2 Theoretische Grundlagen
2.1 Zur Entwicklungsgeschichte des Mentalisierungsmodells und der mentalisierungsbasierten Therapie
Die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) ist als Modifikation psychoanalytischer Psychotherapie entwickelt worden, nachdem sich Beobachtungen häuften, dass Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) entweder ihre psychoanalytische Psychotherapie gar nicht antraten, frühzeitig abbrachen oder von der Therapie nicht profitieren konnten (Gunderson et al. 1989; Stern 1945). Als Gründe wurden Enttäuschung über die Behandlung, ein Mangel an sozialer Unterstützung und Schwierigkeiten, Termine einzuhalten, angeführt. Zur Erkrankung an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört, dass Patienten am selben Tag drängend um eine Behandlung bitten, um sie kurz darauf ebenso engagiert wieder zu verwerfen. Diese – manchmal über Jahrzehnte anhaltende – Ambivalenz von BPS-Patienten gegenüber Psychotherapien aller Art konnte umfassend erst durch die Bindungsforschung verstanden werden, die als zentraler Baustein des Mentalisierungsmodells anzusehen ist: Das Behandlungsangebot oder die Behandlung selbst aktiviert das Bindungssystem, wodurch das Selbsterleben brüchig wird, weil eine sichere Bindung diesen Patienten kaum vertraut ist und als stabile Repräsentanz nicht ausreichend zur Verfügung steht. Dadurch verstärken sich in der Regel rigide Abwehrmodi, die mit einer verminderten Mentalisierungsfähigkeit einhergehen.
Das Mentalisierungsmodell fußt auf verschiedenen konzeptuellen Wurzeln, die – als »work in progress« – Einfluss auf die Theorie und psychotherapeutische Technik ausüben (Holmes 2005, 2009):
- die kognitive Psychologie und das »Theory of Mind«- (ToM-) Konzept, das zum besseren Verständnis von autistischen Störungen beigetragen hat (Baron-Cohen et al. 1985, 1994, 1995);
- die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie, insbesondere Bions (1990) allgemeine Theorie des Denkens als Antwort auf Abwesenheit, Verlust und sich wiederholende Frustration bzw. als »Bollwerk« dagegen;
- die französische psychoanalytische Psychosomatik mit ihrem Konzept des »operativen Denkens« als Fehlen von Mentalisieren; Gedanken entstehen in diesem Modell aus der Bindung von Triebenergie an bestimmte Vorstellungen. Misslingt diese Bindung, wird Triebenergie entweder durch Handlung abgeführt oder mündet in einen somatischen Prozess (Marty 1991; Lecours & Bouchard 1997);
- die Winnicottsche Idee des Übergangsraums als Bereich, in dem sich Realität und Phantasie überlappen. Das Spiel ermöglicht dem Kind eine Annäherung an die Realität wie später der Einsatz spielerischer Interventionstechniken in der Psychotherapie Erwachsener (»playing with reality«).
Die Londoner Arbeitsgruppe um Bateman und Fonagy (Fonagy et al. 2004) entwickelte mit MBT eine psychodynamische Behandlung für Borderline-Patienten im Rahmen eines tagesklinischen (Bateman & Fonagy 2004a; Bateman & Fonagy 2008 a) und später ambulanten Settings (Bateman & Fonagy 2009). Inzwischen wird MBT in niederfrequenten analytischen Psychotherapien (Schultz-Venrath 2008 a), in Kurztherapien (Allen et al. 2011), in höherfrequenten Langzeit-Psychoanalysen, in Gruppenpsychotherapien (Bolm 2009a; Schultz-Venrath 2008 b; Karterud & Bateman 2012), in kinderanalytischen Psychotherapien (Zevalkink et al. 2012), in den Tanz- und Körpertherapien (Fiedler et al. 2011) sowie in Familientherapien (Asen & Fonagy 2012) eingesetzt. Dabei betonen die Autoren in britischer Bescheidenheit, dass sie keine neue Therapie erfunden, sondern sich nur auf einen neuen Fokus konzentriert hätten. Außer bei Patienten mit BPS wird MBT inzwischen auch in der Behandlung von antisozialen Persönlichkeitsstörungen, generalisierten Angststörungen und Panikattacken, depressiven und psychosomatischen Erkrankungen, einschließlich Essstörungen und chronischen Unterbauchbeschwerden angewendet (Skarderud 2007 a, b, c; Skarderud & Fonagy 2012; Bateman & Fonagy 2008b; Fischer-Kern et al. 2008; Leithner-Dziubas et al. 2010; Rudden et al. 2008; Staun et al. 2010; Subic-Wrana et al. 2010; Taubner et al. 2011).
Die verschiedenen objektbeziehungstheoretischen Ansätze und insbesondere die jüngeren Beiträge zur Intersubjektivität sind für die Entwicklung von MBT und das ihm zugrunde liegende Mentalisierungsmodell von besonderer Bedeutung. Gleichzeitig erheben aber auch die Vertreter der behavioralen Therapien den Anspruch, dass »Bindung und Mentalisierung […] keine Begriffe bleiben« können, »die für die psychodynamischen Therapien reserviert sind« (Sulz & Milch 2012, S. 5). Die Psychoanalyse hat sich allerdings mit ihren zahlreichen Abkömmlingen gründlicher und länger als andere Psychotherapien der systematischen Erforschung menschlicher Entwicklung, speziell auch den Persönlichkeitsstörungen, gewidmet, die vor dem Mentalisierungsmodell in die von Kernberg und Mitarbeitern (2008) entwickelte übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP, Transference Focussed Psychotherapy) mündete. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Paradoxie, dass aus verschiedenen Gründen (s. u.) aktuell eine Marginalisierung der Psychoanalyse in den Human- und Naturwissenschaften zu beobachten ist, die in weiten Teilen der psychoanalytischen Gemeinschaft als Krise wahrgenommen wird.
