Einleitung
Die Wahrheit, die wir suchen,
schließt eine geistige Annäherung an das Geschehen mit ein,
ein Verständnis für Opfer und Täter, mit dem sich leben lässt.
Ruth Klüger1
Wir sind eine gefährliche Erfindung, wir Menschen,
wir müssen alle aufpassen.
Anita Lasker-Wallfisch2
Die Zeit scheint für heute tätige PsychotherapeutInnen gekommen, in ihrer Arbeit dem Schatten der kollektiven Vergangenheit mehr Raum zu geben, als dies bisher der Fall gewesen zu sein scheint3. Es geht darum, nicht nur zu wissen, sondern auch sich erschüttern zu lassen, um zu trauern und die Vergangenheit zu akzeptieren, wie sie war, um schließlich gegenwärtiger sein zu können. Nicht akzeptiertes und integriertes Vergangenes hindert am Gegenwärtigsein, darüber belehren uns Psychoanalyse und Traumaforschung seit Längerem und spirituelle Traditionen seit Jahrtausenden.
Es gibt sowohl Forschung als auch jahrzehntelange Erfahrungen in der Behandlung von Holocaustopfern und deren Nachkommen. Dass die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg auch in der Mehrheitsgesellschaft, also beim Großteil der Deutschen, bei Tätern und »Mitläufern«4, die 1945 am Leben waren, traumatische Spuren hinterlassen hat, weil auch Täterverhalten traumatisieren kann, weil Täter und »Zuschauer«5 – z. B. im Krieg – auch Opfer gewesen sein können, war lange Zeit als Sichtweise verpönt, ist es teilweise immer noch. Aus verständlichen Gründen! Denn es entsteht leicht der Eindruck, die Deutschen wollten sich aus ihrer Verantwortung für die Verbrechen jener Zeit stehlen. Und schlimmer noch, dies ist auch geschehen und geschieht.
Siebzig Jahre nach Ende der NS-Herrschaft und des Krieges scheint es möglich, die damaligen Gegebenheiten und auch ihre traumatisierenden Folgen in den Blick zu nehmen und z. B. den Kindern von damals, die heute alt sind, zuzugestehen, dass sie durch die Erfahrungen jener Zeit belastet, zum Teil extrem belastet, waren und jetzt im Alter durch die Folgen es teilweise immer noch sind. Denn nach heutigem Wissen haben sowohl die NS-Zeit wie der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit tiefe Spuren im individuellen, familialen und kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Vieles davon ist bewusst, doch vermutlich ebenso vieles unbewusst. Die Spuren haben mit Scham und Schuld zu tun, aber auch mit Todesangst und Ohnmacht, um nur die wichtigsten Gefühle zu nennen, die verständlicherweise häufig durch Schutzmechanismen im Unbewussten bleiben. Vieles spricht außerdem dafür, dass Unerledigtes und Unverarbeitetes an nächste und übernächste Generationen weitergegeben wird und diese belastet, teilweise stark belastet. So mag eine Auseinandersetzung, wie sie hier angestoßen wird, nicht nur individuell zur Klärung beitragen, sondern auch Kindern und Enkeln zugutekommen und den Austausch zwischen den Generationen unterstützen. Verstehen wir unsere Eltern und Großeltern besser, so ist dies auch für uns selbst hilfreich. Aber auch das Verständnis der Älteren für die Jüngeren kann erleichtert werden.
Meine Erfahrungen in Psychotherapien deuten darauf hin, dass nicht wenige der nach dem Krieg Geborenen nicht ausreichend über die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern und teilweise die Geschichte des 20. Jahrhunderts informiert sind. Die traumatischen Erfahrungen des Krieges und von Flucht und Vertreibung könnten dazu geführt haben, dass nicht nur diese dem Vergessen anheimfallen, sondern auch alles, was damit zusammenhängt. Scham hat ebenfalls dazu beigetragen. So wissen manche heute nicht oder nicht mehr, wo und welche Verbrechen stattgefunden haben, aber z. B. auch nichts über die Grenzen des Deutschen Reiches vor Ende des Zweiten Weltkrieges, was helfen könnte, Dinge einzuordnen. Das kann bedeuten, dass jüngere KollegInnen mit einem Geburtsort aus den früheren deutschen Ostgebieten nichts verbinden und ihre PatientInnen daher auch nicht anregen können, hier genauer zu forschen.
Die langen Schatten der Vergangenheit stellen andererseits für viele eine Realität dar, der sie nicht ausweichen möchten und können. So habe ich im letzten Jahr ein zunehmendes Interesse bei der sogenannten Kriegs-Enkelgeneration festgestellt, ein Bedürfnis, zu fragen und zu verstehen. Die Generation der »Kriegskinder« sei der Auseinandersetzung mit der familialen Vergangenheit ausgewichen, meint Gabriele Rosenthal. Darunter versteht sie mehr als die häufig gestellte Frage, »warum habt ihr das zugelassen«, sie meint konkretes Nachfragen wie z. B. »was hast du gemacht, gedacht, gefühlt, als der Nachbar verschwunden ist?« Es geht also um psychische Schwierigkeiten, sich mit einer Tätervergangenheit der Eltern zu konfrontieren6, 7, 8.
