Vorwort
Dieses Buch entstand im Sommer 2012 nach der Präsentation des dritten Jahresgutachtens des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) am 8. Mai 2012 und nach meinem Ausscheiden aus dem Amt des SVR-Gründungsvorsitzenden, aber auch aus dem Sachverständigenrat insgesamt zum 1. Juli 2012.
Der auf meine Konzeptidee und die dazu entwickelte Strategie der ‚kritischen Politikbegleitung‘ über die Medien gegründete SVR war Ende 2008 auf Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zustande gekommen. Er ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet.
Den Vorsitz des Sachverständigenrates hatte ich nur für die besonders schwierige und arbeitsintensive Aufbauphase übernommen, die die Leitung der ersten drei Jahresgutachten umfassen sollte. Daraus sind am Ende dreieinhalb Jahre geworden, weil ich darum gebeten wurde, über das Ende der drei Jahre im Januar 2012 noch bis zur Präsentation des dritten SVR-Jahresgutachtens und seiner Diskussion in den Medien, d.h. bis Juni 2012, im Amt zu bleiben.1 Die Gründungsjahre des Sachverständigenrats waren erfolgreich: Der SVR gilt heute als das wichtigste Sachverständigengremium zur Beurteilung der Entwicklung von Migration und Integration sowie von Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland.
Der SVR spricht, wie in seiner Satzung festgelegt, in der Öffentlichkeit in der Regel ‚mit einer Stimme‘ – derjenigen des Vorsitzenden. Deshalb war meine Position als Vorsitzender in den Medien unvermeidlich exponiert, vor allem dann, wenn ich mich, nach Abstimmung im Kreis der Sachverständigen, in laufende Kontroversen einschaltete. Das war zur Zeit der sogenannten Sarrazin-Debatte in besonderem Maße der Fall.
Ich blicke in dieser Studie nach dem Ende meiner Zeit als Gründungsvorsitzender aus der Perspektive des Zeithistorikers, der ich von Hause bin, auf diese Debatte zurück. Ich schreibe aber auch aus persönlicher Sicht, weil mich diese Debatte 2010/11 nicht nur in meiner Funktion als Vorsitzender des Sachverständigenrats, sondern auch als Person wiederholt beschäftigt und betroffen hat.2
Im Blick auf die Sarrazin-Debatte konzentriere ich mich auf die argumentativen Frontlinien der medialen Diskussion in den Themenfeldern Migration und Integration und deren potentielle Folgen für die demokratische Einwanderungsgesellschaft. Das Gleiche gilt für zentrale Argumentationslinien der schon älteren – von der vergleichenden Religionskritik zu unterscheidenden – vulgärrationalistischen ‚Islamkritik‘, die in wechselseitiger Verstärkung durch die Sarrazin-Debatte hindurch liefen. In dieser scheinaufklärerischen antiislamischen Bewegung mitlaufende kulturrassistische Vorstellungen überschnitten sich – nicht intentional, aber in den ideellen Argumentationslinien klar erkennbar – mit völkischen Selbst- und Fremdbildern. Sie verbanden sich in einem kollektiv-emotional hoch aufgeladenen, in vieler Hinsicht irrational-diffusen weltanschaulich-ideologischen Kreuzungsfeld zu antiislamisch-kulturrassistisch-völkischen Vorstellungen. Dass es dabei auch im Spannungsfeld von Wortgewalt und Tatgewalt3 gefährliche Schnittmengen gibt, haben, allen empörten Distanzbeschreibungen zum Trotz, die Terrorerfahrungen in Norwegen und Deutschland blutig belegt.4
Im Blick auf Sarrazin-Debatte wie ‚Islamkritik‘ geht es hier weder um historiographische Diskursbeschreibungen als solche noch um eine neuerliche Prüfung von Sach- und Stichhaltigkeit der jeweils vorgetragenen Argumente. Es geht um meinungsbestimmende Argumentationslinien, Formen und Wirkungen einer öffentlichen Debatte, die Bruchlinien in der Einwanderungsgesellschaft markierte.
Im Beobachtungsfeld von Migration und Integration lavierten Sarrazin-Debatte und ‚islamkritische‘ Diskussion in der gefährlichen Mitte zwischen mehr oder minder sachbezogener Problemaufklärung und spaltender, negativer Integration im Sinne der identitätsstiftenden Selbstvergewisserung der Mehrheit durch Abgrenzung von zugewanderten Minderheiten. Hier hatten die am meisten verbreiteten kulturpessimistischen und integrationskritischen, xenophoben und insbesondere islamophoben Versionen von Sarrazin-Debatte und vulgärrationalistischer ‚Islamkritik‘ in Deutschland eine doppelte Ersatzfunktion:
Sie boten eine empörungsstarke Ersatzdebatte für die angstvoll verdrängte Diskussion um eine neue kollektive Identität in der Einwanderungsgesellschaft. Und sie ersetzten in Deutschland das Wirken einer hier (jenseits der relativ unbedeutenden NPD) nicht vorhandenen größeren fremdenfeindlichen, ethnonationalistischen und/oder kulturrassistischen Partei, wie es sie in vielen anderen modernen europäischen Einwanderungsländern gibt: von Österreich (FPÖ) sowie der Schweiz (SVP) im alpinen Raum und Italien (Lega Nord) im Süden bis nach Finnland (‚Wahre Finnen‘) im Norden und von den Niederlanden mit der ‚Freiheitspartei‘ von Wilders und dem ‚Vlaams Belang‘ sowie Frankreich (Front National) im Westen bis nach Polen (PiS) und Ungarn (Fidesz und Jobbik) im Osten.
