1. Verbundenheit und Unverbundenheit
Wenn sich bei dem Menschen, den wir uns unter all denen, die infrage gekommen wären, ausgesucht haben, um ihn zum Mittelpunkt unserer Welt zu machen, irgendwann eine unheimlich anmutende Ähnlichkeit zu einem Menschen zeigt, der uns einst großgezogen hat, ist das kein Zufall. In der Paarbeziehung reproduzieren wir Interaktionsmuster, die durch die – guten oder schwierigen – Beziehungen zu den primären Bezugspersonen unserer Kindheit vorgegeben sind. Sobald diese Grundmuster einmal in unser Gehirn eingeschrieben sind, haben wir unser ganzes Leben lang die Tendenz, sie in jeder späteren engen Beziehung wiederzubeleben. Wie oft haben wir schon mitbekommen, dass sich jemand scheiden lässt, nur um eine Person zu heiraten, die dem verlassenen Partner sehr ähnlich ist?
Die gute Nachricht ist, dass Partner, deren frühkindliche Bindungsbeziehungen problematisch waren, durch ihr Engagement Wunden der Vergangenheit schließen und das Paarsystem so umgestalten können, dass sie sich darin sicher und geborgen fühlen. Neuere Erkenntnisse der Bindungsforschung und der affektiven Neurowissenschaft zeigen, wie Beziehungsmuster sowohl die Gehirne der einzelnen Partner als auch ihr gemeinsames Nervensystem (s. a. Abschnitt 8.3) modifizieren und umgekehrt auch fortwährend von diesen verändert werden. Das aus dieser Sichtweise abgeleitete Transformationsmodell nutzt die Dynamik der Paarbeziehung, um die Bindung der Partner aneinander zu festigen und positive Veränderungen in Gang zu setzen.
Wir alle sind psychobiologisch darauf programmiert, uns an einen anderen Menschen zu binden. In ihrer positivsten Form ist die Bindung an einen Menschen ein sicherer Hafen, eine Zuflucht vor den kleinen und großen Stürmen draußen in der Welt. In der Kindheit führt das Bedürfnis nach Bindung zum Aufbau der primären engen Beziehung zwischen Baby und Pflegeperson. Im Erwachsenenalter erleben wir es am intensivsten in einer Paarbeziehung (Dicks, 1967; Shaver et al., 2000).
Aus der Beziehung zu unserem primären Gegenüber ziehen wir die Energie, die wir brauchen, um uns der Welt da draußen mit ihren fremden Menschen und fremden Dingen stellen zu können. Wir sind darauf angewiesen, dass dieser Mensch uns wieder Leben einhaucht, wenn wir gekränkt oder erschöpft sind oder angesichts der Geschehnisse um uns herum verzagen. Wenn wir uns zusammen mit ihm auf unbekanntes Terrain begeben, halten wir uns an den Händen und geben einander Rückhalt. Wie gut wir uns behaupten und wie wohl wir uns fühlen, hängt direkt davon ab, wie gut wir diese primäre Beziehung zu gestalten wissen. Christopher Lasch hat die „Vorstellung von der Familie als einem Ort der Geborgenheit in einer herzlosen Welt“ aus historischer Sicht untersucht (1977, S. 3; dt. 1981, S. 24).
In einer primären Bindungsbeziehung zwischen Erwachsenen hat jeder der Partner eine Art „Amt“ inne, das der Position entspricht, die einst der frühesten Pflegeperson des anderen zukam, und übt Selbstobjekt-Funktionen im Sinne Kohuts (1971) aus (bei denen wir vom anderen als Teil des eigenen Selbst wahrgenommen werden). Diese Aufgabe aktiviert bestimmte neurale Netzwerke im Gehirn, die sich in den ersten Jahren nach der Geburt entwickeln und dabei von unseren frühen Bindungsbeziehungen geprägt werden.
Die neurowissenschaftliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte (z. B. Schore, 2000, 2001c; Siegel, 1999, 2010a, 2010b; Trevarthen, 2001) hat bestätigt, dass in unseren prägenden ersten Jahren Bindungs-, Trennungs- und Verlusterfahrungen Beziehungsmuster entstehen lassen, die dann unser ganzes Leben lang weiterwirken und sich dementsprechend in der strukturellen und funktionellen Entwicklung des Gehirns, des gesamten Nervensystems und des neuroendokrinen Systems niederschlagen (mehr zu diesem Thema in Teil III). Die betreffenden Verschaltungen führen dazu, dass bestimmte Bahnen neuraler Netzwerke in besonderem Maße beansprucht werden und auf Auslösereize ansprechen, die uns unterschwellig an Kindheitserfahrungen erinnern – an unsere einstigen Verletzungen, Triumphe und Sehnsüchte.
