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Schattenkind

Wie ich als Kind überlebt habe

AutorPhilipp Gurt
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783641221416
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Als siebtes von acht Kindern einer finanziell benachteiligten Bergdorffamilie wurde Philipp Gurt in Graubünden in der Schweiz geboren. 1972 wurden alle acht Kinder voneinander getrennt. In den folgenden zwölf Jahren durchlebte Gurt neben der Einweisung in verschiedene Kinderheime unter anderem Zwangspsychiatrie, Beugehaft, sexuellen Missbrauch durch Erzieherinnen und rohe Gewalt. Detailliert und bewegend schildert der Autor seine schweren Schicksalsjahre, anschaulich beschreibt er seine Strategien, die er sich früh aneignen musste, um das Unfassbare zu überleben. Doch wo Schatten war, fand er auch Licht! So schreibt Philipp Gurt auch davon, wie er in seiner zerstörten Welt immer wieder Momente des Glücks gesucht und gefunden hat, sodass er nie die Hoffnung und sein Lachen verlor.

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern geborgen. Er wuchs in verschiedenen Kinderheimen und Institutionen auf. Bereits als Jugendlicher schrieb er Texte und Kurzgeschichten. Mit 17 begann er intensiver zu schreiben, mit 20 beendete er seinen ersten Roman. Bis heute wurden zehn seiner Bücher veröffentlicht, darunter auch zwei Biografien berühmter Persönlichkeiten. Philipp Gurt lebt und arbeitet heute als Schriftsteller in Chur-Haldenstein im Schweizer Kanton Graubünden.

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Leseprobe

FAMILIENBANDE


1966 – Alpsommer auf der First
Papa hält Charly im Arm, Mary mit dem Holzstecken, Mamma mit Yvonne, Rädel, Irma und Claudia. Maja und ich kommen eineinhalb respektive zweieinhalb Jahre später zur Welt.

Als dreizehn Monate nach mir meine jüngste Schwester Maja zur Welt kam, lebten wir zu zehnt in den zwei kleinen Räumen im beengenden Holzhaus. Wir schliefen in vier Betten. Sanitäre Anlagen hatte es keine, dafür vor dem kleinen Stall ein Holzkabäuschen mit einem eingegrabenen Loch. Im unteren der beiden Stockwerke wohnte meine Nana3 väterlicherseits, Antonietta Rizzi, eine gebürtige Engadinerin aus La Punt-Chamues-ch. Ihr Mann, mein Neni4 Stefan Gurt, war bereits 1960 gestorben.

1962 – vor unserem Stall
Nana Antonietta mit Rädel, Claudia, Mutter mit Yvonne

Nana und Neni: Antonietta und Stefan Gurt-Rizzi
Das einzige Bild von unserem Haus in Maladers-Sax.

Zu unserer Familie zitiere ich5 aus den Akten der Vormundschaftsbehörde Arosa/Schanfigg und der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur vom 26.03.1973:

 

Am 09.01.1968 wurde Philipp als zweitjüngstes von acht Kindern (alle debil, teilweise imbezill6) in Maladers bei Chur in eine sozial sehr benachteiligte bis verwahrloste Familie jenischer7 Abstammung geboren … sie bewohnten in Sax-Maladers eine miserable, baufällige Hütte …

Mutter Maria heiratete mit 18 Jahren gegen den Willen der Behörden Konrad Gurt, Jg. 1930, von Maladers. Sie ist eine debile, triebhafte, verstimmbare Psychopathin mit pseudologischen, hysterischen Zügen: Vagantentemperament. Ist schon wiederholt mit anderen Männern durchgebrannt, seit 12. Juli 1972 verschwunden, liess alle Kinder im Stich, wahrscheinlich nun im Ausland. Durchgebrannt mit einem gewissen Sepp Sablonier.

Der Vater von Maria Gurt: Karl Mehli, 1909, von Arvigo (Familie Mehli zwangseingebürgert 1887 in Arvigo, andere Zweige zwangseingebürgert in Maladers) lebt in Sax-Maladers, trinkt landesüblich, sozial untüchtig, Fabrikarbeiter, Biertrinker, klein und fest, wohl etwas untüchtig und debil.

