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E-Book

Krieg und Klassenkrieg

Studien

AutorRolf Hochhuth
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl254 Seiten
ISBN9783688107759
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Demonstrationen, welche die Polizei erlaubt, sollten von den Veranstaltern verboten werden», rief Rolf Hochhuth 1968 den Notstandsgegnern zu, die sich in Frankfurt versammelt hatten. 1965 veröffentlichte er seinen Aufruf «Der Klassenkampf ist nicht zu Ende». An dem von Christlicher Union und Sozialdemokratie fünfundzwanzig Jahre erfolgreich diffamierten Begriff wurde die bundesdeutsche Wirklichkeit gemessen. Der Bundestag debattierte über Hochhuths Thesen, der Theologe Hans Werner Bartsch schrieb: «Seit über zehn Jahren regelmäßiger ?Spiegel?-Lektüre habe ich noch keinen besseren, aufrüttelnderen Artikel gelesen. Die Eigentumsdenkschrift der Evangelischen Kirche liest sich, damit verglichen, wie ein Ammenmärchen.» Die Forderung des politischen Außenseiters - die Arbeiter und Angestellten an den Produktionsmitteln zu beteiligen - hat Eingang in Bonner Gesetzesvorlagen gefunden. Hier erweist sich die Funktion des kritischen Geistes im Gesellschaftsprozeß. Hochhuth hat wieder dafür gesorgt, daß, wer Klassenkampf sagt, nicht mehr Hohnlachen, sondern Beunruhigung und Zorn bei den Mächtigen auslöst. Doch der Autor greift in diesen, 1971 zum erstenmal in Buchform veröffentlichten zeitkritischen Essays nicht nur an, er will auch kommunizieren, er sucht das Gespräch mit dem Gegner. So wird die Geschichte seiner Dramen auch Teil der politischen Geschichte seiner Zeit. Daß nach langem Schweigen selbst Papst Paul VI. an der «Stellvertreter»-Diskussion teilnahm, gehört ebenso in die politische Bilanz wie die Reaktion des britischen Premiers auf «Soldaten». Der politische Moralist Hochhuth zwingt durch sein Engagement die Zeitgenossen zu Stellungnahme und Umdenken.

Fritz J. Raddatz nannte ihn einen «Kaltnadelradierer der Poesie, schmucklos, scharf ritzend, aber nicht ätzend ... ein besessener Aufklärer, wo er die Täter am Werk sieht, ob Diktatoren oder Shareholder.» Rolf Hochhuth war einer der erfolgreichsten Dramatiker des heutigen Theaters - mit sicherem Gespür für brisante Stoffe und Themen. Am 1. April 1931 in Eschwege geboren, erzielte er mit dem «christlichen Trauerspiel» Der Stellvertreter Internationalen Erfolg. Es thematisiert die Rolle der katholischen Kirche, speziell die von Papst Pius XII., im Zweiten Weltkrieg. Als rigoroser «Moralist und Mahner» setzte sich Hochhuth mit aktuellen politisch-sozialen Fragen auseinander; in einer Vielzahl offener Briefe plädierte er für die «moralische Erneuerung» der Politik. Er verfasste ein umfangreiches dramatisches, essayistisches und lyrisches Werk. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Kunstpreis der Stadt Basel (1976), dem Geschwister-Scholl-Preis (1980), dem Lessing-Preis der Freien Hansestadt Hamburg (1981), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1990) und dem Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2001). Hochhuth starb am 13. Mai 2020 in Berlin.

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Leseprobe

Der Klassenkampf ist nicht zu Ende


1965

«Ich habe als einfacher Arbeiter angefangen. Ich kann heute noch nicht sehen, wenn mein Chauffeur ein anderes Essen hat als ich. Aber was Sie unter Sozialismus verstehen, das ist einfach krasser Marxismus. Sehen Sie, die große Masse der Arbeiter will nichts anderes als Brot und Spiele, die hat kein Verständnis für irgendwelche Ideale, und wir werden nie damit rechnen können, die Arbeiter in erheblichem Maße zu gewinnen … Sehen Sie, der Besitzer einer Fabrik ist doch von der Arbeitskraft und dem Arbeitswillen seiner Arbeiter abhängig, wenn die streiken, dann ist sein sogenannter Besitz völlig wertlos. Außerdem aber, mit welchem Recht verlangen diese Leute Anteil am Besitz oder gar an der Leitung? Der Unternehmer, der die Verantwortung für die Produktion trägt, der schafft auch den Arbeitern Brot. Gerade unseren großen Unternehmern kommt es nicht auf das Zusammenraffen von Geld an, auf Wohlleben usw., sondern denen ist die Verantwortung und Macht das Wichtigste. Sie haben auf Grund ihrer Tüchtigkeit sich an die Spitze gearbeitet, und auf Grund dieser Auslese, die wiederum nur die höhere Rasse beweist, haben sie ein Recht zu führen. Sie sollen nun einen unfähigen Regierungsrat oder einen Betriebsrat, der von nichts eine Ahnung hat, mitreden lassen; das wird sich jeder Wirtschaftsführer verbitten.»

