2. PIRATEN
Am nächsten Morgen gehe ich zu früher Stunde die Via Roma entlang, die zentrale Straße des Ortes Lampedusa. Es sind kaum Menschen zu sehen. Die Geschäfte sind geschlossen, nur ein Café ist geöffnet. Auf Plastikstühlen sitzen drei Männer und plaudern. Ein vierter hält sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die wärmende Sonne. Er hat den Kragen seines Mantels hochgeschlagen. Ich gehe schnellen Schrittes vorbei, denn ich habe das Gefühl, dass ich von den Männern aus den Augenwinkeln beobachtet werde. Es ist Winter, man muss sich die Zeit totschlagen. Ein Fremder ist da gewiss eine willkommene Abwechslung.
Die Via Roma mündet in einer Terrasse, von der aus man einen Rundblick auf den Hafen hat. Das Meer ist aufgewühlt. Der Wind ist eine Heimsuchung. Die Lampedusaner, sagte mir am Morgen der Rezeptionist meines Hotels, sind es gewohnt, im Freien zu sein, aber bei diesem Wetter sei das kaum möglich. Deswegen seien sie alle unruhig und würden geplagt von Schmerzen und Beschwerden, die ihnen den Schlaf rauben und den Tag verderben.
Ich verlasse die Via Roma, um eine Rundreise um die Insel zu unternehmen. An der Steilküste im Norden der Insel parke ich den Leihwagen, nicht weit von den Klippen entfernt. Die Wellen türmen sich, schäumen und stürzen donnernd gegen die Felsen. Irgendwo da draußen, nicht weit von der Insel entfernt, muss das Schiff Alonsos, des Königs von Neapel, gesunken sein, die Planken zertrümmert von den harten Schlägen des Wassers, die Segel zerfetzt von den peitschenden Winden.
»Das Schiff bricht auseinander
Lebt wohl, meine Frau, meine Kinder!
Leb wohl, Bruder!
Es bricht, es bricht, es bricht!«
So schreien die Matrosen im Inneren des Schiffes, ohne Hoffnung auf Überleben verabschieden sie sich. Auf den Klippen der Insel steht Miranda neben ihrem Vater, dem Zauberer Prospero. Sie fleht ihn an: »Falls ihr, mein geliebter Vater, durch Eure Kunst die wilden Wasser in diesen Aufruhr versetzt habt, besänftigt sie wieder. Der Himmel, scheint es, würde stinkendes Pech niedergießen, stiege nicht die See empor zu seiner Wange und löschte so das Feuer. Oh habe ich gelitten mit denen, die ich leiden sah: ein stattliches Schiff (das ohne Zweifel edle Geschöpfe in sich barg), und in tausend Stücke zerschmettert. Oh, der Schrei drang mir bis ans Herz. Die armen Seelen, sie gingen unter!«
Dies ist eine Szene aus William Shakespeares Drama »Der Sturm«. Die Insel, auf die der Zauberer Prospero verbannt worden ist, auf der er mit seiner Tochter Miranda lebt und auf die die Schiffbrüchigen sich schließlich retten können, ist vermutlich Lampedusa. Es besteht darüber keine Gewissheit, doch einiges spricht dafür, dass Shakespeare sich diese Insel vorstellte, als er »Der Sturm«, im Original »The Tempest«, schrieb. Das verlassene, unwirtliche Lampedusa könnte Shakespeare durch Beschreibungen englischer Reisender bekannt gewesen sein. Mit Sicherheit kannte er »Orlando Furioso«, das Epos des italienischen Dichters Ludovico Ariosto, denn es hat sein Werk nachweislich beeinflusst. Ariosto veröffentlichte sein Versepos im Jahr 1516 in einer ersten Fassung, es folgten zwei weitere. Den historischen Hintergrund des Werkes bildet eine ganze Kette von Kriegen zwischen Karl dem Großen und den Sarazenen im achten Jahrhundert, die an den Küsten und Inseln des Mittelmeers ausgefochten wurden. Lampedusa ist im »Orlando Furioso« ausdrücklich als der Schauplatz benannt, auf dem sich die edlen christlichen Ritter und die Sarazenen eine letzte, entscheidende Schlacht liefern. Ariosto beschreibt Lampedusa mit folgenden Worten:
»Eine kleine Insel ohne Häuser
voll niedrig wachsender Myrte und Wacholder
in glücklicher Abgeschiedenheit
für Hirsche, Rehe, Hasen,
Außer den Fischern ist sie kaum jemandem bekannt
wo die feuchten Netze auf Bäumen
zum Trocknen hängen:
und die Fische derweil in ruhigem Meere schlafen«
Jahrhundertelang rangen Christen und Muslime um die Vorherrschaft im Mittelmeer. Ludovico Ariosto wählt die kaum bekannte Insel zwischen Tunesien und Sizilien, um die letzte Zuspitzung dieses Kampfes zu inszenieren. »Orlando Furioso«, dieses einflussreiche literarische Werk, ermöglicht dem unbewohnten Lampedusa einen ersten prominenten Auftritt in der europäischen Geschichte. Die Lage inmitten eines feindseligen, wilden Meeres, an der Nahtstelle zwischen christlichem und muslimischem Herrschaftsbereich, und ihre menschenleere Ödnis verleihen der Insel mythische Anziehungskraft. Auch Shakespeare wählte sie als Bühne, um sein Drama zu inszenieren. Sein König Alonso war auf dem Heimweg von Tunis, wo er seine Tochter mit dem dortigen Herrscher vermählt hatte. Es war eine politisch motivierte Heirat, denn es lag gewiss im Interesse Alonsos, des Königs von Neapel, gute Beziehungen nach Nordafrika zu unterhalten. Die Stadt Tunis ist für die Kontrolle des Mittelmeeres von zentraler Bedeutung. Sie liegt an der engsten Stelle zwischen Nordafrika und Europa. Es war das ideale Sprungbrett für die muslimischen Korsaren, um an den italienischen Küsten zu plündern, und Aufmarschgebiet für muslimische Eroberer, die sich mit dem Gedanken trugen, Rom einzunehmen, das Herz der Christenheit. Der arabische Heerführer Musa ibn Nusair schickte sich im Jahr 703 an, Sizilien zu erobern, was ihm nur teilweise gelang. Christen und Muslime verkeilten sich in einer Abfolge von Schlachten und Waffenstillständen, die alsbald wieder gebrochen wurden. Im Jahr 728 vernichteten die Byzantiner eine muslimische Flotte, die in Lampedusa angelegt hatte. Die gefangenen Mauren wurden allesamt hingerichtet, so wie die Mauren Christen in eroberten Städten und Orten erschlugen. Das war die damals übliche Kriegsführung. Sie schonte niemanden.
