Alle lebensverkürzenden Erkrankungen sind mit körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen verbunden. Sie können einerseits die Motorik und die sinnliche Wahrnehmung betreffen, andererseits im Bereich der Kognition und der Kommunikation liegen. Das kann dazu führen, dass die Kinder und Jugendlichen von Außenstehenden als Menschen mit Behinderung, nicht aber als Menschen mit verringerter Lebenserwartung wahrgenommen werden.
Typisch für fast alle lebensverkürzenden Erkrankungen ist ein fortschreitender Krankheitsverlauf, der häufig in Schüben erfolgt und weitere Beeinträchtigungen verursacht. Für die erkrankten Kinder und Jugendlichen bedeutet dies, sich immer wieder neu auf die veränderten Lebensbedingungen einstellen zu müssen. Während junge Menschen mit einer Behinderung in einer zwar von Beeinträchtigungen geprägten, oft aber stabilen Lebenssituation sind, in der Lernerfolge auch über längere Zeit gesichert werden können, sind diese bei jungen Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung zeitlich begrenzt. Das Thema der Endlichkeit dominiert hier nicht nur hinsichtlich der Lebenserwartung, sondern wird zu einem entscheidenden Faktor in der gesamten Lebenssituation. »Das Kind, das sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzt, durchlebt ein Wechselbad von Gefühlen: Aggression, Wut, Traurigkeit und Verzweiflung wechseln ab mit Freude, Lachen, Unbekümmertheit und Normalität« (Weber 2009, S. 24).
3.1Lebenssituation
Junge Menschen mit einer lebensverkürzenden Erkrankung unterscheiden sich in vielen Aspekten ihres Lebens nicht von Gleichaltrigen. Sie wachsen, ihre Körper entwickeln sich, sie kommen in die Pubertät. Sie sind neugierig und entdecken die Welt und sind bestrebt, ihre Möglichkeiten ständig zu erweitern. Sie streben mehr Selbständigkeit an und wollen nicht bevormundet werden. Gleichzeitig sehnen sie sich nach Geborgenheit, Gemeinschaft und Freundschaft. Wenn sie in die Pubertät kommen, verlieben sie sich und entwickeln sexuelle Bedürfnisse. Sie können sich freuen, lachen und ausgelassen sein; und sie können trauern, wütend werden und Angst empfinden.
Für alle, die in einem sozialen Kontakt mit jungen Menschen stehen, die lebensverkürzend erkrankt sind, ist es wichtig, sich diesen Umstand immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Die Lebensäußerungen erkrankter junger Menschen sind keine anderen als die von gesunden, ihre Bedürfnisse sind die gleichen, sie entwickeln ihre Sehnsüchte und Abneigungen wie alle Gleichaltrigen. Und wie jeder Mensch sind sie Individuen, die zwar Gemeinsamkeiten mit anderen Individuen teilen, aber durch diese nicht einmal annähernd charakterisiert werden können. Für den Pädagogen kann es zwar hilfreich sein, bestimmte Eigenschaften oder Umstände der Erkrankung zu kennen, um die Lebenssituation eines jungen Menschen besser zu verstehen, aber diese Kenntnisse sollten nur sensibilisierend wirken in der konkreten Auseinandersetzung mit dem individuellen Menschen.
Was junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung von gesunden Gleichaltrigen unterscheidet, sind also vor allem zwei Aspekte: Sie alle haben zum einen eine progrediente Erkrankung, die häufig mit körperlichen und in bestimmten Fällen auch mit geistigen Beeinträchtigungen verbunden ist. Folge dieser Erkrankung ist zum anderen eine im Vergleich mit gesunden Gleichaltrigen erheblich verkürzte Lebenserwartung, die in vielen Fällen bereits im Kindes- oder Jugendalter zum Tod führen kann. Die Perspektive dessen, was Leben für einen jungen Menschen bedeutet, ist damit eine andere als bei Menschen ohne lebensverkürzende Erkrankung.
