EINLEITUNG
Die Schreibbewegung in Deutschland und den USA
1. Ausbildung zum Schriftsteller oder was?
In der Bundesrepublik entwickelte sich seit Anfang der 70er Jahre eine kreative Schreibbewegung. Sie ging von der provokanten These aus: „Schreiben über seine alltäglichen Erlebnisse, Wünsche und Krisen kann jeder.“ Man formulierte: „Schreiben – in unserer Gesellschaft ein arbeitsteilig organisiertes Spezialvermögen – wollen wir als eine allgemeine Fähigkeit propagieren.“ (Boehncke, H.; Humburg, J.: Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität, Beruf und Freizeit. Reinbek 1980, S. 9) Dieses freie Schreiben sollte sich „in dem Maße entfalten, in dem es eingebunden ist in selbstbestimmte Erfahrungs-, Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge und dies einhergeht mit der Aneignung der Schreibtechniken bzw. Kommunikationsmittel.“ (Boehncke, H., Humburg, J., a.a.O., S. 89 f.).
Diese Expansion des Schreibens stieß bald auf die Kritik von Schriftstellern. Sie fragten: Zielt die Schreibbewegung auf langweilige Verständigungsliteratur, will sie Hobbyschriftsteller oder Berufsschriftsteller ausbilden? Es wird nicht überraschen, dass sich die Schriftsteller von der Schreibbewegung abwandten und verbreiteten, dass sie für Hobbyautoren und schreibende Selbsttherapeuten keinen Bedarf hätten. Der Autor Hugo Dittberner formulierte: „Da entsteht Verständigungsliteratur, die viele schreiben, aber keiner mehr lesen will.“ (Dittberner, H.: Arche Nova. Aufzeichnungen als Literarische Leitform. Göttingen 1998, S. 8)
Die Schreibbewegung hat sich um die Ablehnung durch die Schriftsteller nicht gekümmert, sondern – im Zugriff auf die 100-jährige Tradition des „kreativen Schreibens“ (Creative Writing) in den USA und Lateinamerikas – Theorie, Methodik, Didaktik und Evaluation des Kreativen Schreibens für alle in Deutschland ausgebaut. Der Schreibbewegung war dabei klar, dass Kreatives Schreiben als Unterhaltung, Selbstverständigung, Selbsttherapie ebenso nützlich ist, wie zur Aneignung von Schreib-Handwerkszeug. Sie ging davon aus, dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur eine kleine Genie-Elite schreiben dürfe, sondern sie erkannte: Geschrieben wird, leider auf niedrigem Niveau, in der Schule, in der Universität, im Beruf und in der Freizeit, in der Erwachsenenbildung, in der Therapie, in der Altenarbeit, im Knast, in der Reha, auf Bildungsreisen usw., usw. Die Konsequenz war: Kreatives Schreiben als professionelles Schreiben wurde als Medium des Lernens, des Kommunizierens, der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung ebenso praktiziert, wie als Vorschule für Schriftsteller und Journalisten, aber auch für Schüler und Studenten aller Disziplinen bei der Aneignung der Wissenschaft.
Das Berufsziel des Kreativen Schreibens wurde als Autobiograph, Hobby-Autor, als Kultursozialarbeiter, Schreibcoach, Schreibpädagoge, Schreibtherapeut oder Schreiblehrer an Universitäten und Hochschulen in allen Fächern umrissen. Das Berufsziel „Schriftsteller“ bzw. hochgelobter „Bestsellerautor“ war nur eine Marginalie für die Schreibbewegung.
Allerdings ist heute im 21. Jahrhundert das „kreative Schreiben“ auch in den Schriftstellerausbildungsgängen in den Universitäten von Leipzig, Hildesheim und Berlin angekommen. In diesen Ausbildungsgängen wird behauptet: Die Literatur über kreatives Schreiben stellt in ihren Büchern nicht die Frage, was kreatives Schreiben ist. Die Literatur des kreativen Schreibens käme weitgehend ohne begriffliches oder historisches Denken aus. Man erklärt nun mit großer Emphase: „Es ist also an der Zeit, das kreative Schreiben ernst zu nehmen.“ (H.-J. Ortheil: Aristoteles und andere Ahnherren. Über Herkunft und Ursprung des Kreativen Schreibens. In: Haslinger, J.: Treichel, H.-U. (Hrsg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren. Frankfurt 2006, S. 17) Das ist ein totaler Irrtum. Das Kreative Schreiben ist längst, außerhalb der universitären Seminare in Leipzig, Berlin und Hildesheim, seit über 30 Jahren in Deutschland weit verbreitet und wissenschaftlich fundiert. Viele Schreibgruppen des Kreativen Schreibens helfen auch vielen anleitenden Schriftstellern beim Überleben, ohne die bezahlte Anleitung von kreativen Schreibgruppen gehören heute Schriftsteller zur Hartz-IV-Kultur. Sehen wir uns also die Entwicklung des kreativen Schreibens in Deutschland an.