Den Dialog der Generationen gibt es zum einen natürlich – mehr oder weniger – im privaten Kontext, und er ist lange bekannt und wird seit Jahrzehnten vor allem in systemisch-familientherapeutischen Ansätzen praktiziert, allerdings auch hier nicht in erster Linie bezogen auf Familiengeschichte im Kontext historischer und politischer, sondern privater Gegebenheiten. Alle psychotherapeutischen Settings können von einer historisch geprägten Sicht profitieren. Für viele, die bereits in früheren Jahrzehnten in Psychotherapie waren, steht eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg noch an. Ältere Menschen um die 70 kommen oft erst jetzt in einen inneren Kontakt mit dem Einfluss der NS-Zeit und ihren (Kriegs-)Kindheiten und mit den dort herrschenden menschenverachtenden Einstellungen in vielen Formen, die mit den historischen Ereignissen aufs Engste verwoben sind. Deren Kinder wiederum sind häufig in großer Sorge um die Eltern, waren von Kindheit an parentifiziert und suchen nach Erklärungen. Schließlich gibt es die Gruppe derer, deren Eltern den Krieg als (junge) Erwachsene erlebt haben, die vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg unter den Folgen der Belastungen der Eltern litten. Ein Hauptthema scheint hier häufig Gewalt in der Familie zu sein9.
Es geht mir daher um individuelle Lebensläufe im Kontext gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge. Und es erscheint mir wünschenswert, dass diese Auseinandersetzung bei den TherapeutInnen selbst und ihrer eigenen Geschichte beginnt, um PatientInnen angemessen begleiten zu können.
Dieses Buch basiert auf einer Vorlesung bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2014. Die Reaktionen machten mir deutlich, dass vieles noch zu bearbeiten und in klärenden Gesprächen auszutauschen ist. Daher habe ich mich entschlossen, das Material der Vorlesung für ein Buch zu bearbeiten und vor allem zu ergänzen. Als Orientierungsrahmen behalte ich im Buch die Reihenfolge der Vorlesungen bei, nicht zuletzt deshalb, weil die historisch und gesellschaftlich bedingte Umgebung Auswirkungen auf die Psyche hatte und hat.
Meine Annäherung ist keinesfalls vollständig. Leserinnen und Leser werden möglicherweise ihnen wichtige Themen vermissen.
Wie die Vorlesung ist dieses Buch als Einführung gedacht. Es geht um eine erste Annäherung, die sich in Kreisen einer angewandten Psychotherapie eher langsam entwickelt hat und einen schwierigen Diskurs über die kollektive Last der deutschen Vergangenheit und was es heute für Menschen, die eine Psychotherapie anstreben, bedeuten kann, sich anzunähern.
Es gibt inzwischen sowohl wissenschaftliche wie belletristische wie journalistische Literatur in großer Fülle zum Thema. In der Zeit seit der Vorlesung im April 2014 bis April 2015 sind zu den bisherigen noch zahlreiche neue und wichtige Arbeiten erschienen. Ich beziehe mich darauf, und zum Teil reflektiere ich eigene Erfahrungen, sowohl persönliche wie solche als Psychotherapeutin. Arbeiten, wie man konkret in der Psychotherapie mit der Thematik umgehen kann, gibt es bis jetzt kaum, so will ich den Versuch unternehmen, hier einige Vorschläge zu machen.
Ich beschränke mich in meiner Betrachtung auf einen Blickwinkel, der vor allem Erfahrungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft reflektiert, der Täter, »Zuschauer« und »Mitläufer«10, deren Kinder und Enkel, und die Folgen aus diesen Erfahrungen. Die Betrachtung der Folgen für Verfolgte der NS-Zeit wird von ihnen und deren Nachkommen bereits seit Langem geleistet. Es gibt Berufenere als mich, hierüber zu schreiben. Allerdings bemühe ich mich im ersten Kapitel um eine Reflexion meiner Begegnungen mit diesen Gegebenheiten.
In der Psychotherapie tragen Geschichten häufig mehr als eine ausschließliche Beschäftigung mit Fakten zum tieferen Verstehen bei. Daher berücksichtige ich beides und beschreibe, wie schon im Rahmen der Vorlesung, einige meiner persönlichen Erfahrungen und Erschütterungen, soweit sie mir für Erkenntnisprozesse hilfreich erscheinen.
Als Ergänzung gibt es zwei Kapitel, zunächst eines mit allgemeinen Empfehlungen für die Psychotherapie vor allem unter dem Aspekt der Berücksichtigung der Würde der PatientInnen und ein zweites, in dem eine Geschichte erzählt wird, die man als Krankengeschichte lesen kann, aber nicht muss, weil es ebenso eine Geschichte über seelische Widerstandskraft ist. »Frau H.« kommt selbst zu Wort. Sie hat mir ihre Aufzeichnungen mit dem Wunsch zur Verfügung gestellt, dass vor allem die sehr jungen Kriegskinder in ihrer damaligen Not mehr wahrgenommen werden. Diese Aufzeichnungen scheinen mir das Erleben des (Kriegs-)Kindes deutlicher zu machen, als dies in vielen üblichen Fallbeschreibungen geschieht. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus narrativen und reflektierten Erfahrungen über ein in den letzten...