Kapitel 1: Jeito
Mach dir jeden Morgen noch mal klar, dass wir im Job nur Monopoly für Erwachsene spielen. Egal, was wir hier machen oder nicht machen – die Welt dreht sich weiter. Deshalb sollten wir uns bei aller Ernsthaftigkeit selbst nicht zu wichtig nehmen.
Gänsehaut kriecht über meinen Rücken. Ich stehe auf dem Fünf-Meter-Brett. Allein. Alle anderen sind schon gesprungen. Tief unter mir, merkwürdig perspektivisch verkürzt, brüllt der Lehrer vom Beckenrand zu mir hoch. Wie immer im blauen Trainingsanzug mit drei Streifen an der Seite und mit der Trillerpfeife um den Hals. Der kennt keine Gnade. Genauso wie im Französischunterricht – da führt dieser Lehrer gerne der gesamten Klasse die Tonbandaufnahmen der schlechteren Schüler aus dem Sprachlabor vor, als abschreckendes Beispiel. Die eine Hälfte der Klasse lacht sich dann schlapp, die andere ist erleichtert, dass heute mal ein anderer lächerlich gemacht wird. Und einer versinkt vor Scham in den Boden.
Zurück zum Sprungturm. Allein der Aufstieg hat mich schon fertig gemacht. Ich bin 12 Jahre alt, kein Weichei, aber mit der Höhe hab ich es nicht so. Vor Kälte bibbernd starre ich in die Tiefe. Ich kann bis auf die Fliesen auf dem Grund sehen, gute zehn Meter unter mir. »Jetzt spring endlich!« Das Geschrei des Lehrers hallt von den gekachelten Wänden des Hallenbads wider. Dazu das mitleidlose Grinsen der Mitschüler, das Kopfschütteln. Einigen ist schon langweilig geworden, sie schauen nicht mal mehr hoch. Ich weiß genau: Nur ein kleiner Schritt, dann habe ich es hinter mir. Aber ich kann nicht. Besiegt steige ich die Leiter wieder hinunter.
Ich habe schon ewig nicht mehr an diese Geschichte gedacht. Erst jetzt, wo ich an diesem Buch arbeite und eine Situation beschreiben will, in der ich mich machtlos und ausgeliefert fühlte, fällt sie mir wieder ein. Dabei war dieser Moment gefühlt einer der schlimmsten in meinem Leben. Die Sechs für die »Leistungsverweigerung« im Schwimmen hat mir nicht so viel ausgemacht. Aber die Scham. Und dass ich geheult habe, als ich mittags nach Hause kam und meine Mutter ahnungslos fragte, wie es in der Schule war.
Es war furchtbar für mich, in den Tagen nach diesem Desaster zur Schule zu gehen. Da waren die Blicke der anderen, aus denen ich nur Häme herauslas. Das geht nie vorbei, das muss ich jetzt bis an mein Lebensende aushalten, war mein Gefühl …
… und dann habe ich die Geschichte vergessen. Alle anderen um mich herum auch. Wahrscheinlich hat es keine Woche gedauert, bis Gras über die Sache gewachsen war. Dass ich gekniffen hatte, war nicht mehr wichtig.
Ich denke, jeder hat solche Geschichten in seiner Kindheit erlebt. Erst aus der Distanz heraus wird klar: Na, so ein Drama war es dann doch nicht. Die miese Note im Zeugnis, die kaputte Fensterscheibe, das entlaufene Kaninchen – alles Stürme im Wasserglas und Schnee von gestern. Man hat Erfahrungen gemacht, Fehler wieder ausgebügelt, neue Wege beschritten … die Welt hat sich weiter gedreht.
Gehe in das Gefängnis, begib dich direkt dorthin …
Damals brauchte ich ungefähr eine Woche, bis ich denken konnte: »Ich bin nicht vom Fünfer gesprungen – na und?« Ich hätte mir ein paar sehr unangenehme Tage sparen können, wenn ich von vornherein hätte gelassener sein können. Dann hätte ich noch in der Schwimmhalle zusammen mit meinen Kumpels gelacht. Doch zu dieser Leichtigkeit war ich zu jener Zeit nicht fähig. Gelassenheit hat schließlich etwas mit Distanz zu tun. Mir fehlte der nötige Abstand, um das Geschehene objektiv einordnen zu können und in meinen Gedanken auf ein vernünftiges Maß zu bringen. Ich war in der Situation gefangen. Dabei hatte ich noch Glück – irgendwie ging es ja ganz von allein vorbei.
Als Erwachsener muss ich mich nicht mehr auf das Glück verlassen. Denn ich habe gelernt, gelassen zu bleiben und mich nicht von Lebenslagen, in denen ich mich früher hilflos gefühlt hätte, überwältigen zu lassen. Ich weiß, dass viele Menschen, so wie ich damals, als ich durch die Schulflure schlich, in ihren großen und kleinen Katastrophen feststecken. Sie fühlen sich dem, was sie bedrückt und belastet, ausgeliefert, sehen keine Alternativen und hangeln sich von Tag zu Tag, ohne Aussicht, dass sich die Dinge von allein regeln werden.
