Dialoge und die Sehnsucht nach Konsens
Wohin kann der Versuch führen, über kulturelle oder religiöse Differenzen in einen Dialog einzutreten? Sobald man die metaphorische Wendung »Dialog der Kulturen« auf Distanz bringt und genauer zu bestimmen sucht, was damit gemeint sein könnte, bietet sich zunächst eine in den Sprachwissenschaften geläufige Definition. Dort wird der Dialog als literarische Gattung, aber auch als eine Redeform aufgefasst,1 die ubiquitär im Alltag vorkommt; sie kann von anderen Redeformen: Monologen, Predigten, aber auch von Streit, Disput, Diskussion oder Konversation unterschieden werden. Seit der Antike bekannt, stellt ein Dialog mithin eine besondere Formbildung im Medium sprachlicher Kommunikation dar.
Um die Form zu erfüllen, müssen Mindestbedingungen eingehalten werden: Es müssen mindestens zwei Sprecher teilnehmen, die eine Mehrzahl von unterschiedlichen Perspektiven einbringen können, die gleichermaßen als legitim gelten. Die Eigenschaft der Dialogizität wird einer Kommunikation dann zuerkannt, wenn eine egalitär gedachte Wechselbeziehung gegeben ist, die in der Regel moralisch positiv konnotiert und mit Luhmann als ein »Sozialmodell der Wahrheitsfindung«2 charakterisiert werden kann, das auf den allseits guten Willen zur Erkenntnis, vor allem aber zur Verständigung baut.
Der Sprachwissenschaftler Peter Strohschneider weist darauf hin, dass eine Form der Kommunikation, welche auf die Kombination solcher Elemente wie Symmetrie der Sprecherpositionen, Kooperations- und Verständigungsbereitschaft, beiderseitige Verpflichtung auf Wahrheit, wechselseitige Anerkennung und den Willen zum Konsens angewiesen ist, hoch voraussetzungsvoll und damit eher unwahrscheinlich ist.3 An Habermas’ Diskursethik gemahnend, idealisiert die Bezeichnung »Dialog« im politischen Sprachgebrauch eine Form der herrschaftsfreien Kommunikation und erklärt sie zur Aufgabe. Deren Gelingen allerdings ist an unbeherrschbare Voraussetzungen gebunden und daher eher ungewiss. Zudem ist die normative Aufladung des Begriffs für die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinderlich, weil derartige Basisannahmen alle Formen des agonalen Dialogisierens ausschließen, »in denen es statt um Anerkennung des Anderen um seine Subordination oder Ausschaltung geht; nicht um seine dialogische Integration, sondern um sein Verstummen und seine Exklusion; nicht um die Emergenz von gemeinsamer Erkenntnis aus einer Komplexion vielfältiger Perspektiven heraus, sondern um das Monopol eigener Wissensansprüche a priori – und in alledem um den dialogischen Abbruch des Dialogs«.4 Dispute mit einem solchen Ergebnis sind nicht selten. Die Dialogterminologien seien, so resümiert Strohschneider, getragen von »diskursethischem Pathos«, der Ausdruck »Dialog« werde zur »Pathosformel«,5 die zur Deskription und Analyse realer Kommunikation und ihrer Fragilität nur ausnahmsweise tauge.
Handelt es sich bei der Dialogempfehlung der transnationalen Organisationen und ihrer prominenten Ratgeber also eher um eine hilflose Deklaration des guten Willens, Wunschkommunikation, eine Pathosformel eben, ein Placebo, etwas für Sonntagsreden, für Preisverleihungen – und für Kinder? Immerhin haben sich die internationalen Beziehungen im Allgemeinen und die mit der islamischen Welt im Besonderen unter der UN-»Agenda für den Dialog zwischen den Zivilisationen« seit dem 2. Irakkrieg 2003, den Morden an islamkritischen Politikern und Schriftstellern 2002 bzw. 2004 in den Niederlanden und den spektakulären Terroranschlägen auf S- und U-Bahnen in Madrid und London 2004 bzw. 2005, um nur einige Ereignisse zu nennen, nicht entspannt – im Gegenteil.
Ein eindrückliches Beispiel für eine agonal geführte Debatte in der globalen Weltöffentlichkeit lieferte der sogenannte Karikaturenstreit, der 2005 durch die Veröffentlichung einer Serie von zwölf Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten unter dem Titel »Das Gesicht Mohammeds« ausgelöst wurde. Als weitere Beispiele könnten auch der »Kopftuchstreit« angeführt werden, der in Deutschland im Fall der angehenden Lehrerin Fereshta Ludin bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen wurde, durch das Urteil von 2003 aber nicht beruhigt werden konnte; oder der »Kruzifix-Streit«, der schon 1995 zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes führte, ohne die Balance von Pluralismus und Laizismus abschließend hergestellt zu haben; oder der Streit um den »Einbürgerungstest«, der von Baden-Württemberg ausgehend nach der Verabschiedung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000 bundesweit die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte. Solche Kontroversen folgen immer dem gleichen Muster. Sie entstehen an der Schnittstelle zwischen Religion und Alltag, sobald religiös motivierte und gebotene Symbole oder Praktiken, typischerweise Kleidungsund Essvorschriften, in die Lebenswirklichkeit der Büros, Schulen oder Wohnviertel vordringen, öffentlich sichtbar Geltung beanspruchen – und zurückgedrängt werden sollen.
