1. KAPITEL
Liebe. Ein Paradigmenwechsel
Ich glaube an die unwiderstehliche Kraft der Liebe.
Ich verstehe sie nicht. Doch ich glaube, sie ist die am besten duftende Blüte in diesem dornigen Dasein.
Theodore Dreiser
Meine Erinnerungen sind voller Geräusche und Bilder von Liebe: Der Schmerz in der Stimme meiner Großmutter, wenn sie von ihrem Mann sprach, der schon fast fünfzig Jahre tot war. Als Bahnwärter hatte er ihr, dem Dienstmädchen, den Hof gemacht. Sieben Jahre lang, jeweils an dem einen Sonntag, den sie jeden Monat frei hatte. Er starb nach achtzehn Jahren Ehe am Weihnachtstag an einer Lungenentzündung. Damals war er fünfundvierzig und sie vierzig Jahre alt. Meine aufgebrachte Mutter, wie sie durch die Küche auf meinen Vater zustürmt, einen ehemaligen Marine-Ingenieur. Er steht groß und stark im Türrahmen und verschlingt sie mit seinen Augen. Doch dann bemerkt sie mich, bleibt abrupt stehen und rennt aus dem Zimmer. Sie verließ ihn nach drei Jahrzehnten, in denen Türen knallten und Fäuste drohend geschüttelt wurden. Ich war damals zehn.
»Warum streiten sie dauernd?«, fragte ich meine Granny.
»Weil sie sich lieben, Süße«, sagte sie. »Und wenn man ihnen so dabei zusieht, dann ist sonnenklar, dass keiner von uns weiß, was zum Teufel das bedeutet.«
Ich erinnere mich noch daran, wie ich mir damals schwor: »Also, dann lasse ich von diesem Liebeszeug die Finger.« Das tat ich dann aber doch nicht.
Dafür sagte ich zu meiner ersten großen Liebe: »Ich weigere mich, dieses alberne Spiel mitzuspielen. Das ist ja, als würde man von einer Klippe stürzen.« Nur Monate nach der Hochzeit fragte ich mich heulend: »Warum liebe ich diesen Mann nicht mehr? Ich kann nicht einmal genau benennen, was fehlt.« Ein anderer Mann lächelte mich nur stumm an, daraufhin lehnte ich mich ebenso schweigend zurück und ließ mich in die Schlucht fallen. Und da fehlte nichts.
Jahre später sitze ich da und sehe zu, wie das letzte Eis auf unserem See an einem Morgen Anfang April endlich schmilzt. Dabei höre ich meinen Mann und die Kinder durch den Wald hinter mir laufen. Sie lachen und plaudern, und ich empfinde einen Moment lang tiefstes Glück. Die Art von Glück, die mir bis heute absolut genügt, um mein Herz für ein ganzes Leben zu füllen.
Wut und Drama, Hochgefühl und Befriedigung. Weshalb? Wozu?
Liebe kann auf tausenderlei Arten beginnen – mit einem flüchtigen Blick, mit Anstarren, mit einem Flüstern, einem Lächeln, einem Kompliment oder auch einer Beleidigung. Sie mag dann zu Streicheleien und Küssen oder zu Stirnrunzeln und Streit führen. Sie endet mit Schweigen und Trauer, Frust und Zorn, Tränen, und manchmal sogar mit Erleichterung und Gelächter. Sie kann nur Tage oder Stunden andauern oder auch Jahre und selbst den Tod überdauern. Sie ist etwas, wonach wir suchen, oder etwas, das uns findet. Sie kann unsere Rettung oder unser Ruin sein. Ihre Gegenwart beschwingt uns, ihr Verlust oder ihre Abwesenheit lässt uns verzweifeln.
Wir hungern nach Liebe, ersehnen sie, fühlen uns zu ihr hingetrieben, aber wirklich verstanden haben wir sie noch nicht. Wir haben ihr einen Namen gegeben, ihre Macht anerkannt, ihre Herrlichkeit und ihren Schmerz benannt. Trotzdem stehen wir noch vor so vielen Rätseln: Was bedeutet es eigentlich, zu lieben, eine Liebesbeziehung einzugehen? Warum streben wir nach Liebe? Was lässt die Liebe enden? Was sorgt dafür, dass sie andauert? Macht Liebe überhaupt irgendeinen Sinn?
Im Laufe der Jahrhunderte erwies die Liebe sich als Mysterium, das sich allen entzog – den Philosophen wie den Moralisten, Schriftstellern und Wissenschaftlern und natürlich den Liebenden selbst. Die Griechen unterschieden vier verschiedene Arten der Liebe, aber deren Definitionen überschneiden sich, was natürlich wieder für Verwirrung sorgt. Eros bezeichnete die leidenschaftliche Liebe, die sexuelle Anziehung und körperliches Verlangen einschließen kann, aber nicht muss. Heutzutage sind wir anscheinend noch genauso unschlüssig. So lautete beispielsweise die häufigste »Was ist …«-Suchanfrage bei Google in Kanada im Jahr 2012: »Was ist Liebe?« Aaron Brindle, ein Sprecher von Google, meinte dazu: »Das verrät uns nicht nur einiges über das beliebteste Thema des Jahres (…), sondern auch einiges über das Menschsein.« Eine Website mit der Adresse canyoudefinelove.com sucht nach Definitionen und Erfahrungen von Leuten aus aller Welt. Wenn man durch die Antworten scrollt, muss man den Erfindern der Seite recht geben: »Es gibt so viele einzigartige Definitionen, wie es Menschen auf der Welt gibt.«
Wissenschaftler versuchen, sich der Sache etwas genauer anzunähern. Der Psychologe Robert Sternberg von der Oklahoma State University beschreibt Liebe beispielsweise als einen Mix aus drei Komponenten: Nähe, Leidenschaft und Verbindlichkeit. Das stimmt, löst aber das Rätsel noch nicht. Evolutionsbiologen erklären die Liebe inzwischen als Reproduktionsstrategie der Natur. In dem großen abstrakten Plan unseres Seins ergibt das durchaus Sinn. Aber um das Wesen der Liebe in unserem Alltag zu verstehen, ist es nutzlos. Die beliebteste Definition lautet vermutlich, dass die Liebe … ein Mysterium ist! Für diejenigen unter uns – und das sind wahrscheinlich fast alle –, die versuchen, sie zu finden oder zu heilen oder zu bewahren, ist diese Definition eine Katastrophe. Denn sie nimmt uns jegliche Hoffnung.
