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Wo waren sie am 8. Mai?
Wo sind die Hauptfiguren der deutschen Nachkriegsliteratur, als sie beginnt? Wo sind die deutschen Schriftsteller im Mai 1945? Wo sind die Alten? Die, die im Exil waren, und die Dagebliebenen? Wo sind die Jungen? Die Neuen, die noch gar nicht Schriftsteller sind, die noch gar nicht wissen, dass sie einst bedeutende Bücher schreiben werden? Wo sind sie in der Stunde Null? – Schreiben sie? Kämpfen sie? Warten sie?
Günter Grass kämpft. Er ist siebzehn Jahre alt und glaubt an den Endsieg. Um ihn herum sterben die letzten Kameraden. Grass zweifelt keine Sekunde an der Berechtigung des Krieges. Und als die Amerikaner ihm zusammen mit anderen deutschen Kriegsgefangenen das Konzentrationslager in Dachau zeigen, sagt einer der Mitgefangenen, ein Maurer, das sei alles frisch gebaut und in der letzten Woche erst fertig geworden – klingt plausibel. Grass jedenfalls glaubt nicht an diese KZ-Sache.
Auch die sechzehnjährige Christa Wolf ist bis zum Schluss überzeugt, dass die deutsche Sache noch nicht verloren ist. Und als sie am Ende ihrer Flucht von Landsberg nach Schwerin auf einen entlassenen KZ-Häftling trifft, fragt sie ihn, wie er denn da hineingekommen sei. Er sagt: »Ich bin Kommunist.« Und sie: »Aber deshalb allein kam man ja nicht ins KZ.«
Walter Kempowski, der später jede schriftliche Spur der Nazizeit besessen sammeln und in großen Büchern zusammenstellen wird, haben die Jungs von der HJ wegen Renitenz schon früh den Kopf rasiert. Im Januar wird er zu einer Kuriereinheit einberufen, doch als er im April noch von der SS rekrutiert werden soll, gelingt es ihm, das abzuwenden. Am Ende des Krieges wird er fast von einem russischen Soldaten erschossen, weil er in einer Rostocker Mineralwasserfabrik keinen Schnaps für ihn finden kann.
Der kleinste Widerstandskämpfer heißt Peter Rühmkorf. Er ist fünfzehn, als der Krieg zu Ende geht, schreibt in seiner Schülerzeitung anonyme Gedichte gegen den nazitreuen Direktor, ist Mitglied einer Kinderuntergrundorganisation, der »Stibierbande«, stiehlt SA-Bestände, was das Zeug hält, und als die Engländer nach Hamburg kommen, hängt er ein weißes Begrüßungsbetttuch aus dem Fenster. Da die Befreier den kleinen Rühmkorf aber nicht auf ihrer Widerstandsliste haben, betrachtet er auch die neuen Machthaber bald mit misstrauischem Blick.
Alfred Andersch, einer der wichtigsten Schriftsteller der ersten Nachkriegsjahre, sitzt seit seiner Desertion im Juni 1944 in einem Kriegsgefangenenlager am Mississippi mit Wasserschildkröten und Pelikanen unter Bäumen und redigiert die Literaturseiten der deutschen Kriegsgefangenen-Zeitschrift Der Ruf, aus deren Redaktion später in Deutschland die Gruppe 47 hervorgehen wird.
Erst mal jedoch wird er unter Erich Kästner für die gerade gegründete Neue Zeitung in Deutschland arbeiten, auch wenn Kästner schon früh feststellen muss, dass sein junger Redakteur parallel an seinem eigenen Projekt arbeitet. Kästner selbst, der während der Nazizeit in Deutschland geblieben war, dessen Bücher verboten waren, der aber Filmdrehbücher schrieb, ist zur Zeit des Kriegsendes zusammen mit sechzig Filmschaffenden im Zillertal unterwegs. Angeblich um zu drehen, doch da jeder wusste, dass es mit dem Krieg und mit diesem Deutschland nicht mehr lange gehen würde, hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Film in die Kamera einzulegen.
Auch der große Schweiger der Nachkriegsliteratur, Wolfgang Koeppen, war beim Film – weit weniger widerständig, als er das später glauben machen wollte. Er war NSDAP-Mitglied, und die letzten Kriegsmonate verbrachte er im Klubhaus eines schönen Hotels in Feldafing, wohin sich die Münchner Boheme zurückgezogen hatte. »Genießen wir den Krieg. Der Frieden wird fürchterlich«, war das Motto. Kurz nach Kriegsende kommt Klaus Mann vorbei, um Koeppen als Redakteur für eine neue Zeitung zu gewinnen. Die beiden verpassen sich.
Und Klaus Mann stürmt als Soldat der US Army atemlos durch das besiegte Europa. Keiner der Emigranten hat so entschlossen wie er gegen das Naziregime gekämpft. Jetzt stürmt er als Kriegsberichterstatter voran und voran. Interviewt den Kriegsgefangenen Hermann Göring und den einst bewunderten Komponisten Richard Strauss, besucht am Tag des Kriegsendes das zerstörte Elternhaus in München, in dem in den letzten Jahren anscheinend ein Lebensborn-Programm betrieben wurde, und sucht gute, einsichtige Deutsche für das Jetzt. Die Zeit danach. Kein deutscher Schriftsteller verbindet mit dem Ende des Krieges so große Hoffnungen. Niemand wird so bitter enttäuscht werden vom Nachkriegsland, von der Nachkriegswelt.