Vor allem im Job ist das so: Eigentlich mögen sie ihre Arbeit, aber die beschwingten, leichten Momente sind viel zu selten. Die Tage, an denen sie sich gestresst, ausgelaugt, vielleicht sogar überfordert und überlastet fühlen, werden immer mehr. Zu Hause können sie nur schwer abschalten, weil sie dauernd daran denken müssen, was alles noch auf ihrem Schreibtisch liegt. Obwohl sie ganz schön ackern, scheint der Arbeitsstapel nie kleiner zu werden. Das Gefühl hinterherzuhinken, machtlos und ausgeliefert zu sein, lässt sie angespannt und gereizt werden – das ist das genaue Gegenteil von Gelassenheit. Noch schlimmer wird es, wenn einer davon überzeugt ist, er wäre unersetzlich und seine Arbeit unverzichtbar. Denn mit der Einstellung »Ich muss das schaffen, sonst geht hier alles den Bach runter« kommt er nie auf den Boden zurück und sorgt zum Beispiel für regelmäßige Entspannungspausen. Geht nicht. Er ist wie getrieben auf dem Monopoly-Spielfeld unterwegs und glaubt, sein Leben hinge davon ab, nicht auf die Schlossallee zu geraten.
Und genau das ist das Problem: Wenn du bis über die Ohren in der Situation – in diesem Fall: der Arbeit – steckst, nimmst du die Relevanz der Dinge nur noch verzerrt wahr. Du findest keine Lösung, weil das Gefühl des überwältigenden Drucks dich blind dafür macht, was sinnvoll und angemessen ist.
Ein einfaches Beispiel: Jemand hat die Aufgabe, die Weihnachtskarten seiner Firma zu verschicken. Am Nachmittag hat er angefangen, die vorgedruckten Briefkarten mit persönlichen Widmungen zu versehen und einzutüten. Um sechs Uhr gesteht er sich ein, dass er sich mit dem Zeitaufwand verschätzt hat – von den 85 Adressen auf seiner Liste hat er gerade mal die Hälfte abgearbeitet. Um Sieben hockt er immer noch im Büro. Mit verkrampfter Schreibhand und vorgeschobenem Kinn wünscht er den Lieferanten und Kunden seiner Firma »Frohe Weihnachten und erholsame Feiertage«. Er merkt gar nicht, wie bescheuert das ist. Er ist nur auf eines fokussiert: »Ich muss fertig werden.« Jedenfalls glaubt er das. »Wieder fünf geschafft. Noch 30. Oh Gott! Um halb neun bin ich zum Essen verabredet. Das schaffe ich niemals rechtzeitig! Ich werde anrufen und absagen.«
Eigentlich eine ganz lächerliche Szene, mancher wird vielleicht sagen: »Könnte mir nicht passieren.« Aber ist das wirklich so? Die Absurdität geht einem ja leider oft erst im Nachhinein auf. Wenn die Arbeit an dir zieht und zerrt und du das Gefühl hast, dass alles über dir zusammenbricht, dann ist etwas Wichtiges verlorengegangen: Gelassenheit. Ohne sie verlierst du den Überblick und vergisst, dass der Job zwar wichtig ist, aber andere Dinge eben auch. Deine Familie zum Beispiel. Deine Gesundheit. Deine Freunde.
Mit der Nase am Van Gogh
So wie meine Geschichte mit dem Sprungturm zeigt, werden die Relationen ganz automatisch mit der Zeit zurechtgerückt. Wie lange wird der unglückliche Kartenschreiber wohl brauchen, bis er an den Abend im Büro zurückdenkt und sich sagen kann: »Na, sooo wichtig war das damals mit der Weihnachtspost nicht, die hätte ich genauso gut am nächsten Vormittag fertig machen können.«
Diese Gelassenheit käme natürlich zu spät. Den Abend hat er bereits vermasselt; seine Freunde waren sauer, weil er sie wieder einmal versetzt hat, und seine schlechte Laune hat die Familie abbekommen. Er hat die falsche Entscheidung getroffen, weil er gar nicht mehr in der Lage war, sich daran zu erinnern, dass es auch eine Alternative gab: einfach nach Hause gehen, Zeit mit den Freunden verbringen, mit der Arbeit am nächsten Tag zur Not eine Stunde früher als sonst weitermachen.
Hier ist die gute Nachricht: Nicht nur die zeitliche Distanz lässt einen gelassen werden, auch die innere Distanz schafft das. Du musst nicht warten, bis die Zeit dich klüger macht! Mit ein wenig Abstand von dir selbst kannst du hier und jetzt aus der Ich-muss-da-durch-es-geht-nicht-anders-Senke, dem Das-ist-nun-mal-so-und-es-wird-auch-niemals-anders-werden-Loch oder gar dem Hilfe-Hilfe-warum-hilft-mir-denn-keiner-Abgrund herauskommen.
Was machst du also, wenn du wieder einmal um halb neun noch im Büro sitzt? Du trittst sozusagen aus dir heraus, beobachtest dich von außen und fragst dich: »Was tue ich eigentlich gerade? Worum geht es hier? Ist es das, was ich wirklich will?« Es ist nur ein ganz kleiner Stopp in der Alltagshetze, aber er wirkt Wunder: Du gehst zu dir und zu dem, was du gerade tust, auf Distanz und bekommst so eine realistischere Einschätzung dessen, was wichtig ist. Wenn du nicht gerade Herzchirurg bist und in dieser Minute am offenen Herzen operierst, wirst du wahrscheinlich erkennen: Es geht nicht um Leben oder Tod. Mit ein wenig Abstand ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Es ist wie im Museum – da stelle ich mich doch auch nicht mit der Nase ein paar Zentimeter entfernt vor ein Kunstwerk. Um es als Ganzes zu sehen und würdigen zu können, muss ich schon ein paar Schritte zurückgehen. Sich zu distanzieren hat nichts mit Gefühlskälte zu tun, sondern damit, dass ich den Überblick behalte und entspannt und weniger angstgetrieben gute Entscheidungen treffen kann.
Erst mit diesem inneren Abstand schrumpfen Anforderungen und Probleme, die übergroß scheinen,...