Im neunten Jahrhundert setzten die Araber erneut von Tunis aus nach Sizilien über. Wer diese Stadt beherrschte, verfügte also über eine strategisch einmalig günstige Position. Im 16. Jahrhundert zählte Tunis gemeinsam mit Algier und Tripolis zu den Hochburgen der muslimischen Korsaren, der Barbaresken. Nach der Vertreibung des letzten muslimischen Herrschers von der Iberischen Halbinsel im Jahr 1492 begannen die Spanier, den Maghreb und die nordafrikanische Küste mit militärischen Stützpunkten zu befestigen und zu kontrollieren. Doch es blieb ein halbherziger Versuch, denn im selben Jahr, in dem ein spanisches Heer den Emir von Grenada, den letzten muslimischen Herrscher Spaniens, besiegte und vertrieb, entdeckte Christoph Kolumbus Amerika. Sehr bald schon richteten sich die Energien Spaniens auf die Neue Welt. Welcher spanische Soldat wollte noch gerne Dienst in Nordafrika tun, wenn doch in den neu entdeckten Kontinenten unermessliche Schätze auf ihn warteten? Die Geschichten vom Eldorado, das es zu entdecken galt, waren so verlockend und überwältigend, dass Nordafrika für die Spanier zu einem schmutzigen Hinterhof wurde, in dem nichts zu holen war und wo sich daher auch keiner aufhalten wollte. Diese »Unachtsamkeit« öffnete ein Machtvakuum, in das die Barbaresken stießen. Was für die spanischen Eroberer Amerika war, das war für die Korsaren die nordafrikanische Küste: eine Grenzregion, in der man durch Mord und Raub schnell reich werden konnte. Perle, Tor Neptuns, Sonne, Goldner Zitronenbaum, Rose von Algier – so poetische Namen trugen ihre Schiffe.
Viele Barbaresken waren konvertierte Christen, die aus ihren Heimatländern geflohen waren, aus Not, aus Gier, aus Lust am Abenteuer. Sie tauchten mal da und mal dort auf, sie lauerten in Buchten, sie versteckten sich auf verlassenen Inseln wie Lampedusa, und sie stießen auf ihr Opfer zu wie ein plötzlich aus dem Nichts auftauchendes Ungeheuer. Sie kaperten Handelsschiffe, deren Besatzungen sie überwältigten und gefangen nahmen. Sie legten Städte und Dörfer an der Küste Italiens in Schutt und Asche und verschleppten Tausende Menschen, um sie auf dem Sklavenmarkt von Algier zu verkaufen. Ein Mann namens Hayrettin war der Brillanteste und Grausamste von allen. Zusammen mit seinem Bruder hatte er Algier zu einem gefürchteten Piratennest gemacht, mehrmals wurde er von christlichen Flotten vertrieben, doch kehrte er immer wieder zurück. Im Jahr 1519 unterstellte er sich Selim I., dem Sultan von Istanbul. Das war eine Entscheidung von großer strategischer Weitsicht. Selim I. sandte seine berüchtigten Janitscharen sowie Kanonen nach Algier. Damit war Algier nicht mehr ein Nest von Räubern, sondern eine Stadt, die eingebunden war in den Kampf zwischen den katholischen Spaniern und den muslimischen Osmanen.
Der Krieg zwischen diesen beiden Reichen entfaltete sich über ein Jahrhundert lang im Mittelmeer. Hayrettin spielte eine tragende Rolle. Den Christen war er als Barbarossa bekannt. Er beschrieb seine Wirkung auf die Feinde mit folgenden Worten: »Ich erscheine mitten in den christlichen Flotten wie die Sonne den Sternen erscheint, und wie die Sonne bringe...