VON ECHTEN KINDERN UND KLEINEN ROBOTERN
Als Kind war es mein größter Wunsch gewesen, mir die Erwachsenen vom Leib zu halten. Alle. Es war auch mein einziger Wunsch gewesen, weitere Wünsche hatte ich nicht, denn wo kein Erwachsener war, ging es mir blendend. Da fühlte ich mich frei und konnte Blödsinn machen – wie es dieselben Erwachsenen nannten, wenn man als Kind seine Fantasie ins Kraut schießen ließ und einfach tat, was man sich gerade ausgedacht hatte. Genau das also erschien mir als größtes anzunehmendes Glück: ungestört mein Ding zu machen. Was hätte es darüber hinaus noch zu wünschen gegeben? Nichts. Und ich war keine Ausnahme. Meinen Altersgenossen ging es ähnlich wie mir.
So war es in den Fünfzigerjahren, so war es auch noch in den Sechzigerjahren. Natürlich hätte ich damals nicht von Freiheit gesprochen; das Wort war viel zu groß für mich. Ich wollte einfach nur, dass sie sich raushielten, die Erwachsenen, dass sie mich so oft wie möglich und so lange wie möglich in Ruhe ließen. Recht machen konnte ich es ihnen sowieso nie. Dafür fehlte mir jede Begabung, und daran ließen die Erwachsenen auch keinen Zweifel. Einmal, im vierten oder fünften Schuljahr, holte mich mein Lehrer nach vorn, stellte mich vor die Klasse und sagte an meine Mitschüler gewandt: »Wenn ihr es im Leben einmal zu nichts bringen wollt, müsst ihr so werden wie Titus.«
Titus’ erster Schultag, 1954
Immerhin, dazu taugte ich, zum abschreckenden Beispiel. Titus, der Versager. Dass ich ADHS hatte, wusste ich nicht, niemand wusste es; das heute berühmt-berüchtigte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gab es seinerzeit noch nicht, aber was es gab, war diese offenkundige Unverträglichkeit zwischen mir und den Erwachsenen. Das Verrückte war: Die Erwachsenen dachten im Prinzip nicht anders als ich. Sie fanden es genauso wünschenswert, mich los zu sein, wie ich es umgekehrt kaum erwarten konnte, aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Deshalb war ich daheim entlassen, sobald die Hausaufgaben erledigt waren, und trollte mich ins Freie. Bis zum Wald, wo mich die Kumpels erwarteten, war es von uns aus nur ein kurzes Stück, und für den Rest des Tages fühlte ich mich für die Frömmigkeit meiner Mutter, die Wutausbrüche meines Vaters und die Züchtigungen meines Lehrers vollauf entschädigt. So trug jede Seite unabsichtlich zum Wohlbefinden der anderen bei, indem man die gemeinsam verbrachte Zeit auf das Nötigste beschränkte. Ich will nicht sagen, dass die Verhältnisse optimal gewesen wären. Aber ich fand sie doch so weit ganz in Ordnung.
Mit anderen Worten: Wir waren Kinder und durften es zumindest nachmittags sein. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis mir solche Verhältnisse wieder begegneten, und zwar in einem weit entfernten Teil der Welt, im Westen Afghanistans.
2012 hatten wir, unterstützt von Rupert Neudeck, in diesem von Krieg und Terror zerrissenen Land einen Skateboardpark angelegt. Sobald er fertig war, konnte er genutzt werden, und er wurde genutzt – von unbefangenen, ausgelassenen, neugierigen, zu Faxen aufgelegten, spitzbübisch grinsenden Jungen und Mädchen mit unternehmungslustigen Augen. Von richtigen Kindern eben. Was habe ich mich unter ihnen wohlgefühlt! Es war wie in den Fünfzigerjahren bei uns im Westerwald.
Zu solchen Kindern gehören natürlich Erwachsene, die sich nicht groß um ihren Nachwuchs kümmern. Im Skaters Palace müssen wir besorgte Mütter oft aus der Halle herauskomplimentieren, damit sich ihre Kinder ungestört ins Skateboardfahren vertiefen können. Hier in Afghanistan aber dachten die Eltern gar nicht daran, mitzukommen und zuzugucken. Vermutlich sagten sie sich: »Die Kleinen werden noch früh genug mit dem Ernst des Lebens Bekanntschaft machen, aber bis dahin sollen sie ihren Willen haben; da pfuschen wir ihnen nicht in ihre Angelegenheiten rein.« Jedenfalls ließen sich weder Väter noch Mütter jemals draußen am Skateboardpark blicken, um über das Wohlergehen ihrer Sprösslinge zu wachen.