Die Mutter: Barbara geb. Buschauer, 1913, von Molinis, aufgewachsen in Maladers, lebt in Sax-Maladers, früher kleine Landwirtschaft; kleine feste, schimpferische Frau, früher Serviertochter, debil, am Telephon geschwätzig. Der Grossvater Johann Buschauer, 1889–1964, lebte in Molinis, Malans und Landquart, Hilfsarbeiter, Trinker, in 2. Ehe verheiratet mit Anna Führer, verwitwet. Der Urgrossvater Josef Buschauer, 1864–1950, starb in Realta, war 3 x verheiratet. Die Grossmutter: Barbara Gurt, 1890–1932, Schneiderin, aufgeregte Frau, lebte früher in Sax-Maladers; verstarb an Pneumonie. Deren Vater Josef Gurt 1851–1936, verheiratet mit Barbara Hossmann, 1857–1930, 11 Kinder. Diese Grossmutter Barbara Gurt hatte also 10 Geschwister, davon sind viele in der Nervenheilanstalt Waldhaus bekannt: z. B. Therese Schocher-Crurt, 1896–1966, Nr. 12’924 … siehe vor allem die Nachkommen Cazin, Moser und Gurt. Der Vater der Urgrossmutter Barbara Gurt-Hossmann hiess Philipp Jakob Hossmann, verheiratet mit Maria Barbara Vanconi …

Der Grossvater Johann Mehli, Waldarbeiter und Bauhandlanger, Sax-Maladers, 1879 – ca. 1936. Die Grossmutter Barbara geb. Scherrer, von Selma, Vagantin, ca. 1875–1941. Ein Bruder des Grossvaters, Josef Mehli, 1864–1947, war verheiratet mit Marie Scherrer, 1882–1955 (verstorben in der Psychiatrischen Klinik Beverin). Nachkommen dieses Johann Mehli in der Nervenheilanstalt Waldhaus bekannt. Besonders schwer belastet ist aber die Grossmutter Scherrer: Bekanntes Vagantengeschlecht aus Selma. Der Urgrossvater Scherrer, vermutlich: Ferdinand Scherrer (verheiratet mit Carolina Gruber, von Surcuolm, zahlreiche Nachkommen im Waldhaus bekannt. Weitere Geschwister der Grossmutter, Anna Stoffel Scherrer, 1876–1942, Trinkerin, Vagantin, in der Klinik Beverin verstorben. Meinrad Scherrer-Moser, 1875–1958, debiler Trinker, in der Strafanstalt Realta verstorben (verschiedene Nachkommen im Waldhaus bekannt). Von den Nachkommen der erwähnten Maria Mehli-Scherrer, 1879–1955, ist Josef Mehli-Holzer zu erwähnen, 1906 (KG der Frau: Nr. 11670) und ein Enkel Karl Mehli). Ein Muttersbruder Johann, 1916, erethischer Imbeziller war im Waldhaus, Nr. 6’123, seither dauernd in der Psychiatrischen Klinik Beverin. Der Muttersbruder Peter Buschauer, 151U, war im Waldhaus: Chron. Alkoholismus, arbeitsscheu, bevormundet, Nr. 14’951. Seine erste Frau war Hedwig Gruber, 1923, von Sta. Domaniga, eine Dirne, aus dieser Ehe gingen 5 Kinder hervor, die aber z. T. nicht von Buschauer stammen. z. B. so Peter Buschauer, 1941, Nr. 10811, Josef Andreas Buschauer, 1943, Nr. 11 ’734 und Rene Buschauer, 1945, debil im Beverin. Die zweite Frau des Peters Buschauers, Rosa Lutz 1919, lebte in Reichenau, Peter trinkte weiter, schafft nichts. Der Muttersbruder: Christian Buschauer, 1926, imbezill, schibieren, war im im Waldhaus, Nr. 8567, habe Epianfälle, dauernd im Beverin untergebracht.

Vater von Philipp Gurt: Konrad Gurt von Maladers: Hilfsarbeiter, debiler Psychopath, Lese-Schreibschwäche, chronischer Alkoholismus, seit 1953 zwei Mal in der Nervenheilanstalt Waldhaus, zuletzt im November 1971. Akten-Nr. 15’983, Der Mann ist Sohn des Stefan Gurt, 1891–1960, Trinker, Hilfsarbeiter, lebte in Sax-Maladers, zwei Mal im Waldhaus. Akten Nr. 7611, dann in der Strafanstalt Realta, bevormundet. Die Mutter von Konrad Gurt war Antonietta Rizzi, 1893–1972, aus Italien stammend. Debile, vagantenhafte Frau, zeitweise depressiv, im Alter dement geworden. Konrad Gurt und seine Frau Maria sind blutsverwand: Sein Urgrossvater Josef Johann Gurt-Hossmann, 1824–1899 (er war im Waldhaus, Aktennummer 936) ist gleichzeitig der Ur-Urgrossvater seiner Ehefrau.

