2 Welche Autismusmerkmale, Stärken und Schwächen müssen beim Umgang mit Verhaltensproblemen berücksichtigt werden?
2.1 Was sind zentrale Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen?
Nach der neuen Klassifikation durch das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (5. Auflage, American Psychiatric Association [APA], 2013) sind Autismus-Spektrum-Störungen durch Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie eingeschränkte und wiederholende Verhaltensweisen, Interessen und Tätigkeiten gekennzeichnet.
2.1.1 Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion
Ein zentrales Merkmal von ASS sind Auffälligkeiten in der Kommunikation und im Sozialverhalten. Beide Bereiche lassen sich kaum voneinander trennen, was bereits am ersten Blickkontakt von Kindern, ihrer Mimik und Gestik deutlich wird. Kinder mit ASS zeigen meist sehr früh mangelnden oder ungewöhnlichen Blickkontakt, so dass sie das soziale Geschehen um sie herum meist weniger mitbekommen als neurotypische Personen. Oft haben sie keinen Dreiecksblick (»joint attention«), zeigen nicht und kommunizieren weder über Mimik noch Gestik. Speziell junge Kinder mit ASS oder Kinder und Jugendliche mit starken Einschränkungen reagieren darüber hinaus zunächst oft nicht auf Lob, subtile Mimik des Gegenübers oder komplexe Erklärungen. Zum Teil suchen sie Aufmerksamkeit durch negatives Verhalten, auch, da sie komplexe Erklärungen, Benimmregeln, das sog. »Hidden Curriculum« (»Verstecktes Curriculum«, Smith Myles et al, 2004) oder soziale Hierarchien nicht verstehen.
Etwa 25% der Personen mit ASS entwickeln keine verbale Sprache, wobei Gründe u. a. in einer intellektuellen Behinderung, mangelnder Nachahmungsfähigkeit, unzureichendem Sprachverständnis oder fehlender Motivation zu kommunizieren gesucht werden können. Etwa 50% haben keine funktionale Sprache (Wendt, 2017). Einige Kinder und Jugendliche lernen, sich durch visuelle Systeme wie Handzeichen, Bilder oder Kommunikationsgeräte zu verständigen (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, 2007; Bondy & Frost, 2001).
Bei sprechenden Kindern treten oft sprachliche Stereotypien auf, wie z. B Wiederholungen von Lauten, Geräuschen oder Phrasen, was für Familien und Klassenkameraden recht anstrengend sein kann. Einige Kinder wiederholen zunächst gern das Gehörte (sog. »Echolalie«) und müssen mühselig lernen, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Auch ein eingeschränktes Repertoire an sprachlichen Funktionen ist häufig. So müssen beschreibende, berichtende, fragende oder reziproke Äußerungen meist gezielt geübt werden. (vgl. Bernard-Opitz, 2014b).
Auch bei Kindern und Jugendlichen mit weniger Unterstützungsbedarf sind Probleme mit kommunikativer Kompetenz oft der Grund für Verhaltens- oder emotionale Probleme (Prutting & Kirchner, 1987). Stigmatisierung und Mobbing sowie Ausgrenzung können die Folge sein. So fällt es vielen schwer, nicht ausdauernd über ihr Lieblingsthema zu monologisieren. Einige Betroffene können Themen nicht dem Gesprächsverlauf anpassen und sind nicht in der Lage, Sprecher- und Hörerrolle flexibel zu wechseln. Darüber hinaus ist es oft nicht leicht, die eigene Mimik, Gestik und Körperhaltung an das Gespräch und den Gesprächspartner anzupassen. Selbst Lautstärke, Intonation der Stimme und Flüssigkeit der Sprache werden in einigen Fällen von Gleichaltrigen als seltsam beurteilt (Koegel, 1994). Daher sollten obige Probleme als zugrundeliegende Merkmale von Verhaltensproblemen berücksichtigt werden und beim Aufbau von angemessenem Verhalten eine zentrale Rolle einnehmen.
Beachte!
Verhaltensprobleme und emotionale Schwierigkeiten sind oft bedingt durch Schwierigkeiten im Verstehen und in der Kommunikation.
