werden in diesem Kapitel sowohl für Diagnostik- als auch für Förder-Tools Qualitätskriterien formuliert, deren Berücksichtigung aus wissenschaftlicher Sicht bei der Bewertung und Auswahl geeigneter Tools empfohlen wird.
1 Wann ist ein Tool ein passendes Tool?
Die Frage, ob ein Tool geeignet ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Zentral für die Auswahl eines Tools zur Diagnostik bzw. Förderung ist zunächst die Frage danach, wofür es genau eingesetzt werden soll. Kurzum: Das Tool muss zu den Zielen und der Zielgruppe, für die es eingesetzt werden soll, passen.
In Bezug auf das Ziel ist daher relevant, welche sprachlichen Kompetenzen zu welchem Zweck erfasst bzw. gefördert werden sollen. Diagnostik hat keinen Selbstzweck in sich, sondern dient immer einem bestimmten Ziel. Dieses Ziel kann darin liegen, Veränderungen im Entwicklungsverlauf durch eine durchgängige Dokumentation zu erfassen. Es kann aber auch in der Feststellung und Identifikation individueller Förderbedarfe in bestimmten sprachlichen Bereichen bestehen, die noch nicht ausreichend entwickelt sind – etwa im Vergleich zur Gruppe der Gleichaltrigen. In diesem Fall sollten aus dem Ergebnis einer Sprachdiagnostik auch konkrete Förderentscheidungen abgeleitet werden können, die sich auf die spezifischen Zielbereiche beziehen. Die Komplexität des Erwerbs sprachlicher sowie schriftsprachlicher Kompetenzen setzt eine differenzierte Beschäftigung mit dem Erwerbsgegenstand voraus. So umfasst die menschliche Sprache verschiedene sprachliche Ebenen, die in der Kommunikation zusammenwirken, jedoch jeweils eigenen Regeln folgen. In der Sprachwissenschaft werden mindestens die fünf Ebenen der Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik sowie Pragmatik unterschieden (für eine ausführliche Beschreibung siehe Müller, Schulz & Tracy, 2018). Die Zielbereiche für den Einsatz eines Tools zur Diagnose bzw. Förderung mündlicher Sprachkompetenzen können sich auf all diese Ebenen beziehen. Dabei sollten jeweils sowohl rezeptive als auch produktive Kompetenzen berücksichtigt werden, da diese im Spracherwerb nicht synchron erworben werden. Zur Diagnose und Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen sind typische Zielbereiche zum Beispiel die (frühe) Literalität, die Leseflüssigkeit oder das Leseverständnis. Darüber hinaus sind weitere Zielbereiche denkbar, wie z. B. die Diagnose und Förderung im Bereich der Orthographie oder Textproduktion. Innerhalb der Zielbereiche lassen sich weitere Spezifizierungen vornehmen, z. B. im Bereich der Grammatik auf die Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen oder im Bereich des Leseverstehens auf die Nutzung ganz bestimmter Lesestrategien.
Auch zur Überprüfung der Passung eines Tools zur Zielgruppe sind verschiedene Aspekte zu beachten. So muss bei der Auswahl von Diagnostik-Tools zunächst geklärt werden, ob ein vom Zielbereich her passendes Tool für den Alters- und Entwicklungsbereich der konkreten Zielgruppe geeignet ist. Innerhalb des gewählten Altersbereichs ist ferner relevant, ob das Diagnostik-Tool bei allen Kindern der Altersgruppe zur Bestimmung ihrer sprachlichen Ausgangslagen herangezogen werden soll, oder ob es bei einer vorausgewählten Subgruppe (z. B. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache) oder zur Identifikation einer Subgruppe (z. B. leseschwache Schülerinnen und Schüler) zur näheren Bestimmung des Förderbedarfs dient. Von dieser Entscheidung wird auch die Auswahl einer Methode zur Sprachdiagnostik geprägt. Im ersten Fall wäre etwa ein diagnostisches Instrument geeignet, das Fachkräfte bei der Beobachtung und Dokumentation der Sprachentwicklung aller Kinder unterstützt, wie beispielsweise ein standardisierter Beobachtungsbogen. Im zweiten Fall dagegen sollte ein Testverfahren gewählt werden, mit dessen Hilfe genau ermittelt werden kann, bei wem und in welchem Zielbereich welcher Förderbedarf gegeben ist. Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, ist beispielsweise bei Kindern oder Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache bei der Diagnostik auch deren spezifische Spracherwerbssituation, d. h. das Alter bei Erwerbsbeginn der deutschen Sprache sowie die Kontaktzeit zum Deutschen, zu berücksichtigen (vgl. Grimm & Schulz, 2016; Müller et al., 2018). Bei der Auswahl eines Förder-Tools muss die Passung zum zugrunde liegenden Diagnostik-Tool geprüft werden. Nur wenn im Förder-Tool genau die Zielbereiche...