Jedoch unterscheiden sich alle lebensverkürzenden Erkrankungen durch ihre je individuelle Ausprägung. Kein Krankheitsverlauf ist identisch. Viele Eltern erkrankter Kinder berichten davon, dass die Prognosen der Ärzte sich nicht bewahrheiteten. So unterscheiden sich die Erkrankungen durch ihren Verlauf und den Zeitpunkt des Todes. Auch innerhalb gleicher Krankheitsbilder kann es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der physischen und kognitiven Auswirkungen geben, wodurch oft auch die Kommunikation betroffen ist. Über die rein medizinischen Fragen hinaus können sich auch die sozialen Rahmenbedingungen auf den Verlauf der Krankheit auswirken. Somit lassen sich keine allgemeingültigen Schlüsse aus bestimmten Diagnosen ziehen; stattdessen ist es wichtig, stets die individuelle Lebenssituation des einzelnen Kindes und Jugendlichen in den Blick zu nehmen.
3.1.1Bedeutung der Erkrankung
Infolge der Progredienz erfahren erkrankte Kinder und Jugendliche schon früh und existentiell prägender als die meisten Gleichaltrigen, was Abschiedssituationen bedeuten. Mit jedem Verlust einer Fähigkeit spüren sie die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. Gleichzeitig schränkt sich ihr Handlungsraum ein und ihre Abhängigkeit von anderen Menschen nimmt zu. Die auf Zukunft ausgerichtete Lebensperspektive junger Menschen wird immer wieder durchbrochen durch Rückschritte und Erfahrungen von Endlichkeit.
Durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf ist der junge Mensch gezwungen, sich immer wieder neu zu definieren. Die gesamte Entwicklung der Kindheits- und Jugendphase besteht in der Herausbildung einer eigenen Identität. Diese ist bei gesunden jungen Menschen durch die Integration neu erworbener Fähigkeiten geprägt, die einander ergänzend die Persönlichkeitsbildung des jungen Erwachsenen fördern. Einmal erworbene Fähigkeiten bilden die Grundlage für die Ausdifferenzierung der eigenen Identität. Der junge Mensch mit lebensverkürzender Erkrankung erfährt dagegen durch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, dass die eigene Identität sich nicht fortschreitend erweitert, sondern immer wieder neu definiert werden muss.
Eine Folge der Unsicherheit bezüglich der eigenen körperlichen und psychischen Identität ist die Notwendigkeit, auch die soziale Identität neu auszuloten. Mit jedem Verlust von Fähigkeiten muss sich der junge Mensch neu auf seine Umwelt einstellen und die mit ihm in sozialem Kontakt stehenden Menschen auf ihn. Dies setzt bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Offenheit und Anpassungsfähigkeit voraus. Entscheidend ist hierbei, dass körperliche und kognitive Veränderungen nicht zu einem Rückschritt im Bereich sozialer Beziehungen führen sollen. »Das Gefühl der Zugehörigkeit und des Eingebundenseins ist notwendig, damit der Einzelne seine Ich-Identität aufrechterhalten kann« (Neder-von der Goltz 2001, S. 188).
Die Menschen im unmittelbaren Lebensumfeld der erkrankten Kinder und Jugendlichen tragen damit eine große Verantwortung, denn der »Macht, die von progressiven Krankheiten ausgeht, kann nur mit Hilfe zwischenmenschlicher Beziehungen entgegengewirkt werden« (Neder-von der Goltz 2001, S. 189). Wesentlich ist hierbei, dass der eigenen Einstellung gegenüber der Erkrankung ein hoher Stellenwert im Sinne von Resilienzstärkung zukommt (Leyendecker/Lammers 2001). Eine positive Annahme der Erkrankung und ihrer Auswirkungen durch den jungen Menschen hängt aber auch in hohem Maß vom Verhalten der Bezugspersonen ab. Je stärker ihr Blick ressourcenorientiert ist und der Verlust von Kompetenzen nicht als identitätsprägend verstanden wird, desto leichter wird es dem jungen Menschen fallen, seine eigene Identität nicht in Frage zu stellen.
Bei aller Aufmerksamkeit auf die besondere Lebenssituation des erkrankten jungen Menschen ist es jedoch notwendig, den Menschen als Ganzen zu sehen. Die Erkrankung ist nur ein Aspekt seiner Identität. »Der betroffene Mensch ist immer mehr als seine Krankheit oder Behinderung! Und er hat den Anspruch, als solcher gesehen zu werden« (Fornefeld 2018, S. 122).
3.1.2Altersspezifische Aspekte
Erfahrungen mit dem Phänomen Tod macht jeder Mensch sein ganzes Leben lang. Schon als Kinder hören wir durch die Erzählungen der Erwachsenen von Verstorbenen, also von Menschen, über die man nur im Präteritum sprechen kann. Wir sehen tote Tiere, verwelkte...