Man glaubt gar nicht, wie Kinder aufblühen, wenn sich nicht der Schatten der Erwachsenenwelt auf sie legt! Der gleichen Art von Kindern bin ich später dann auch in Palästina, in Uganda, in Südafrika, in Syrien und Namibia begegnet, überall, wo in den letzten Jahren unter skate-aid-Regie Skateboardanlagen entstanden sind. Selbstverständlich trifft man dort auf andere soziale Verhältnisse und andere Gesellschaftsordnungen als bei uns, natürlich gibt es auch dort keine paradiesische Kinderexistenz. In Afghanistan etwa spielen die Jungs mit Spielzeugwaffen, und ihre Eltern fördern das womöglich, weil gut schießen zu können in einem Land wie Afghanistan später kein Nachteil sein dürfte. Die Verhältnisse sind dort so, dass ein Kind die größte Anerkennung erfährt, wenn es mit einem Gewehr umgehen kann und auch kämpfen will, aber seltsamerweise: Nicht einmal in Afghanistan, nicht in Syrien und nicht in Palästina hören die Kinder deswegen auf, Kinder zu sein. Sie sind erfrischend offen, zutraulich, unkompliziert und begeisterungsfähig. Auch zuvorkommend übrigens. Selbst die vorwitzigsten unter ihnen erkennen an, dass jemand wie ich von weit her gekommen ist, eine lange Reise hinter sich hat und schon deshalb ihre ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Mit anderen Worten: Diese Kinder sind selbstbewusst, aber nicht selbstgefällig. Sie sind nicht cool.
Für mich ist das eine großartige Erfahrung. Ich arbeite wahnsinnig gern mit solchen Kindern, weil der Umgang mit ihnen so erfreulich ist. Wohl auch, weil sie mich an die viel gescholtenen Fünfzigerjahre erinnern, als Mütter höchstens ein halbes Auge auf ihre drei bis fünf Kinder hatten, weil sie die anderen anderthalb Augen für den Haushalt brauchten und den Laden und alles, was sonst noch zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang getan werden musste. Als es, kurz gesagt, für Kinder noch eine ganze Menge erwachsenenfreie Räume gab.
Unbeobachtet sein … Heute ist nicht mehr dran zu denken. Nicht bei uns. Nicht in Münster und nicht im Rest der Republik. Die Welt der Erwachsenen hat sich seit jener Zeit vor- und fürsorglich über die Welt der Kinder gestülpt wie einer dieser Kaffeekannenwärmer, die es früher gab. Eine schnelle Eingreiftruppe aus Eltern, Lehrern und Betreuern aller Art liegt vom Sandkasten bis zum Abitur auf der Lauer und registriert, kommentiert, korrigiert und zensiert, was so ein junger deutscher Mensch von morgens bis abends treibt. Sie alle fördern und fordern. Engagieren sich und setzen sich ein. Sorgen sich und kümmern sich. Und dabei nimmt die Zahl der kleinen, gut geölten Roboter immer weiter zu. Auch die Zahl der kleinen, schlecht geölten Roboter.
Es war in den Achtzigerjahren, noch zu meiner Zeit als Lehrer, als mir die ersten Anzeichen für einen mentalen Klimawandel auffielen. Damals tauchten in der Schülerschaft die ersten Apostel einer spießigen Korrektheit auf. Ich werde nie vergessen, wie ich als Pausenaufsicht mit meinem Jo-Jo auf dem Schulhof stand, in farbenfrohen Surf-Shorts, mit Skatebordsocken an den Beinen, und eine Zwölfjährige sich vor mir aufbaute, zu mir hochschaute und den Kopf schüttelte. »So läuft man doch als Lehrer nicht herum!«, sagte sie, warf mir im Umdrehen schnell noch einen missbilligenden Blick zu und verschwand.
Ich war gewarnt. Aber auf Kinder, die im selben Netz wie die Erwachsenen zappeln, war ich nicht vorbereitet. Mittlerweile sind wir so weit. Ich habe ja ständig mit Kindern und Jugendlichen zu tun, ich kann es einigermaßen beurteilen, und meine Erfahrung ist: Immer häufiger glaubt man, kleine Erwachsene vor sich zu haben – mit fünf moralischen Zeigefingern an jeder Hand.
Die meisten Kinder heute wissen sehr genau, was gut und was ganz, ganz böse ist, was sich gehört und was voll abartig ist. Ein Erwachsener, der auch nur leicht aus dem Rahmen fällt, muss inzwischen jedenfalls damit rechnen, von ihnen belehrt oder sogar gemaßregelt zu werden. Der bekommt womöglich zu hören, dass er sich gegen die heiligsten Wahrheiten des Umweltschutzes oder des Tierschutzes oder der Gesundheitsvorsorge versündigt, sich also unverantwortlich, ja unverzeihlich verhält. Wird der Rasen im Sommer gesprengt, heißt es: »Man darf aber kein Wasser verschwenden!«, und im Restaurant faucht die kleine Veganerin vom Nachbartisch »Mörder!«, wenn man eine Scholle Finkenwerder Art bestellt.
Aus diesen Kids sind kleine Missionare geworden, rundum indoktriniert und auf das gepolt, was ihre erwachsenen Mitmenschen für gut und richtig und fürchterlich wichtig halten – neunmalgescheit, neunmalkorrekt, neunmalperfekt, als würde die ganze Welt gegen die Wand fahren, wenn sich nicht jeder ihrer einstudierten Vernünftigkeit anschließt. Jugendlicher Übermut, kindliche Naivität? Fehlanzeige. Diese Kinder sind auf die gerade gängigen Ideale ihrer Erzieher programmiert.
Mir mit meiner Westerwälder Vergangenheit, mit meiner Erfahrung mit jungen Leuten außerhalb Europas fällt dieser Verlust an...