Einführung
Krankheit und die eigene Verletzlichkeit – sowohl körperlich als auch seelisch – sind Dinge, über die wir uns selten Gedanken machen und die wir gerne verdrängen. Vor allem als junger Mensch scheint das alles sehr weit weg zu sein. Doch nach fast drei Jahren, in denen ich in meiner Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger mit kranken und pflegebedürftigen Menschen gearbeitet habe, ist mir eines bewusst geworden: Das Leben kann sich von einem Moment auf den anderen verändern. Schneller als ein Wimpernschlag. Ich sehe Menschen am schönsten Tag ihres Lebens. Familien, die ihr Neugeborenes in den Armen halten oder Patienten, die eine Krankheit besiegt haben. Aber ich treffe auch Menschen in ihren dunkelsten Stunden. Etwa wenn ein Herzinfarkt einen Familienvater innerhalb von Sekunden aus seinem gewohnten Leben reißt und nichts mehr ist, wie es einmal war.
Tod, Krankheit, Pflegebedürftigkeit – das sind Tabuthemen in unserer Gesellschaft. Haben wir die Missstände in der Pflege deshalb so lange ignoriert? Pflege kann jeden von uns betreffen und doch ist sie für viele kein Thema. Dabei kann sie innerhalb kürzester Zeit so nah sein. Jeder von uns kann morgen persönlich, im Freundeskreis oder in der Familie betroffen sein. Und wie möchten wir dann versorgt werden? Wie soll unsere Familie, unsere Frau, unser Mann oder vielleicht sogar unser Kind versorgt werden? Wir müssen uns mit unbequemen Themen auseinandersetzen und uns einbringen, ob Politiker1, Pflegekräfte oder Journalisten. Jeder Einzelne ist gefragt, als Staatsbürger, als Teil dieser Gesellschaft. Wir alle, weil sich das Leben schneller verändern kann, als man es sich manchmal wünscht.
Ich möchte Sie an jenen Tag mitnehmen, an dem ich die Chance hatte, dieses so wichtige Thema, welches viele Millionen Menschen tagtäglich bewegt, endlich etwas mehr an die Oberfläche treten zu lassen.
Es ist der 11. September 2017. Um 4.45 Uhr klingelt mein Wecker, daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Ich frühstücke, dusche und fahre zur Arbeit. Irgendwie ist mir schon bewusst, dass heute kein normaler Tag werden wird, obwohl sich zunächst alles wie immer anfühlt. Im Krankenhaus ziehe ich wie jeden Tag als Erstes meine weiße Arbeitskleidung an. Ich gehe auf die Station und folge der Übergabe. Die Pflegekraft des Nachtdienstes bespricht mit uns die Entwicklung der Patienten und ob es irgendwelche besonderen Vorkommnisse gab. Der heutige Frühdienst unterscheidet sich nicht sonderlich von dem an anderen Tagen. Der Einsatzbereich ist für mich allerdings ein besonderer. Da ich eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger absolviere, habe ich im Klinikalltag nicht allzu oft Kontakt mit Kindern in meiner pflegerischen Arbeit. Denn sie werden in der Regel von Gesundheits- und Kinderkrankenpflegern versorgt. Es ist für mich eine neue Erfahrung, eine Zeit lang in diesem Bereich zu arbeiten und zu lernen, dass Kinder ganz andere Unterstützung und Beschäftigungsangebote benötigen als Erwachsene. Hier ist sehr viel Empathie und Fingerspitzengefühl gefragt. Während die Stunden heute vergehen, schaue ich immer öfter auf die Uhr. Ich stelle mir vor, wie das heute Abend ablaufen wird. Als ich um 14 Uhr schließlich die Klinik verlasse, fahre ich den Kilometer mit dem Fahrrad nach Hause und esse noch schnell eine Kleinigkeit.
Ich starte um 14.30 Uhr Richtung Lübeck. Geplante Fahrtzeit: 2 Stunden und 45 Minuten. Dann vor Hamburg: Stau. So erübrigt sich das mit der geplanten Fahrtzeit. Glücklicherweise bin ich früh genug losgefahren. Trotzdem beginnt sich langsam Angstschweiß auf meiner Stirn zu bilden, als es einfach nicht vorangeht. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht es endlich in ein langsames Stop-and-go über. Da ich an der Situation nichts ändern kann, nutze ich die Zeit, um zu überlegen, wie ich nachher das zum Ausdruck bringen kann, was mir so auf der Seele brennt. Ich denke an die vielen Talkshows, in denen es fast nie um die Pflege geht. Und wenn doch, dann sitzen da meistens nur Politiker, die sich gegenseitig Vorwürfe machen. Dabei hätten sie fast alle in den letzten zwanzig Jahren die Möglichkeit gehabt, etwas zu bewegen: CDU/CSU, Die Grünen, SPD und auch die FDP. Auf der Suche nach einem geeigneten Einstieg kommt mir der Artikel 1 des Grundgesetzes in den Sinn – der Artikel, der über allen anderen steht und als Grundrecht das höchste Gut unserer Gesellschaft darstellt und trotzdem für viele Pflegebedürftige, aber auch für viele Pflegekräfte nicht immer zu gelten scheint.