Aber spielt es überhaupt eine Rolle, ob wir die Liebe begreifen?
Hätte man diese Frage vor gerade mal dreißig, vierzig Jahren gestellt, dann hätten die meisten Menschen wohl geantwortet: »Nicht wirklich.« Trotz ihrer Macht galt Liebe damals nicht als wesentlich für das tägliche Leben. Man betrachtete sie als davon losgelöst, als Zerstreuung, Luxus und oft genug auch als Gefahr (man denke nur an Romeo und Julia oder Abaelard und Heloïse). Was zählte, war das Lebensnotwendige. Das eigene Leben hing von der Familie und der größeren Gemeinschaft ab. Sie sorgten für Nahrung, Unterkunft und Schutz. Die früheste Vorstellung von Ehe war, dass man das eigene Leben mit dem eines anderen verbindet, und zwar ausschließlich aus praktischen, nicht aus emotionalen Gründen: um ein besseres Schicksal, mehr Macht und Reichtum zu erlangen, auch um Nachkommen zu produzieren, die Titel und Besitz erben, um Kinder zu haben, die bei der Arbeit, etwa auf einem Bauernhof, helfen und einen im Alter versorgen.
Und selbst als das Leben für eine wachsende Zahl von Menschen leichter wurde, blieb die Ehe noch eine ziemlich rationale Übereinkunft. 1838, also schon mitten in der Industriellen Revolution, schrieb der Naturforscher Charles Darwin Listen mit Argumenten für und wider die Ehe, bevor er schließlich seiner Cousine Emma Wedgwood einen Antrag machte. Unter den Vorteilen notierte er: »Kinder … beständige Gesellschaft, (Freundschaft im hohen Alter) … geliebt und umsorgt werden … jedenfalls besser als ein Hund … ein hübsch weiches Eheweib auf einem Sofa, dazu ein schönes Kaminfeuer & Bücher & Musik … Diese Dinge, die der eigenen Gesundheit zuträglich sind.« Als Gegenargumente schrieb er auf: »Vielleicht Gezänk – Zeitverschwendung – Am Abend nicht lesen können … Sorge & Verantwortung – weniger Geld für Bücher etc. … Ich werde niemals Französisch lernen – oder den Kontinent besuchen – oder nach Amerika reisen oder eine Ballonfahrt unternehmen oder eine einsame Reise nach Wales – armer Sklave.«
Emmas Liste liegt uns nicht vor, aber der Hauptgrund, aus dem die meisten Frauen damals heirateten, war finanzielle Sicherheit. Da ihnen der Zugang zu höherer Bildung und dem Berufsleben verwehrt war, drohte Frauen, die unverheiratet blieben, ein Los in Armut; für viele änderte sich daran bis ins 20. Jahrhundert hinein nichts. Aber selbst als Frauen bessere Bildungschancen hatten und in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, spielte Liebe bei der Partnerwahl noch keine allzu große Rolle. Als in einer Umfrage von 1939 Frauen achtzehn Eigenschaften eines künftigen Gatten oder einer Beziehung nennen sollten, rangierte Liebe an fünfter Stelle. Und selbst in den Fünfzigerjahren schaffte Liebe es nicht auf den ersten Platz. Das erinnert mich an meine Tante, die mir, nachdem sie erfahren hatte, dass »es einen Mann in meinem Leben gab«, riet: »Achte bloß darauf, dass er einen Anzug hat, Liebes.« Das hieß im Klartext: Sieh zu, dass er einen anständigen Job hat.
In den Siebzigerjahren begann Liebe in Umfragen dazu, was amerikanische Frauen und Männer sich von einem Partner, einer Partnerin erwarten, an die Spitze zu rücken. Und seit den Neunzigerjahren mit einer riesigen Zahl von Frauen im Berufsleben hat sich die Ehe von einem ökonomischen zu einem »emotionalen Vorhaben« gewandelt, wie der Soziologe Anthony Giddens es nennt. Bei einer Umfrage in den USA gaben 2001 80 Prozent der Frauen in den Zwanzigern an, es sei ihnen wichtiger, einen Mann zu haben, der über seine Gefühle sprechen kann, als einen, der gut verdient. Heute geben Frauen wie Männer üblicherweise an, aus Liebe zu heiraten. Diese Tendenz lässt sich auch weltweit beobachten; wo immer die Menschen nicht finanziellen oder anderen Zwängen unterliegen, wählen sie ihren Partner aus Liebe. Damit sind erstmals in der Geschichte der Menschheit Zuneigung und emotionale Bindung die alleinige Basis für Partnerwahl und Verbindlichkeit gegenüber einem Partner. Diese Gefühle sind nun die primäre Basis für den wichtigsten Baustein jeglicher Gesellschaft: die Familie.
Eine Liebesbeziehung ist nicht nur die intimste Form einer erwachsenen Beziehung, sondern oft auch die...