2. Klinisch-psychologische Bedeutung von Partnerschaft und Ehe
Um die Bedeutung der Familie verstehen zu können, muss man die Bedeutung der Partnerschaft verstanden haben, da sie die elementarste und wichtigste Kernzelle der Familie bildet und alle wesentlichen Einflussfaktoren für die kindliche Entwicklung durch die Paarkonstellation und -beziehung direkt und indirekt konstituiert werden. So sind die vier klassischen Risikofaktoren für die Entstehung kindlicher Störungen (psychische Störungen der Eltern, elterliche Sensitivität, elterliches Erziehungsverhalten, Partnerschaftsstörungen) in hohem Maße mit der Frage verbunden, wie die Partnerschaft qualitativ gelebt wird oder wie sich eine Trennung oder Scheidung auf diese Variablen (Sensitivität, Erziehung, Befinden der Eltern) auswirkt. Die Partnerschaft der Eltern ist der Dreh- und Angelpunkt des gesamten familiären Lebens, da sie nicht nur das Familienklima maßgeblich prägt, Werte, Einstellungen und Verhaltenskodizes definiert, sondern den Kindern im Sinne des Modelllernens auch den familiären und dyadischen Alltag vorlebt.
So zeigten Van Doorn, Branje, VanderValk, Goede und Meeus (2011) bei 559 Adoleszenten im Alter von rund 13 Jahren und einer zweiten Kohorte von Jugendlichen im Alter von knapp 18 Jahren, dass sich der Problemlöse- und Konfliktstil zwischen Eltern und Jugendlichen auf ihren Umgang mit Gleichaltrigen auswirkt und nicht umgekehrt. Der Umgang zwischen Eltern und Kindern wird seinerseits durch die Partnerschaftsqualität moderiert.
Merke!
Die Qualität der Paarbeziehung beeinflusst maßgeblich die Qualität der Elternbeziehung, der Eltern-Kind-Beziehung und der Geschwisterbeziehung. Die Partnerschaftsqualität konstituiert in hohem Maße das Familienklima. Wie die Eltern mit den Kindern umgehen, beeinflusst zudem deren Umgang mit den Peers.
Aber auch ohne Kinder spielt die Partnerschaft für die Lebenszufriedenheit und das Befinden der Partner eine zentrale Rolle, wie nachfolgend gezeigt wird (siehe Seite 48–51).
Stabile Partnerschaft und Ehe als Grundbedürfnis
Die hohe Scheidungsrate mit dem daraus resultierenden Pluralismus an Familienformen und veränderten Einstellungen gegenüber Ehe und Familie (vgl. Beck-Gernsheim, 1994; Peuckert, 2012; Tyrell, 1988) kontrastiert mit dem weiterhin fundamental ausgeprägt anzutreffenden Wunsch nach einer glücklichen und stabilen Partnerschaft (Bodenmann, 2003). Studien zeigen deutlich, dass sich die meisten Menschen in nahezu allen Kulturen trotz der hohen Instabilität von Beziehungen nach einer lebenslangen intimen Beziehung sehnen (Buss, 1995). Eine feste, glückliche Partnerschaft wird in den meisten Untersuchungen als einer der wichtigsten Werte genannt, die für das Lebensglück nötig sind (Bodenmann, 2003). In einer repräsentativen Studie, in der 18000 Personen aus 17 Nationen befragt wurden, gaben Verheiratete bezüglich des Glücks die höchsten Werte an, Personen in fester Partnerschaft folgten an zweiter und Singles an dritter Stelle (Stack & Eshleman, 1998).
Das Glück zu zweit ist für viele noch immer der erstrebenswerteste Lebensentwurf, und auch 2001 hielten immer noch 72% der Befragten (N = 1000) die Ehe für sinnvoll und ideal (Peuckert, 2012).
Dennoch geht es weniger um die Ehe als Beziehungsinstitution, die klinisch-psychologisch von Interesse ist, sondern um die enge Beziehung als solche, die ein elementares Bindungsbedürfnis befriedigt.
Daher ist nicht die Ehe als solche relevant, sondern die Tatsache, dass zwei Menschen in dieser oder einer anderen Beziehungsform (Konkubinat, eingetragene Partnerschaft usw.) Halt und Geborgenheit, Stabilität und Kontinuität zu finden hoffen. Die hier dargestellten Befunde beziehen sich daher auch nicht auf die klassische Ehe (obgleich US-amerikanische Studien meist solche Stichproben vorweisen, da damit objektive Kriterien in Bezug auf das Datum der Eheschließung und im Falle einer Scheidung der Auflösung der Beziehung vorliegen), sondern auf enge Beziehungen, unabhängig davon, ob diese juristisch-institutionell konstituiert sind (Ehe), eine alternative Form repräsentieren oder zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern bestehen.
