Viele Autoren interpretieren die neuen kulturellen Realitäten, die heute unseren Alltag prägen, als direkte Folge technologischer Entwicklungen: Das Internet ist schuld! Diese Annahme ist nicht nur empirisch unhaltbar, sondern führt auch zu einer problematischen Einschätzung der aktuellen Situation. Die Apparate werden als »zentrale Akteure« dargestellt, und dies suggeriert, die neuen Technologien hätten eine eigentlich stabile Situation plötzlich umgewälzt. Je nach Position bewertet man das dann als »Segen oder Fluch«.[1] Bei genauer Betrachtung ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild. Etablierte kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Institutionen haben schon lange vor den neuen Technologien und den mit ihnen einhergehenden neuen Anforderungen an die Einzelnen viel von ihrer Selbstverständlichkeit und Legitimität verloren. Und die angeblich neuen Arten der Koordination und Kooperation sind so neu auch wieder nicht. Viele von ihnen gibt es schon seit einiger Zeit. Meist hatten sie anfangs mit den Technologien, für die sie dann später relevant werden sollten, gar nichts zu tun. Nur im Nachhinein lassen sich diese Entwicklungen als Anfänge identifizieren, denn vieles von dem, was wir heute als neu oder revolutionär ansehen, wurde am Rande der Gesellschaft, in kulturellen Nischen und ohne dass die dominanten Akteure und Institutionen es beachteten, eingeführt. Die neuen Technologien trafen also auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Sie konnten erst entwickelt werden, nachdem eine Vorstellung formuliert worden war, was mit ihnen möglich sein sollte. Verbreiten konnten sie sich nur dort, wo Bedarf für sie schon vorhanden war. Dieser Bedarf wurde durch soziale, politische und ökonomische Krisen geschaffen, ausgelöst durch die im Gange befindlichen Veränderungen. Die neuen Technologien schienen vielfältige und vielversprechende Antworten auf die drängenden Fragen zu geben, welche diese Krisen aufgeworfen hatten. Es war also eine Kombination aus positiver Vision und Druck, die unterschiedlichste Akteure dazu motivierte, mit teilweise beträchtlichem Aufwand ihr bisheriges Verhalten, die etablierten Prozesse und gewachsenen Institutionen zu verändern. Sie wollten die verschiedenen und teils widersprüchlichen Möglichkeiten, die sie in den neuen Technologien sahen, für ihre eigenen Projekte nutzen. Erst mit diesem Schritt entstand eine neue technologische Infrastruktur.
Dies wiederum schuf die Voraussetzungen dafür, dass vormals unabhängige Entwicklungen sich wechselseitig verschränken konnten, was sie verstärkte und dazu führte, dass sie sich jenseits der ursprünglichen Kontexte, in denen sie entstanden waren, ausbreiten konnten. So rückten sie vom Rand ins Zentrum der Kultur, wurden dominant und verschärften die Krise der bisherigen kulturellen Formen und Institutionen, während sie sich daranmachten, neue zu etablieren.
Die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur
Schaut man sich heute Fernsehdiskussionen aus den fünfziger und sechziger Jahren an, fällt einem nicht nur auf, wie genüsslich im Studio geraucht wurde, sondern auch, wie homogen das Teilnehmerspektrum war. Meist sprachen weiße, heteronorm agierende Männer miteinander,[2] die wichtige institutionelle Positionen in den Zentren des Westens innehatten. In der Regel handelte es sich um hochspezialisierte Akteure aus Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Vor allem sie waren legitimiert, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ihre Meinung zu artikulieren und diese von anderen als relevant anerkannt und diskutiert zu sehen. Sie führten die wichtigen Debatten ihrer Zeit. Andere Akteure und deren abweichende Positionen, die es natürlich immer gab, wurden mit wenigen Ausnahmen entweder als unschicklich, inkompetent, pervers, irrelevant, rückständig, exotisch oder partikular kategorisiert oder gar nicht erst wahrgenommen.[3] Dabei begann sich die soziale Basis der Kultur schon zu dieser Zeit zu erweitern, nur hatten das die Akteure im Zentrum der Diskurse noch nicht bemerkt. An immer mehr Stellen gewannen kommunikative und kulturelle Prozesse an Bedeutung, und exkludierte soziale Gruppen entwickelten ihre eigene Sprache, um selbstbewusst in die Diskurse einzugreifen. Der Aufstieg der Wissensökonomie, die zunehmende Kritik an der Heteronormativität und eine fundamentale Kulturkritik durch den Postkolonialismus eröffneten immer mehr Menschen die Möglichkeit, sich an öffentlichen Diskussionen zu beteiligen. Im Folgenden werde ich diese drei Phänomene genauer untersuchen. Um ihrer Komplexität gerecht zu werden, behandele ich sie auf unterschiedlichen Ebenen: Den Aufstieg der Wissensökonomie schildere ich als strukturelle Veränderung der Arbeit; die Kritik der Heteronormativität rekonstruiere ich, indem ich die Entstehung und Wandlung der Schwulenbewegung in der BRD skizziere; und den Postkolonialismus nehme ich als Theorie in den Blick, die neue Begriffe der kulturellen Multiplizität und der Hybridisierung einführte, die nun die Kultur der Digitalität weit über die Grenzen des postkolonialen Diskurses hinaus und oftmals ohne jeden Bezug auf diesen beeinflussen.