Die paradox wirkende Tatsache, dass ethnische und kulturelle Pluralität von einer wachsenden Mehrheit und insbesondere von jüngeren Menschen als selbstverständliche Alltagserfahrung akzeptiert wird und sich zugleich schrille gruppenfeindliche Töne zu Wort melden, ist, so betrachtet, nur ein scheinbarer Widerspruch: Gerade die Tatsache, dass die Alltagsrealisten der Einwanderungsgesellschaft die ethnische und kulturelle Pluralität mit zunehmender Gelassenheit akzeptieren, alarmiert die schrumpfende und deshalb umso lautstarker warnende Gruppe der Zivilisationskritiker, Kulturpessimisten und Kulturrassisten, deren publizistische Meinungsführer oft von einem statischen, möglichst wenig zu verändernden und vor allem gegen kulturelle ‚Überfremdung‘ zu verteidigenden Kulturverständnis ausgehen.
Ergebnis dieser paradoxen Spannung ist eine gefährliche Ersatzdebatte anstelle jener überfälligen Diskussion um die neue Identität in der Einwanderungsgesellschaft. Das Buch beschreibt diese Ersatzdebatte als negative Integration: Integration durch partielle Segregation im Sinne der erwähnten Selbstvergewisserung der Mehrheit durch die Ausgrenzung einer großen – muslimischen – Minderheit. Politik verkennt die Brisanz dieser negativen Integration, solange sie ‚Integrationspolitik‘ nicht als Gesellschaftspolitik für alle zu verstehen und zu vermitteln lernt.
Ausgangspunkt ist die Sarrazin-Debatte, durch die die schon seit Jahren betriebene alarmistische ‚Islamkritik‘ weiter angeheizt wurde. Diese ‚Islamkritik‘ hat ihren Ort in der Publizistik, im Print- und TV-Journalismus sowie in aggressiv islamfeindlichen Internetportalen und Blogs mit zum Teil fließenden Grenzen zu rechtsextremen und neonationalsozialistischen Strömungen.
Das neue Buch von Wolfgang Benz5 über Muslimskepsis, ‚Islamkritik‘ und Islamfeindschaft habe ich zu meinem Bedauern erst unmittelbar vor der Druckvorbereitung dieses Manuskripts im September 2012 zu Gesicht bekommen und konnte deshalb nur noch einige Querverweise für interessierte Leser nachtragen. Unsere beiden Bücher ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Sie gehen von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus:
Wolfgang Benz kommt von der Vorurteilsforschung her, ich selber gehe von der Migrations- und Integrationsforschung aus. Wolfgang Benz fragt nach den Folgen der ‚Islamkritik‘ für die Demokratie, ich frage nach den Folgen der Sarrazin-Debatte mit ihrem Begleitfeld ‚Islamkritik‘ für die demokratische Einwanderungsgesellschaft. Wir kommen aus unterschiedlichen Richtungen und auf unterschiedlichen, nur gelegentlich parallel laufenden Wegen im Blick auf eines der Zentralthemen von Wolfgang Benz, die ‚Islamkritik‘ in ihrer dominierenden, vulgär-aufklärerischen Form, zu dem gleichen Ergebnis: Sie ist für Demokratie und demokratische Einwanderungsgesellschaft gleichermaßen gefährlich.
In eine verwandte Richtung weist die neue Studie ‚Freiheit, Gleichheit und Intoleranz‘ von Kai Hafez, die ich ebenfalls erst kurz vor der Drucklegung meines Manuskripts in den Druckfahnen einsehen konnte: Sie bietet ein theoretisches und systematisches Fundament für die Diskussion einer doppelten Schlüsselfrage: die Bedeutung der Islam-Integration und die Gefahren islamophober Abwehrhaltungen für die liberalen Einwanderungsgesellschaften in Deutschland und Europa.6
Viele hilfreiche und ermutigende Diskussionen haben die Entstehung dieses Manuskripts begleitet. Hier danke ich besonders meinem Freund und früheren Kollegen am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Prof. Dr. Jochen Oltmer, sowie Prof. Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim, Erlangen und Trondheim/Norwegen; Dank für kritische Anmerkungen und Hinweise schulde ich auch Dr. Naika Foroutan, HU Berlin; Dr. Holger Kolb, SVR, Berlin; Prof. Dr. Ursula Neumann, Univ. Hamburg; Dr. Mark Terkessidis, Köln/Berlin und Prof. Dr. Werner Schiffauer, Europa-Universität Viadrina Frankfurt a.O. Für eine in diesem Konfliktfeld immer tunliche medienrechtliche Prüfung danke ich zwei Juristen aus der Politik sowie aus dem Stiftungsbereich, die ungenannt bleiben wollen. Steffen Pötzschke, M.A., GESIS, Mannheim, danke ich für die redaktionelle Druckvorbereitung des Manuskripts.7 Der Freudenberg-Stiftung und der Stiftung Mercator danke ich für die Förderung der Drucklegung durch Zuschüsse. Christian Petry danke ich für seine...