Als Definitionskriterien für eine enge Partnerschaft verstehen wir eine starke interpersonale Verbundenheit (Interdependenz), welche stärker zum Partner als zu anderen für einen wichtigen Personen ist. Diese Verbundenheit kann sich in gemeinsamen Lebensentwürfen und gemeinsamen Zielen, einer gemeinsamen Haushaltführung, gemeinsamen Projekten (z.B. Kinder, Zukunftspläne) oder gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen widerspiegeln, wobei die emotionale Nähe zwischen den Partnern besonders relevant ist. Zweitens sollte sich die Partnerschaft durch eine längerfristige, zukunftsgerichtete Perspektive auszeichnen und nicht nur eine zufällige Wochenend- oder Ferienbekanntschaft oder einen kurzfristigen Flirt darstellen. Drittens sollte die Beziehung im Vergleich zu anderen Beziehungen (Freundschaften, familiären Beziehungen) einen exklusiven Charakter haben, was sich auch in sexuellen Aktivitäten (aber nicht nur) ausdrückt. Insbesondere die emotionale Nähe zwischen den Partnern spielt eine wichtige Rolle. Gleichzeitig wird bei diesen Definitionskriterien deutlich, wie stark die Realität von der Idealvorstellung abweichen kann. So finden wir im Alltag etliche Paare, welche sich als stabile Partnerschaften verstehen, auf welche diese Kriterien jedoch nicht oder nur bedingt zutreffen. Dies ist insbesondere bei entfremdeten und entleerten Partnerschaften der Fall, die zwar weiterhin Bestand haben, bei denen jedoch häufig weder eine starke emotionale Nähe noch die sexuelle Exklusivität des Partners auszumachen ist. Dennoch sind es diese Aspekte, welche Menschen in einer Zweierbeziehung suchen und die daher psychologisch relevant sind.
Beachte!
Eine feste oder intime Partnerschaft definiert sich mindestens durch folgende vier Kriterien: (a) hohe Interdependenz und emotionale Nähe (stärker als zu Freunden), (b) Langfristigkeit des Beziehungsentwurfs und der Wunsch nach Kontinuität mit diesem Menschen, (c) Exklusivität der Beziehung (der Partner ist nicht leicht austauschbar durch andere Personen) und (d) sexuelle Intimität.
Soziale Nähe zu erfahren, gehört zu den wichtigen menschlichen Grundbedürfnissen. Die meisten Menschen heiraten entsprechend, weil sie sich erhoffen, in der Ehe Glück und Erfüllung, Halt und Geborgenheit zu finden (Davies & Cummings, 1994). Eine feste Paarbeziehung ist denn auch laut Umfragen für die meisten Menschen eines der wichtigsten Ziele im Leben (Diener, Gohm, Suh & Oishi, 2000). So berichten rund 80% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Thornton & Young-DeMarco, 2001) bzw. rund 99% in einer Untersuchung von Pedersen, Miller, Putcha-Bhagavatula und Yang (2002), dass sie eine feste Partnerschaft anstreben. Eine Untersuchung des NCFMR Family Profiles (2010) zeigt zudem, dass sich die Einschätzung bezüglich der Wichtigkeit der Ehe in den vergangenen 30 Jahren praktisch nicht verändert hat und zwischen 70–80% der Befragten angeben, für sie seien eine gute Ehe und Familie extrem wichtig.
Merke!
Menschen suchen auch heute, in Zeiten hoher Instabilität von Partnerschaften, einer hoch mobilen Gesellschaft, einer zunehmenden Globalisierung und genereller Verunsicherung, nach wie vor eine lebenslange, verbindliche und tragfähige Partnerschaft. Die Partnerschaft als Hort der Geborgenheit, als Zufluchtsort und sichere Basis spielt eine zentrale Rolle. Psychologisch gesehen ist eine enge Partnerschaft eine Keimzelle psychischen Wohlbefindens.
So ist auch der Prozentsatz derer, welche die Ehe kritisch hinterfragen, in den vergangenen 30 Jahren praktisch gleich geblieben. Während 1976 30% die Ehe kritisch sahen, sind es 2008 35%. In einer Studie von Bodenmann (2003) an über 300 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (Durchschnittsalter 17 Jahre) gaben 97% an, für sie sei eine Partnerschaft am wichtigsten für die Lebenszufriedenheit (vor Gesundheit und Ausbildung/Beruf); 80% merkten zudem an, für sie stelle die Ehe eine lebenslange Beziehung dar.
Merke!
Bereits Jugendliche wünschen sich eine lebenslange feste Partnerschaft und sehen sie als Grundlage für ein glückliches und erfülltes Leben. An dieser Einschätzung hat sich in den vergangenen 30 Jahren trotz des großen gesellschaftlichen Wandels und einer hohen Scheidungsrate in westlichen Ländern nichts geändert.
Ein Hauptgrund dafür, dass die enge Partnerschaft bzw. Ehe trotz des gesellschaftlichen Wandels, liberalisierter Normen und eines Zeitgeistes der Kurzlebigkeit und des raschen Konsums weiterhin von hoher Bedeutung ist, lässt sich mit der Bindungstheorie erklären (Bowlby, 1969). Laut Grau und Bierhoff (2003) sind enge Partnerschaften mehr als andere Beziehungen (z.B. Freundesbeziehungen) dazu disponiert, die menschlichen Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Nähe und Bindung zu befriedigen. Das Bindungsbedürfnis ist gemäß der Bedürfnispyramide von Maslow (2002) elementar und folgt unmittelbar auf die physiologischen Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Pflege und das Bedürfnis nach Sicherheit. Das starke Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit wird dabei am besten im Rahmen einer stabilen Partnerschaft befriedigt, da man dort am ehesten mit längerfristiger Zuneigung, Verständnis und Unterstützung rechnen darf (Reis, Collins & Berscheid, 2000). Analog argumentieren Steverink und Lindenberg (2006) in ihrer «Theory of social production functions» (SPF), dass soziale Bedürfnisse nach Zuneigung, Anerkennung und Status am besten in einer...