Das kann seinem Vater nicht passieren. Er, der fast Siebzigjährige, den Klaus so mühsam dazu hatte bringen müssen, mit dem offiziellen Deutschland zu brechen, sitzt im sonnigen Kalifornien und schreibt in sein Tagebuch: »Es sind rund eine Million Deutsche, die ausgemerzt werden müssten.« Seine Rede über die deutschen KZ wird am 8. Mai 1945 im amerikanischen Radio ausgestrahlt und zwei Tage später in deutschen Zeitungen gedruckt. Einen Tag nach Kriegsende schreibt er nach einem kleinen Champagner-Empfang bei den Werfels in sein Tagebuch: »Plan, einen kleinen Privatstrand zu kaufen zum Arbeiten und Ruhen im Sommer.« Und am 2. Juni heißt es unnachahmlich thomasmannesk: »Nachrichten über die bevorstehende gefährliche Hungersnot in Deutschland. Old fashioned Cocktail, benommen. Dinner, mäßig wie immer mit Erika und Eugene. Musik und Plauderei, Bier.« Niemand wird später, wenn in Deutschland öffentlich von den »Logenplätzen der Emigration« gesprochen wird, so beleidigt reagieren wie Thomas Mann.
Auch der um zwei Jahre jüngere Hermann Hesse hat in Montagnola in der Schweiz eher Luxussorgen. Der Sommer ist zu heiß und trocken dort oben im Tessin, das Schicksal seiner Verwandten, die aus Estland fliehen müssen, drückt ihn. Im Mai 1945 kommt ein befreundeter Maler nach Montagnola, um den alten Dichter in zahlreichen Sitzungen zu porträtieren. Hesse hat weit größeres Mitgefühl mit den so genannten »inneren Emigranten«. Diese Leidgeprüften, so Hesse, seien besonders exponiert gewesen, da sie, anders als die Polen und Russen, ja sogar die Juden, als Individuen und in aller Stille in die Enge getrieben wurden und keine »Gemeinsamkeit, Schicksalsgenossen, ein Volk oder eine Zugehörigkeit gehabt hatten«.
Eine eigenwillige Ansicht des buddhistischen Weisen aus der Schweiz, die aber etwa ein Gottfried Benn sicher ganz gern gehört hätte. Der große deutsche Dichter, der die Nazis 1933 euphorisch begrüßt und die Emigranten mit Spott überzogen hatte, bereitete im Stillen schon lange seine Position für die Zeit nach dem Krieg vor. Die Meinung der Emigranten solle im Nachkriegsdeutschland jedenfalls gar nicht zählen: »Es ist so belanglos, ob sie kommen, was sie denken, wie sie urteilen.«
Doch niemandem ist es so gleichgültig wie dem Soldaten Ernst Jünger. Der zieht sich, nachdem ihn ein amerikanischer GI nach der Kapitulation in seiner Scheune in Kirchhorst mit einem Revolver bedroht hat, beleidigt in seine Bibliothek zurück und liest die Bibel. In seinem Tagebuch lässt er die Naziherrschaft Revue passieren, und man muss sagen, dass niemand so früh und so eindrücklich die Banalität des Bösen beschrieben hat wie der Autor der Stahlgewitter (1920). Seine Notate über die »penetrante Bürgerlichkeit« Heinrich Himmlers und den Schrecken des geschäftsmäßigen, freundlichen Terrors gehören zum Besten, was in diesen Tagen geschrieben wird: »… der Fortschritt der Abstraktion. Hinter dem nächstbesten Schalter kann unser Henker auftauchen. Heut stellt er uns einen eingeschriebenen Brief und morgen das Todesurteil zu. Heut locht er uns die Fahrkarte und morgen den Hinterkopf. Beides vollzieht er mit derselben Pedanterie, dem gleichen Pflichtgefühl.« Für die nächsten Jahre hat Ernst Jünger Publikationsverbot in Deutschland.
»Was während der Kriegsjahre das Leben eines Juden war, brauche ich nicht zu erwähnen«, schreibt der jüdische Dichter, der sich jetzt Paul Celan nennt, knapp und lakonisch vier Jahre später. Von 1941 bis 1944 hat Celan, der damals noch Antschel hieß, in einem rumänischen Zwangsarbeiter-Bataillon Dienst tun müssen. Seine Eltern waren 1942 im Lager Michailowka östlich des Bug ermordet worden. Freunde Celans, die gemeinsam mit ihren Eltern dorthin deportiert worden waren, kehrten auch mit ihren Eltern zurück. Celan hat sich der Deportation entzogen. Ein Leben lang macht er sich Vorwürfe, dass er seine Eltern nicht begleitet hat, dass er sie nicht vor dem Tod bewahrt hat. Im Frühjahr 1945 verlässt er seine Heimatstadt Czernowitz und flieht nach Bukarest, wo er als Lektor und Übersetzer arbeitet. In dieser Zeit schreibt er die Todesfuge, das Gedicht, das die Schrecken der Zeit in Sprache fasst wie kein zweites.
Die Sirenen der Zeitung heulen dreimal in Santo Domingo. Das bedeutet: internationale Nachrichten von großer Wichtigkeit. Hilde Domins Radio ist kaputt, deshalb läuft sie auf die Straße, zum nächsten Telefon, um zu erfahren, was geschehen ist. Ein zerlumpter Dominikaner am Straßenrand sagt zu ihr: »Wunderbare Nachrichten, Señora. Wunderbar! Der Krieg ist aus. Frieden!« Hilde Domin ist fünfunddreißig Jahre alt. Zusammen mit ihrem Mann hat es sie in dieses Paradies-Exil verschlagen. Der Dominikaner, der ihr die Nachricht des Kriegsendes überbringt, will augenblicklich, zusammen mit seinem Boss, einem französischen Kinobetreiber, nach Paris fahren. Hilde Domin erinnert sich später: »Das war sie also, die lang...