2. Die Schreibbewegung in Deutschland seit den 80er Jahren
Die selbst organisierten Schreibwerkstätten mit literarischem Anspruch umfassten in der BRD 1988 etwa 200 Gruppen (M. Basse, E. Pfeiffer. Literaturwerkstätten und Literaturbüros in der Bundesrepublik. Lebach 1988). Ebenso viele Schreibgruppen gab es bis 1989 in der DDR, die sich am „Bitterfelder Weg“ des Schreibens für alle orientierten. Dieser Weg forderte: „Kumpel greif zur Feder!“ (Vgl. U. Steinhaussen, D. Faulseit, J. Bonk: Handbuch für schreibende Arbeiter. Berlin 1969) Die Zahl der literarischen Schreibgruppen hat sich in Gesamtdeutschland bis heute sicherlich verdoppelt.
Neben die literarischen Schreibwerkstätten treten die Kurse zum Kreativen Schreiben an den Volkshochschulen. Hier ist die rasante Entwicklung des Kreativen Schreibens ungebrochen. Eine Umfrage zeigte, dass es „heute im Durchschnitt an jeder Volkshochschule zwei Schreibwerkstätten gibt. Wenn jede Werkstatt 20 Teilnehmer hat und 1000 Volkshochschulen existieren, die im Jahr zwei Kurse anbieten, dann lernen heute jährlich 40.000 Deutsche kreatives Schreiben an deutschen Volkshochschulen.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke: Die deutsche Schreibkrise. Empirische Umfragen von 1994-2002. Hohengehren 2003, S. 76)
An den deutschen Gymnasien firmiert kreatives Schreiben als „produktiver Umgang mit Literatur“. In 5 von 16 Bundesländern ist heute kreatives Schreiben fester Bestandteil der Rahmenpläne Deutsch. Die meisten Bücher zum Kreativen Schreiben richten sich deshalb in Deutschland auch an Lehrer oder Schüler.
Ansätze zum Kreativen Schreiben in den Wissenschaften gibt es in verschiedenen Fächern der Universitäten und Fachhochschulen. Gab es 1986 an deutschen Hochschulen 37 einsemestrige Schreibseminare, so haben sich die Angebote heute auf über 100 entwickelt. (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 20) Obwohl festgestellt wurde, dass „bei einem Drittel der Studenten die Schreibfähigkeit unterstützt werden muss, kann von einem endgültigen Durchbruch des Kreativen Schreibens in allen universitären Fächern noch keine Rede sein.“ (Vgl. L. v. Werder: Kreatives Schreiben in den Wissenschaften. Berlin 2002)
Das kreative Schreiben im Beruf „wird bisher in Deutschland von Akademikern in seinem Stellenwert für den Erfolg im Beruf noch häufig verkannt.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 86) Dabei haben nach einer Umfrage „98% der Fach- und Führungskräfte der deutschen Wirtschaft Probleme mit dem beruflichen Schreiben.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O.) Sowohl an Universitäten wie im Betrieb wird das Kreative Schreiben im Gegensatz zu außeruniversitären Institutionen erst ansatzweise gefördert.
Allerdings ist sicher, dass kreatives Schreiben ein wichtiges Hobby für die Freizeit der Einzelnen ist. Da die Gesellschaft immer älter wird, wird kreatives Schreiben seine Bedeutung in Deutschland bald für ein Millionenpublikum ausbauen können. Ja, es ist sicher, dass viele Menschen in Lebenskrisen, als Autobiographen und Tagebuchschreiber, als Gelegenheitsdichter und eigene Lebensphilosophen und Selbsttherapeuten das Kreative Schreiben heute schon hunderttausendfach nutzen.
In der internationalen Szene des Kreativen Schreibens liegt Deutschland mit diesem Verbreitungsprofil bisher gegenüber den USA und England deutlich im Hintertreffen. Während es in den USA über 350 Schreibstudiengänge für die literarische, wissenschaftliche oder berufliche Schreibqualifikation gibt, lassen sich in Europa nach Barbara Glindemann nur 56 Schreibstudiengänge in England finden. (B. Glindemann: Creative Writing in England, den USA und Deutschland. Frankfurt 2001). Theoretisch tritt die Erforschung des Kreativen Schreibens in Deutschland besonders an den Universitäten Leipzig und Hildesheim auf der Stelle.
Immerhin gibt es seit 2000 die Zeitschrift „TextArt. Magazin für Kreatives Schreiben“, die Oliver Buslau viermal im Jahr erscheinen lässt. Diese Zeitschrift bietet einen sehr praxisbezogen Einblick in das Schreiben verschiedener Textsorten vom Tagebuch über das Drehbuch bis zum Krimi. Sie stellt Schriftsteller vor, die Berichte von der Arbeit am Schreibtisch liefern. Schreibwerkstätten von Schreibpädagogen werden porträtiert. Die wichtigsten Neuerscheinungen zum kreativen Schreiben werden rezensiert. Verlage werden unter die Lupe genommen, besonders Druckkostenzuschuss-Verlage. Aber auch der Einsatz des Computers beim Schreiben wird...