Adolf Hitler im Mai 1930 zu Otto Strasser

«Eigentumsbildung der Niditunternehmer oder … der Haushalte ist nicht möglich auf Kosten des Verbrauchs dieser Kreise, sondern nur zu Lasten der Unternehmergewinne.»

Professor Oswald von Nell-Breuning SJ im Jahre 1958

Selbst in Bonn, der Residenz jenes Staates, dem Kanzler Erhard öffentlich nachsagt, er habe ihn dank seiner sogenannten sozialen Marktwirtschaft von allen Proletariern gesäubert, gibt es am Dransdorfer Weg ein Großfamilien-Ghetto. Hier heißt es «das graue Lager». An den Müllrändern der anderen westdeutschen Städte haben die Baracken andere Namen, etwa «Sanssouci». Wer an ihnen vorüberfährt – aber taktvollerweise sind die Ghettos fast stets weitab von Autostraßen ‹beheimatet›, sind oft so gut getarnt wie früher die Flakstellungen, aus deren Mannschaftsunterkünften sie nicht selten hervorgingen –, wer sie dennoch wahrnimmt, die Baracken, etwa anläßlich einer Treibjagd, der fühlt sich, so er etwas fühlt, zu der Feststellung veranlaßt, Asoziale gebe es halt selbst in Deutschland noch – oder wieder. Wieder. «Denn das muß man ja den Nazis lassen, für Ordnung haben sie gesorgt, nicht wahr. Halbstarke wurden im RAD geschliffen. Und asoziale Elemente – nun, man wünscht sich keine KZs zurück, aber auf Asoziale stieß man jedenfalls nicht, wenn man damals Rebhühner schoß …»

Die Klage des Nimrod, eines Herrn der schweren Industrie, gegenüber seinem Büchsenspanner, dem Grafen Soundso, der dem Konzern den Wald verkaufen und die Jagd dem Habenichts von Kreisarzt aufkündigen mußte, der sie dreißig Jahre lang gepachtet hatte, solange er finanziell noch mitkam, der Doktor – diese Klage des Industriellen darf nicht als Kritik an Bonn verstanden werden, Gott bewahre. Denn Bonn ist nicht nur der Industrie, Bonn ist auch gegenüber dem Weidmann (er muß allerdings identisch sein mit dem Industriellen) viel aufgeschlossener als die Nazis. Die hatten zwar auch ein Herz für das ‹deutsche› Wild, weil ja der Reichsmarschall … Aber Gesetze, wie Bonn sie ratifizierte und die – zum Beispiel – der AEG und Mannesmann gestatten, jährlich siebzig- bis achtzigtausend Mark allein für Wildschaden von der Steuer abzuschreiben, weil ja die Jagd – wer könnte daran zweifeln – nicht zum Privatvergnügen gekauft oder gepachtet wurde, sondern nur um Geschäftsbesuchern etwas bieten zu können, solche Gesetze haben die verdammten Nazis nicht begünstigt. Sie waren eben doch Verbrecher …

Die Hamburger Welt, keine ausgesprochen kommunistische Zeitung, berichtete im Mai 1964 mit vielen ekelerregenden Details über das Bonner Elendsquartier am Dransdorfer Weg. Fast ein Jahr später ging ihr Berichterstatter Albert Müller wieder ins Ghetto. Hatte sich dort etwas geändert?

Oh, die Stadtverwaltung Bonn hatte einhundertfünfzigtausend Mark investiert, um die grauen Baracken gelb zu streichen und um sie winterfest zu machen. Die Wände waren jetzt geflickt und mit Glaswolle isoliert, sogar die Klos waren fast zugänglich: Früher war eines für je sechs kinderreiche Familien da, heute müssen nur mehr vier Familien das gleiche aufsuchen … (Zur Renovierung der Baracken waren die Handwerker erst bereit, als ihnen die ständige Anwesenheit von Spezialisten für Ungeziefervertilgung garantiert worden war.) Aber ein großer Fortschritt war doch erzielt: Dreiundzwanzig Familien mit zusammen fünfzig Kindern hatten das Ghetto verlassen und umsiedeln dürfen. Sie wohnten jetzt, die Arrivierten, in Notunterkünften aus Stein statt aus Holz, und jede Familie hatte einen Kellerplatz.

Freilich, die kinderreichen Eltern (hier dreiundvierzig Familien, einhundertfünfundsiebzig Kinder) müssen weiter in den Baracken bleiben. Immerhin, auch für sie hat es Luft gegeben. Zwar schlafen die Kinder noch immer zwei- und dreistöckig übereinander in den niedrigen Hütten, aber sie müssen nicht mehr zusehen, wie Geschwister gezeugt werden, die Eltern schlafen nicht mehr im gleichen Raum: Auf eine elfköpfige Familie kommen jetzt zwei Räume, 42 Quadratmeter Wohnfläche. Diese Untergebrachten werden noch beneidet von den Menschen im nahe gelegenen «Depot» oder «Belgierlager», wo einige kleinere Baracken einundsiebzig Familien mit dreihundertzehn Kindern ‹fassen› müssen.