Als ich damals auf Facebook den Aufruf der Tagesschau sah, sich für die Wahlarena mit der Bundeskanzlerin und Spitzenkandidatin Angela Merkel zu bewerben, dachte ich, probieren kann man’s ja mal. Wirklich damit gerechnet, dass es klappt, hatte ich nicht. Also machte ich es kurz und trug in das Feld »Ihre Frage« Folgendes ein: »Was wollen Sie konkret gegen den Pflegenotstand tun? Werden Sie einen verbindlichen Personalschlüssel einführen?« Tage später klingelte das Telefon, eine unbekannte Nummer. Es meldete sich eine Mitarbeiterin des NDR, die mir sagte, sie würde meine Frage sehr interessant und wichtig finden, vor allem aufgrund meines jungen Alters. Sie versprach, sich in einigen Tagen zurückzumelden, wenn feststehe, ob ich zu denjenigen gehöre, die eine Einladung zur Wahlarena bekommen.
Und jetzt sitze ich tatsächlich im Auto auf dem Weg in die Wahlarena und bin mir nun sicher, dass ich mit der unverletzlichen Würde des Menschen einsteigen werde. Viel weiter komme ich allerdings nicht, denn die nächste Ausfahrt ist endlich in Sichtweite. Ich handle gegen den Willen meines Navigationssystems und fahre von der Autobahn ab und dann zwanzig Kilometer über Landstraßen mitten im Nirgendwo, bis ich schließlich wieder auf eine freie Autobahn gelange. Nach vier Stunden komme ich endlich in Lübeck an.
Das Gebäude, in dem die Wahlarena untergebracht ist, ist eine alte Werfthalle aus Backstein, leicht verfallen. Drinnen ist es moderner, mit Stahlverstrebungen, im Industrial Style. Es werden Schnittchen gereicht, die Leute unterhalten sich angeregt, ich bin jedoch ganz mit meinem Thema beschäftigt. Angetrieben von der Hoffnung, dass ich vielleicht irgendwas, wenn auch nur ein kleines bisschen, bewegen kann, werde ich immer ungeduldiger. Wenn ich in etwas nicht gut bin, dann ist es Warten. Ich schaue mich um. Das sind also die 150 Menschen, die repräsentativ eingeladen worden sind. Ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft: Auszubildende, Studenten, Rentner, Selbstständige, Arbeitslose – und dazwischen ich. Sie alle sind hier, um im Wahlkampf Angela Merkel kritische Fragen zu stellen.
Wir werden in Vierergrüppchen in den Raum eingelassen. Um 19.30 Uhr sind dann alle Zuschauer auf ihren Plätzen und der Countdown läuft: Noch 45 Minuten, bis die Sendung beginnt. Meine Anspannung steigt, verbunden mit der Angst, umsonst hergefahren zu sein. Mein Kopf lässt kaum noch einen anderen Gedanken zu. Ich sehe mich um. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Fernsehstudio bin. Es wirkt gar nicht so besonders, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber es kommt mir absolut irreal vor, dass ich nun hier bin.
19.45 Uhr: Ein Mann mittleren Alters beginnt mit mal mehr mal weniger lustigen Sprüchen, die Verhaltensregeln und Fluchtwege während der Sendung zu erläutern. Wie mit einer Grundschulklasse im Theater. Handys aus. Muss noch jemand auf die Toilette?
20.05 Uhr: Angela Merkel betritt den Raum. Sie steht nur etwa vier Meter von mir entfernt und doch scheint sie weit weg zu sein. Sie geht ganz in ihrer Rolle als Bundeskanzlerin auf, wirkt distanziert und kontrolliert. Sie trägt einen roten Blazer und eine schwarze Hose, ich trage ein Jeanshemd, das mich wohl ab heute immer an diesen verrückten Tag erinnern wird. Sie begrüßt lächelnd das Publikum.
20.15 Uhr: Primetime. Die Wahlarena beginnt. Wir hören die Melodie der Tagesschau, die Moderatoren leiten die Sendung ein. Die erste Frage stellt ein Erstwähler, der gerne die CDU wählen würde. Da er aber in Bayern wohnt und die CSU aufgrund der Flüchtlings-Obergrenze nicht wählen möchte, steht er vor einem Problem. Damit liegt gleich zu Beginn einmal mehr das scheinbar wichtigste Thema des Wahlkampfes und unserer Gesellschaft auf dem Tisch: die Flüchtlingskrise. Es gab Zeiten, da wurde unter Krise noch etwas verstanden, das für viele Menschen massive Einschnitte in ihr Leben und eine ernsthafte Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutete.
Auf Platz eins der größten Ängste der Deutschen steht die Angst vor dem Terrorismus.2 Wenn man die nüchternen Zahlen betrachtet, wirkt diese Angst paradox, denn die...