Teil I
Realismus
Am Anfang der modernen europäischen politischen Philosophie steht der Versuch des Philosophen Hobbes, für ein brennendes zeitgenössisches Problem eine Lösung zu finden. Wie kann man sich in einem Zeitalter der Glaubensspaltung ein friedliches Zusammenleben der Menschen denken, wenn man weder eine göttlich gestiftete und in Kraft gehaltene Ordnung voraussetzen kann noch einen unveränderlichen, in der Natur des Menschen verwurzelten Impuls, der uns unwiderstehlich zu einer besonderen Form der Kooperation antreibt? Jeder Mensch wächst als Mitglied einer Gruppe von anderen Menschen auf, das heißt unter anderen Menschen, die miteinander in einer bestimmten Weise interagieren. Die sogenannte »Kleinfamilie« ist in den meisten Fällen in ein größeres Verwandtschaftssystem, in ein lockeres Netzwerk von Freunden und Nachbarn und womöglich in übergreifende politische Strukturen eingebunden. Obwohl Menschen, wie man sagt, »von Natur aus« gesellschaftliche und nicht solitäre Geschöpfe sind, können Grundformen der Interaktion in modernen Gesellschaften niemals als »Selbstverständlichkeiten« gelten, die man ruhig sich selbst überlassen kann, weil sie sich angeblich selbst regulierten und am Leben erhielten. Menschliche Interaktionen verlaufen gerade nicht quasiautomatisch in allen Fällen friedlich und fehlerfrei, sondern sie sind vielmehr leicht störungsanfällig, instabil und konfliktbehaftet. Die Mitglieder einer menschlichen Gruppe sind nicht Teil eines einzigen Organismus, ohne eigenen Willen, nicht wie Bienen, Ameisen oder selbst Herdentiere, deren starke natürliche Instinkte zumindest in einigen Bereichen verlässlicherweise mächtig genug sind, um für eine mehr oder weniger harmonische Koordination zu sorgen. Vielmehr wachsen Menschen selbst in den repressivsten Gesellschaften, die wir kennen, als minimal individuierte Geschöpfe auf, insofern jeder ein gesondertes Erkenntnis-, Beurteilungs- und Handlungszentrum darstellt. Jeder, der einen normalen Reifungsprozess abgeschlossen hat, ist in der Lage, eigene Überzeugungen, Einstellungen, und Präferenzen zu bilden und zu ändern, relativ komplexe Beurteilungsprozesse auszuführen und Handlungen einzuleiten, um seine Wünsche und Präferenzen, selbstverständlich mit mehr oder weniger Erfolg, im Lichte seiner Überzeugungen in Wirklichkeit umzusetzen. So ist die Koordination des Handelns in unserer Gesellschaft, sei sie von einem negativen Typ (»Vermeide es, so zu handeln, dass die Pläne anderer unnötig durchkreuzt werden«) oder von einem positiven Typ (»Trage so viel du kannst zu unseren gemeinsamen Unternehmungen bei«), immer eine soziale Errungenschaft, und sie ist etwas Erworbenes und Bewahrtes und wird generell nur zu einem gewissen Preis erlangt. Menschen stellen sehr schnell fest, dass es eine große Vielfalt unterschiedlicher Formen gibt, wie kollektives Handeln organisiert werden kann, und da verschiedene Formen des kollektiven Handelns auch unterschiedlich vorteilhaft sind, können unter gewissen Umständen Individuen ein Interesse daran ausbilden, bestehende Muster zu ihren eigenen Gunsten zu ändern.
In dem, was ich nun »den realistischen Ansatz zur politischen Philosophie« nennen möchte, wird diese grundlegende Hobbes’sche Erkenntnis entwickelt. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung von historisch verkörperten Formen kollektiven Handelns der Menschen, wobei die besondere Aufmerksamkeit darauf liegt, in welch vielfältiger Weise die Menschen ihr Handeln strukturieren und organisieren können, um unerträgliche Formen der Unordnung zu begrenzen und zu beherrschen. Es handelt sich um eine historisch spezifische Untersuchung, und sei es auch nur deswegen, weil die Begriffe »Ordnung« und »unerträgliche Unordnung« selbst veränderliche Größen sind. Das heißt, das allgemeine Toleranzniveau der Menschen für unreglementiertes, unvorhersagbares oder zufälliges Handeln und das Ausmaß, in dem sie bestimmte Formen fehlender Ordnung besonders beunruhigen, schwanken mit den Zeiten und den Gesellschaften beträchtlich. In modernen westeuropäischen Staaten würden zum Beispiel nur wenige Bevölkerungen die anarchische Freiheit tolerieren, Schusswaffen in Privatbesitz zuzulassen, die in den Vereinigten Staaten als ein positiver Bestandteil des guten Lebens angesehen werden, oder die »Freiheit«, auf eine öffentlich organisierte Form der Krankenversicherung zu verzichten; und vom 12. bis zum 17. Jahrhundert war eine Gesellschaft, die nicht auf religiöse Uniformität gegründet war, fast undenkbar. Die Unordnung des einen ist manchmal die Freiheit des anderen, und auf diesem Gebiet herrscht so viel begriffliche Unklarheit, dass der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sogar das Bagdad des Jahres 2003 mit unbewegter Miene als ein Beispiel für »ungeordnete Freiheit« hinstellen konnte. Die Schwankung dessen, was als »Ordnung« oder »Freiheit« gilt, ist oftmals selbst eine Ursache für Spannungen zwischen Individuen und Gruppen. Eines von zwei benachbarten Ländern kann Grade kleiner Grenzverletzungen als eine natürliche Begleiterscheinung des sozialen Lebens akzeptieren, während die andere Seite darin einen casus belli erblickt oder vorgibt, ihn zu erblicken.