Die Welt versichert, in rheinisch-westfälischen Städten – also im reichsten Landstrich nicht nur Deutschlands, sondern Europas, wahrscheinlich der Erde – steige die Zahl der als obdachlos gemeldeten Personen jährlich um 13 Prozent. Wer weiß, was Neubauwohnungen kosten, der glaubt das. In Köln, wo die Stadtverwaltung bekanntermaßen soziales Gewissen hat, gibt es trotzdem jährlich einen absoluten Zuwachs von tausend Obdachlosen. Eine Stadt von der Größe Mannheims wäre in dem Land, dessen Kanzler dank seiner Regierungs-Geschäftigkeit keinen Proletariern mehr begegnet, vollauf mit Obdachlosen der Ghettos zu besetzen.

 

Ein Zitat aus dem Flugblatt «Fördergemeinschaft Kinder in Not», deren Mitarbeiter am 14. November 1964 aus einer der üppig blühenden westdeutschen Städte berichten – zitiert wiederum nach der Welt:

«Eine Reihe unglaublich überbelegter Baracken steht seit zehn Jahren in einem ausgebaggerten Loch. Hier werden die Familien eingewiesen, dieaus irgendeinem Grunde – ihre Wohnung verloren haben (Ausbombung, Verdrängung durch Behörden, Unglücksfälle, Krankheiten). Alles ist halb verfault, naß, stinkig: die Wände, die Möbel, die Matratzen. Kinder mit fahlen, grauen, alten Gesichtern spielen im Schlamm zwischen Wasserstelle und Abort. Bei Frost kommt nur wenig Wasser durch die Leitung. Waschen und baden ist kaum möglich. Und das bei Familien mit sechs, acht, elf Kindern. Alle Bewohner der Baracken sind nervös, gereizt, niedergeschlagen. Man betäubt sich, so gut man kann. Zum Essen setzen sich die Kinder mit dem Rücken an die Wand auf den Fußboden. Wo sollen sie Schularbeiten machen? Wann können sie einmal ausschlafen? Den Männern graut es davor, nach der Arbeit heimzukommen …

‹Unser Haus war baufällig; man hat uns gesagt, hier seien wir höchstens für drei Wochen … Hier werden alle verrückt, darüber brauchen Sie sich nicht zu wundern … Seit Jahren macht man uns leere Versprechungen, nur damit wir ruhig sind … Müssen unsere Kinder verdorben werden? Man behandelt uns wie Anstaltsinsassen … Wir fühlen uns wie Pestkranke … Wie wir aussehen, trauen wir uns nicht in die Stadt. Schon unsere Kinder werden in der Schule lächerlich gemacht … Wir sind abgeschrieben.›»

Sind diese Abfälle im Brackwasser Babyloniens unerheblich? Zugegeben, daß ‹nur› 2 Prozent der Westdeutschen in solchen Ghettos wohnen. Aber 1932, nach Jahren umfassendster Arbeitslosigkeit, war nur 1 Prozent obdachlos. Ob ein Parlamentarier wie Gerstenmaier, da er doch Christ sogar von Beruf ist und in Bonn Regierungsneubauten plant, auf denen fast eine Milliarde verputzt werden soll, ein solches rheinisches Ghetto schon einmal betreten hat? Kurt Schumachers letztes Wort, unmittelbar vor seinem Tod notiert, war die Feststellung, das Schlimmste, was unserem Volk in der Spaltung Deutschlands zugestoßen sei, hätten nicht die Alliierten ihm angetan. Das Schlimmste sei die parteipolitische Demagogie, im praktischen Leben, hier auf Erden, zu unterscheiden zwischen Christen und Marxisten.

 

Einige Zahlen: nur acht Konzerne kontrollierten schon 1958 wieder vier Fünftel der westdeutschen Roheisenproduktion, drei Viertel der Stahlproduktion und ein Drittel der Kohleförderung. Bereits damals beherrschten Alfried Krupp und seine Manager wieder vierundneunzigtausend Arbeiter und Angestellte, ohne daß an der Konzernspitze das Mitbestimmungsrecht praktiziert wurde. Die nach seinem Kriegsverbrecherprozeß von Krupp eingegangene Verpflichtung, binnen weniger Jahre seinen Konzern zu entflechten, wurde nicht erfüllt. Der Siemens-Konzern – auch Siemens hatte ein Werk in Auschwitz mit weiblichen Häftlingen – beschäftigte zwölf Jahre nach Kriegsschluß hundertfünfzigtausend Arbeiter und Angestellte und beherrschte weitgehend mit...

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