Das Wachstum der Wissensökonomie
Anfang der fünfziger Jahre war der austroamerikanische Wirtschaftswissenschaftler Fritz Machlup in eine Studie zur politischen Ökonomie der Monopole vertieft.[4] Er befasste sich unter anderem mit Patenten und dem Urheberrecht. Ganz im Sinne der neoklassischen österreichischen Schule sah er beide als problematische, weil staatlich geschaffene Monopole an.[5] Je länger er sich insbesondere mit dem Patentwesen beschäftigte, desto weiter reichend erschienen ihm die Konsequenzen dieser Monopole. Er stellte fest, dass das Patentwesen mit etwas zusammenhing, das man als »Ökonomie der Erfindung« bezeichnen kann – schließlich mussten die patentierbaren Erkenntnisse überhaupt erst einmal hervorgebracht werden –, und diese war wiederum Bestandteil einer noch viel größeren Ökonomie des Wissens. Letztere umfasste die seit Roosevelts New Deal rasch wachsende Zahl staatlicher Behörden ebenso wie Bildungs-, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, also Schulen, Universitäten und Firmenlabors. Aber auch der expandierende Mediensektor und jene Industrien, welche die technischen Infrastrukturen bereitstellten, gehörten dazu. Machlup fasste alle diese Institutionen und Bereiche unter dem von ihm eingeführten Begriff der »Wissensökonomie« zusammen. Gemeinsam war ihnen, dass wesentliche Aspekte der Tätigkeiten, die in ihnen verrichtet wurden, darin bestanden, anderen Menschen etwas mitzuteilen (telling anyone anything). Die Beschäftigten waren also nicht nur Rezipienten von Informationen oder Anweisungen, sondern kommunizierten in irgendeiner Weise selbst, und sei es nur als Sekretärin, die ein stenografiertes Diktat abtippte, bereinigte und weiterreichte. In seinem 1962 veröffentlichten Buch The Production and Distribution of Knowledge in the United States sammelte Machlup das empirische Material, um zu zeigen, dass die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten in eine neue Phase eingetreten war, die sich durch Produktion, Austausch und Anwendung von abstraktem, kodifiziertem Wissen auszeichnete.[6] Diese Ansicht war zu jener Zeit nicht mehr ganz neu, aber sie war noch nie so empirisch detailliert und eingehend dargelegt worden.[7] Das Ausmaß dieser Wissensökonomie erstaunte selbst Machlup: In seinem Buch ging er davon aus, dass bereits 43 Prozent aller Werktätigen in diesem Sektor beschäftigt seien. Diese hohe Zahl kam vor allem deshalb zustande, weil bis dato noch niemand auf die Idee gekommen war, die unterschiedlichen Bereiche als eine Einheit zu verstehen.
Machlups Kategorisierung war durchaus innovativ, denn die Dynamiken, die die von ihm zusammengeführten Bereiche vorantrieben, waren nicht nur sehr verschieden, sondern entstanden zunächst als integraler Teil der Entwicklung der industriellen Warenproduktion. Sie waren eher deren Verlängerung als ein Bruch mit ihr. So erweiterte und beschleunigte sich die Produktion und Zirkulation von Gütern schon während des 19. Jahrhunderts, wenn auch mit großen regionalen und sektoralen Unterschieden. Neue Märkte wurden geschaffen, um die in hoher Stückzahl hergestellten Waren absetzen zu können, neue Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen wurden etabliert, um diese großen Märkte, meist in Form von nationalen Territorien (inklusive deren Kolonien), bedienen zu können. Das erlaubte es, noch größere Produktionsanlagen zu bauen, um so Kostenvorteile der Massenfertigung besser auszunutzen. Um diese komplexen Prozesse steuern zu können, entstanden neue Berufsfelder mit neuen Kompetenzen und Arbeitsbedingungen. Das Büro wurde zum Arbeitsplatz für eine immer größere Zahl von Personen, Männern und Frauen, die alle in der einen oder anderen Form etwas mit Informationsverarbeitung und Kommunikation zu tun hatten. Aber man benötigte nicht nur neue Managementtechniken. Auch die Produktion und die Produkte wurden komplexer, so dass ganze Unternehmensbereiche restrukturiert werden mussten. Stammten die ersten entscheidenden Erfindungen im Zeitalter der Industrialisierung noch von mehr oder weniger gebildeten Tüftlern, so wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Industrielabor das Erfinden selbst institutionalisiert. In Deutschland steht Siemens (1847 als Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske gegründet) exemplarisch für diese Transformation. In einem halben Jahrhundert wurde aus dem Unternehmen in der...