Eine zeitgemäße Weiterentwicklung des von Hobbes umrissenen realistischen Ansatzes braucht keine vorgängige ontologische Spezifikation eines bestimmten Handlungsbereichs, genannt »Politik«, sondern wäre durch eine gewisse Konstellation von Themen und Fragestellungen adäquat charakterisiert. Drei besonders wichtige Fragenkomplexe seien hervorgehoben und der leichteren Bezugnahme halber »die Fragen von Lenin, von Nietzsche und von Max Weber« genannt. Welches dieser drei Themen eventuell Vorrang hat, wie sich die drei zueinander verhalten und auf welche Weise sie gegebenenfalls eine Einheit bilden, sind Fragen, auf die man keine allgemeine, sondern nur eine kontextbedingte Antwort geben kann. Nur eine historisch angelegte Analyse, die die spezifische, reflexionsmotivierende politische Situation, die kognitiven und praktischen Interessen der Beteiligten und das zur Verfügung stehende begriffliche und theoretische Instrumentarium berücksichtigt, gibt Aufschluss über den konkreten, jeweils anderen, Zusammenhang zwischen den drei Arten der Fragestellung.
Wer wen?
Lenin definiert Politik mit charakteristischer Klarheit und Prägnanz, wenn er sagt, dass sie sich mit einer Frage beschäftigt, die in unserem politischen Leben stets wiederkehrt: »Wer wen?« (KTO KOΓO). Das bedeutet zunächst einmal, dass unpersönlich formulierte Aussagen über menschliche Gesellschaften ihren vollen politischen Inhalt erst dann freigeben, wenn sie in Aussagen umgewandelt werden über das, was bestimmte konkrete Menschen tun und andere erleiden, beziehungsweise in Aussagen über Handelnde und Betroffene. Das Schild in der U-Bahn, »Fahren ohne Fahrschein ist strafbar«, bedeutet, dass man von einem Polizisten festgenommen und mit Bußgeld belegt werden kann, wenn man keinen Fahrschein vorweisen kann. »Die Arbeitslosigkeit ist um x Prozent gestiegen« bedeutet, dass gewisse Menschen, die bestimmte ökonomische Organisationen leiten, etwas Konkretes getan haben, nämlich das Beschäftigungsverhältnis gewisser anderer Menschen beendet haben.
Die Frage »Wer wen?« als stets wiederkehrende Frage zu bezeichnen, bedeutet natürlich nicht, dass diese Frage buchstäblich für jede einzelne menschliche Gesellschaft, die existiert hat oder existieren wird, »notwendigerweise« in jedwedem Kontext entsteht. Das Ausmaß, in dem sie aufkommt, die Formen, in denen sie auftritt, und die Gewichtigkeit der Frage werden historisch variieren. Vielleicht gibt es Kontexte und Gesellschaften, für die diese Frage irrelevant ist, aber für die meisten Gesellschaften, mit denen wir direkt zu tun haben, und für die Gesellschaften, zu denen wir verhältnismäßig einfach kognitiven Zugang haben, ist es eine Frage, die sich immer wieder stellt, und das, soweit wir sehen können, aus guten Gründen. Ein Strang des »Liberalismus«, der zum Beispiel in den frühen Schriften von Humboldt repräsentiert ist,12 widmete sich dem Versuch, eine Struktur freier politischer Institutionen auszudenken, im Hinblick auf die diese Frage so unwichtig wäre, dass es irrelevant sein würde zu fragen, wer die Regierenden und wer die Regierten seien. Das Herzstück dieser Argumentation war die Idee einer strikten Beschränkung der Regierungsmacht. Falls diese Macht ausreichend beschränkt sei, so der Gedankengang, würde es gleichgültig sein, wer den Staatsapparat bediente und wer diesem unterworfen wäre. Die utopische Spekulation steht natürlich jedem frei und ist in manchen Hinsichten höchst wünschenswert, wenn aber dieser liberale Vorschlag besagen sollte, dass eine solche freie Form politischer Organisation unter den wirtschaftlichen Voraussetzungen des 19., 20. oder 21. Jahrhundert tatsächlich realisierbar sei, war das mit Sicherheit eine Illusion.
In genau...