Aus der Ehe von Konrad Gurt und Maria Mehli gingen acht Kinder hervor:

  1. Maria, 1957, Linkshänderin, Werkschule in Chur, zurzeit im Waisenhaus. Besucht eine Gewerbeschule, könne lesen und schreiben.
  2. Irma, 1958, Primarschülerin, imbezill. Jetzt in Schule Chur Masans, aber untergebracht im Mädchenheim Masans. Meningitis mit 2½ Jahren. Soll aber etwas schreiben können, wahrscheinlich stark debil.
  3. Claudia, 1960, früher Primarschule Maladers, stark debil. Mädchenheim Chur-Masans untergebracht.
  4. Konrad 1962, war Primarschüler, jetzt im Waisenhaus Chur untergebracht. Legasthenie.8
  5. Yvonne, 1963 war Primarschülerin, stark debil, Legasthenie, im Mädchenheim Chur-Masans untergebracht.
  6. Karl 1964, früher blutarm, hatte Ohnmachten. Jetzt Waisenhaus Chur. Soll die Privatschule besuchen.9
  7. Philipp, 1968, geistig zurückgeblieben, früher blutarm, jetzt St. Josefheim in Chur.
  8. Maja 1969, debil. Finger zusammengewachsen. Befindet sich im Waisenhaus Chur.

Wäre es nach den Behörden von damals gegangen, gäbe es überhaupt keine Familie Gurt-Mehli. Aufgrund der Erbanlagen meiner Eltern, sprich des Stammbaumes, wollten sie keine Genträger von ihnen in dieser Welt haben. Deshalb drängten die Behörden im November 1955 meinen damals erst 25-jährigen Papa zur Sterilisation. Aus eugenischen Gründen, wie es hiess!

Mein Papa ist derjenige in der Mitte, mit gefalteten Händen. Diese ruhige Sitzhaltung war typisch für ihn. Rechts Öhi Steffi, mein Onkel.

Als zusätzliches Druckmittel blockierten sie ihm die Heirat mit meiner Mutter, obschon beide damals noch nicht bevormundet waren. Gleichzeitig versuchten sie, die Bevormundung mit allen Mitteln durchzudrücken. Sieben Jahre später (1962) gelang es ihnen mit perfiden und manipulierten Zwangsgutachten.

 

Am 18.02.1956 wurde mein Papa von der Polizei in die psychiatrische Klinik Waldhaus zwangseingeliefert. Die Gemeindebehörden Maladers hatten dies angeordnet. Die Vormundschaftsbehörde Arosa/Schanfigg erliess daraufhin folgende Präsidialverfügung:

Auszug aus dem achtseitigen, erniedrigenden Gutachten über meinen Papa.

 

Ich zitiere Teile:

In der Jugend soll der Expl.10 einen Starrkrampf durchgemacht haben, sonst war er angeblich immer gesund und habe sich körperlich und geistig unauffällig entwickelt. Er habe auch frühzeitig gehen und sprechen gelernt, Bettnässen und Anfallskrankheiten werden negiert.

Seit seiner Schulentlassung im Jahre 1946 arbeitet Herr Gurt z. T. als Hirte und in der übrigen Zeit als Bauhandlanger oder Waldarbeiter. Nach den eigenen Angaben und den Berichten der Angehörigen soll er immer als fleissiger und zuverlässiger Arbeiter geschätzt gewesen sein. Unsere Erkundigungen am heutigen Arbeitsplatz (Baugeschäft Manzoni Chur) lassen diese Angaben als glaubwürdig erscheinen …

Papa (rechts) mit meinem Neni Stefan Gurt bei der Arbeit

Expl. hat schon frühzeitig mit dem Trinken begonnen und trieb sich häufig in einer Gruppe haltloser Jugendlicher herum. Seine Trunksucht besteht seit 6 Jahren …

Seit seiner Verlobung mit Frl. Mehli will der Expl. auch kaum mehr trinken, am Feierabend und an den Sonntagen bleibe er jetzt immer zu...

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