Unpathetische Beobachter konnten den weltöffentlich inszenierten und ausgetragenen Konflikt um die Mohammed-Karikaturen oder die verschiedenen Kopftuchdebatten als einen regen interzivilisatorischen Dialog deuten, der diesseits aller Appelle mit Hilfe der modernen Kommunikationsmedien voll in Gang gekommen war. Dass die erregt geführte Debatte nicht als Dialog wahrgenommen wurde, hängt nicht nur damit zusammen, dass zeitweise nicht mehr klar war, ob das Medium sozialer Kommunikation schon verlassen, ob noch gesprochen oder schon geschossen wurde. Dialogisches Miteinanderreden meint präskriptiv ein komplexes Sozialmodell, das diskursethisch so aufgeladen ist, dass Aggression, Drohungen, Beschimpfungen, Gewalttätigkeiten normativ ausgeschlossen sind.
Aber: so wünschenswert ein »Dialog der Kulturen« wäre, so sehr seine Unverzichtbarkeit beschworen wird, so unklar bleibt, ob und wie er zu erreichen sein könnte. Initiiert von der Politik, angereizt durch viel Geld, wird auf allen Ebenen an Strategien der Konfliktlösung gearbeitet, bevor noch eine geeignete Theorie der Konflikte und ihrer Struktur angefertigt worden wäre. Zweifel daran, ob die anvisierte Lösung »Dialog« für das fragliche Problem taugt, sind nicht gestattet. Wer angesichts der tiefliegenden Antagonismen, vor deren Bewältigung sich die inter- und transnationalen Organisationen und die nationalen Regierungen innen- und außenpolitisch gestellt sehen, dennoch skeptisch bleibt, wer an der Tauglichkeit des Konzepts des Dialogs zweifelt und darin nur eine weitere jener Phrasen sieht, die »in einer langen Reihe von politischen Absichtserklärungen [steht], deren einziges Ziel es ist, virtuelle Debatten zu erzeugen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, dafür aber politisches und kulturelles Engagement simulieren«,6 gilt als kurzsichtig und uninformiert.
Unbeeindruckt von solchen Zweifeln scheint der Umgang mit Kulturkonflikten überzeugten Befürwortern des Dialogs am Ende nur noch ein technisches Problem zu sein. Die Bundesregierung fördert mit ihren Goethe-Instituten »Dialogprogramme« in verschiedenen Weltgegenden. Eine mit der Umsetzung solcher Programme vertraute optimistische Sozialtechnologin hält unter dem Titel »Kulturdialoge in der politischen Anwendung« im neoliberalen Jargon allen Skeptikern pragmatisch knapp entgegen: »Kulturdialog ist ein Prozess: eine Abfolge sich wiederholender, miteinander verknüpfter Aktivitäten zur Erstellung von Produkten und Leistungen.«7 Damit das Produkt erstellt werden kann, brauche es »mehr Sicherheit, Systemstabilität, Aufbau von Integrationsmechanismen, Konfliktregulierung und Abbau von Denkbarrieren im Kulturkampf-Dogma zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft (auf nationaler Ebene) und zwischen verfeindeten Zivilisationen (auf internationaler Ebene)«.8 Wenn der Dialog der Prozess ist, was ist dann das »Produkt«? Das mit dem Mittel eines »Dialogs« anvisierte Produkt wird klar ausgewiesen: es ist die »politische Vergemeinschaftung«9 der Teilnehmer, die neue, alternative Muster der Problemlösung für kulturelle Konflikte begünstigen soll.
Der enthusiasmierten, mit der Operationalisierung beschäftigten Sozialtechnikerin stellt sich gar nicht erst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Dialogs der Kulturen, sie sucht nach »der politischen Anwendbarkeit von Kulturdialogen«,10 so als ob es ein technisches Instrument wäre, auf dessen kausale Wirkung man sich verlassen kann. Pragmatisch geht es nur noch um das »Wie« der Organisation des Austauschs – und um öffentliche Akzeptanz der »Produkte«. Darüber, wie der Prozess des Dialogs gestaltet werden soll, gibt es ganz konkrete Vorstellungen. Auf internationaler wie nationaler Ebene seien Kulturdialoge im Plural einzurichten. Es komme darauf an, nach geeigneten Möglichkeiten der Institutionalisierung zu suchen, »um den Kulturdialog in der...