Vielen Betroffenen mangelt es darüber hinaus an einem Interesse an anderen, so dass sie sich von Sozialkontakten zurückziehen und keine Freundschaften entwickeln. Manche wünschen sich Freunde oder Partner, aber es fällt ihnen schwer, mit anderen angemessen zu spielen, Gespräche zu beginnen, auf den Partner einzugehen und im Umgang mit anderen einfühlsam und flexibel zu sein. Die Unfähigkeit, sich in den anderen hineinzudenken, ist auch bei Personen mit »high functioning autism« oft eine zentrale Schwierigkeit (sog. »Theorie des Denkens«). Meist gelingt es ohne gezielte Programme nicht, die Perspektive des anderen einzunehmen. So können sie schlecht oder gar nicht erkennen, dass der andere nicht das sieht, wünscht, weiß oder glaubt, was sie sehen, wünschen, wissen oder glauben.
• Fabi steht im Kindergarten immer an »seinem Platz« in der ersten Reihe, wenn die Erzieherin eine Geschichte vorliest. Die hinter ihm sitzenden Kinder schubsen ihn häufig zur Seite, da er ihre Sicht auf das Bilderbuch verdeckt. Das versteht Fabi allerdings nicht und knufft zurück oder reagiert mit Schreien.
• Der 12-jährige Detlev sprintet durch den Supermarkt und bemerkt nicht, dass sein Verhalten andere Kunden beunruhigt, die ihn dann der Kassiererin als möglichen Ladendieb melden.
• Wenn Benno junge Paare auf dem Schulhof sieht, drängt er sich regelmäßig mit der Äußerung auf, dass er ein »Liebesmeister« sei, der ihnen helfen kann. Dass sein Verhalten irritiert, realisiert er allerdings nicht.
Benno erkennt nicht, dass er die Pärchen stört und dass sein Verhalten auf Gleichaltrige »uncool« wirkt. Wie ihm mangelt es vielen Betroffenen an der Fähigkeit, sensibel auf Situationen und Gefühle einzugehen, Rücksicht zu nehmen, diplomatisch vorzugehen und sich für etwaige »Fauxpas« zu schämen oder diese bei zukünftigen Kontakten zu vermeiden. Wie wir alle wissen, ist das allerdings auch für viele »Neurotypische« nicht immer einfach!
Beachte!
Unzureichendes Eindenken in andere, soziale Unbeholfenheit und Mangel an Freundschaft mit Gleichaltrigen führen oft zu drastischer Kommunikation und aufmerksamkeitsbedingten Verhaltensproblemen.
In jedem Fall muss die Einschränkung in Kommunikation und Sozialverhalten bei der Behandlung von Verhaltensproblemen und dem Aufbau von angemessenen Alternativen berücksichtigt werden.
2.1.2 Eingeschränkte und wiederholende Verhaltensweisen, Interessen und Tätigkeiten
Für die Diagnose wichtig sind darüber hinaus eingeschränkte und sich wiederholende Verhaltensweisen, Interessen und Tätigkeiten. Zu ersterem gehören Nahrungseinschränkungen, wie einseitige Bevorzugung von weicher Nahrung oder Beschränkung auf Nahrungsmittel einer bestimmten Farbe.
Daneben können stereotype Bewegungen mit dem eigenen Körper oder Objekten. Schaukelbewegungen, Finger- und Handstereotypien, Dreh- und Wedel-Bewegungen beobachtet werden. Einige Betroffene reihen Gegenstände auf und reagieren bei jeglichem Versuch, die Ordnung zu verändern, mit heftigen Wutausbrüchen. Andere bestehen auf Ritualen, z. B. dem Berühren aller Schaukeln oder fixierten, ungewöhnlichen Vorlieben und Interessen. Diese können skurril sein, wie die Faszination des Rohrverlaufs von Spülbecken oder das abendliche Ritual eines Schwertsammlers seine Sammelobjekte blank zu putzen. Etwa 75% der Betroffenen mit High Functioning Autismus (HFA) haben aber weniger ungewöhnliche Sonderinteressen, die beim Aufbau von Fähigkeiten genutzt werden können (Klin et al, 2007, Winter-Messier, 2007; ausführlicher Kap. 2.3.1).
Viele Betroffene bestehen auf festgefahrenen Routinen und zeigen erhebliche Verhaltensprobleme bei kleinen Änderungen. Auch Übergänge von einer Situation zur nächsten sind oft sehr stress-besetzt.
• Marvin weint schon, bevor er aus dem Hause geht und weigert sich vehement mit dem neuen Busfahrer zur Schule zu fahren.
• Gleichbleibende Routinen sind für die Geschwister von Fabian schwer erträglich, z. B. wenn er bei Ausflügen durch Protestgeschrei »diktiert«, wohin und welchen Weg man fahren muss und sein Zwang, Filme wiederholt an den Anfang zurückzuspielen.
Änderungen und Neues sind für...