Dabei sind die einen der Überzeugung, dass die Krise der Psychoanalyse so alt sei wie die Psychoanalyse selbst, weswegen sie unter (den meist älteren) Psychoanalytikern manchmal nur noch ein gleichgültiges Achselzucken und die Annahme auslöst, »es sei noch immer gut gegangen«. Andere, wie z. B. Amati Mehler (2012), vertreten die Ansicht, nicht die Psychoanalyse, sondern die Psychoanalytiker seien in der Krise, weil ihr Vertrauen in die Validität ihrer Praxis geschwunden sei, was auch mit Ängsten gegenüber strukturell schwer gestörten Patienten einherginge. Nicht zuletzt wird ein zentraler Mangel darin gesehen, dass die Außenwelt – und damit das Tempo der Globalisierung – nicht mehr gebührend Eingang in die psychoanalytische Theoriebildung fand (Fonagy & Target 2007). Dies habe auch Auswirkungen auf die psychotherapeutische Ausbildung und Praxis: Entweder arbeiteten Psychoanalytiker – wie übrigens auch nicht-analytisch orientierte Psychotherapeuten – heimlich anders, als es der institutionelle »Mainstream« vorgebe, oder die immer kleiner werdende Nische werde elitär als etwas ganz Besonderes idealisiert, auch wenn es dafür immer weniger Interessenten gebe. Die bisher weniger erfolgreichen Versuche der Anpassung psychoanalytischer Behandlungstechnik an wissenschaftliche, psychosoziale und kulturelle Erfordernisse bestätigen jedoch Castoriadis’ (1978, S. 78) These: »Die Analytiker mögen das Soziale ignorieren, aber das Soziale ignoriert sie nicht«.
Im Laufe der über 100-jährigen Geschichte der Psychoanalyse haben sich sehr unterschiedliche Richtungen herausgebildet, weshalb wir im Folgenden nicht von der Psychoanalyse, sondern von den Psychoanalysen sprechen. Deren Krisen sind – in den Kreisen ihrer Vertreter wie in denen ihrer Kritiker – immer wieder Gesprächsthema, mit der Folge, dass eine einheitliche Definition von Psychoanalyse und deren Abgrenzung von nicht-analytischen Psychotherapien (Blass 2010) offensichtlich schwerer zu realisieren ist als gewünscht. Unzählig sind die Impulse zur Veränderung von Theorie und Technik, die es seit der Begründung der Psychoanalyse durch Freud immer wieder gegeben hat, bis dahin, dass Freud selbst mit seinen therapeutischen Empfehlungen zur Notwendigkeit von realen Konfrontationen bei Angststörungen schon spätere Essentials der Verhaltenstherapie vorweggenommen hat.
So wenig dies in psychotherapeutischen Kreisen anerkannt wird, so wenig scheint auch eine Konvergenz der verschiedenen Psychotherapierichtungen wahrgenommen zu werden, wobei die Richtlinienverfahren nicht nur allesamt eine gute Wirksamkeit demonstriert haben, sondern auch große Überschneidungen untereinander aufweisen, so dass keine Psychotherapieform mehr in Reinkultur konzeptualisiert und schon gar nicht praktiziert wird. Da die Kriterien für eine erfolgreiche und wirksame therapeutische Beziehung noch immer wenig bekannt sind – wir wissen recht wenig darüber, »wie« Psychotherapie wirkt –, wurde schon vor über 50 Jahren vermutet, dass die Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien eher auf gemeinsame als auf differente Merkmale zurückzuführen sei (Frank 1961, S. 232). Das Gemeinsame aller Psychotherapien besteht in der Exposition gegenüber neuen oder angstfördernden Stimuli, Ideen und Gefühlen, in der Bemühung, problematische Denkstrukturen, Affekte und Verhaltensweisen zu verstehen und zu bearbeiten. Nicht zuletzt findet sich eine Gemeinsamkeit darin, dass der Patient mit einer anderen Person oder einer Gruppe von Menschen interagiert. Die meisten Psychotherapien stellen eine Sicherheit vermittelnde Umgebung bereit, in welcher der Therapeut auf eine Weise handelt, die vergangene Erwartungen über Beziehungen nicht erfüllt und neue Interaktionsmöglichkeiten anbietet (Westen 2005, S. 443). So wird unter Verhaltenstherapeuten bei weitem nicht mehr nur Verhaltenstherapie, sondern vieles aus Tiefenpsychologie und Psychoanalyse angeboten, was sich praktisch bewährt hat, und zuweilen unter dem »Label« integrativer Psychotherapie von modern aufgestellten Ausbildungsinstituten angeboten wird. Umgekehrt bedienen sich psychodynamische Psychotherapien verhaltenstherapeutischer Konzepte, etwa des Angst-Expositionstrainings in tagesklinischen und klinischen Einrichtungen. Was aber ist das Neue an der Krise der Psychoanalyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
Mit seinem Buch vom...