In der Intimität der Paarbeziehung werden dieselben Bedürfnisse, Sehnsüchte, Enttäuschungen und Schutzmechanismen lebendig, die in den primären Bindungsbeziehungen des Säuglings- und Kindesalters bestimmend waren. Deshalb hat im Erwachsenenalter der primäre Bindungspartner eine einzigartige Macht, den anderen zu verletzen oder zu heilen und ihn in seinen Möglichkeiten zu schwächen oder zu fördern. Sobald wir sozusagen aufgehört haben, uns beim anderen um die Rolle seines primären Partners zu bewerben, und zum Schluss gekommen sind, dass der andere ein „hinreichend guter“ Partner für uns ist (s. Winnicott, 1993; dt. 1994, S. 136), befinden wir uns beide in einer optimalen Ausgangslage, um uns der frühkindlichen Verletzungen des anderen anzunehmen. Wir haben in dieser Position mehr Einflussmöglichkeiten als alle anderen Menschen – Therapeuten eingeschlossen.
Als psychodynamisch orientierte Paartherapeutin hatte ich im Lauf der Jahre des Öfteren Gelegenheit, frisch verliebte Paare vor ihrer Heirat zu beraten. Ich habe auch mit Paaren gearbeitet, die seit vielen Jahren verheiratet waren und über Enttäuschungen und Vertrauensbrüche klagten, mit Paaren, bei denen Resignation und das Gefühl des Ungeliebtseins im Vordergrund standen, sowie mit Paaren, bei denen die Partner mit allen Mitteln zu versuchen schienen, einander zugrunde zu richten. Mich treibt seit Langem die Frage um: Wie werden aus zwei Menschen, die im Gefühl des Verschmolzenseins schwelgen und begeistert sind, dass sie zueinander gefunden haben, zwei Menschen, die von rasender Wut aufeinander erfüllt sind?
Das verliebte Gehirn beschert uns ein wundervolles Empfinden der Zeitlosigkeit und Euphorie, das mit wenig Reflexion, aber hoher emotionaler Intensität verbunden ist. Dabei werden unzählige neurale Netzwerke aktiviert, und die Gehirnzentren, die für Emotionen, Sexualität und das Identitätserleben zuständig sind, werden gestärkt und organisieren sich neu (Bartels & Zeki, 2000; Fisher, 2004). Das Verliebtsein sendet Salven der Neurotransmitter Dopamin und Norepinephrin durchs Gehirn und aktiviert das Belohnungssystem in ähnlicher Weise wie bei einer Sucht (Fisher, 2004). Frischverliebte führen endlose Gespräche, suchen ständig Körperkontakt zueinander (was bei den Menschen um sie herum oft Unbehagen auslöst), geben einander Kosenamen – und sind felsenfest davon überzeugt, dass dieser Zustand niemals aufhören wird. Wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben, sind aber ihre späteren Konflikte im Keim schon vorhanden. Beiden ist ihre Lebensgeschichte ins Gehirn eingeschrieben. Die betreffenden neuralen Netzwerke warten nur darauf, durch Anklänge an frühe Bindungsenttäuschungen aktiviert zu werden.
Die folgende Fallgeschichte von Richard und Christine zeigt ein Paar, das im Verlauf von drei Jahren sowohl die liebevolle als auch die kriegerische Seite einer Paarbeziehung durchlebte. Die theoretischen Überlegungen zu diesem Fall und das praktische Vorgehen führen beispielhaft eine psychodynamisch orientierte Form der Therapie vor, die neuere Erkenntnisse der interpersonellen Neurobiologie einbezieht. Der integrative Ansatz, der hier die Themen der achtsamen Bewusstheit und der wechselseitigen Abstimmung der Partner aufeinander in den Vordergrund rückt, schlägt eine Brücke zu Tatkins psychobiologischem Ansatz, der dann in späteren Fallbeispielen vorgestellt wird, in denen der Akzent eher auf Problemen der wechselseitigen Regulation und auf Interventionen im Sinne des therapeutischen Enactment liegt.
Richard und Christine fragten bei mir (M. S.) wegen einer Beratung zur Ehevorbereitung an. Beide sahen im anderen den perfekten Partner, den Lohn einer lebenslangen Suche nach einer sicheren Bindung an einen Menschen, auf den Verlass ist. Als wir uns dann zweieinhalb Jahre später noch einmal trafen, hielten beide den anderen für „das Problem“. Den anderen ändern zu wollen bringt eine Beziehung aber nicht ins Lot. Sobald die Partner eine innige Verbundenheit aufgebaut haben, beginnen sie alten Bindungsmustern zu folgen und reagieren dabei auf fest einprogrammierte Erwartungen an eine primäre Bezugsperson, die sich einst in der Kindheit bei ihnen eingespielt haben.
Die Aufgabe der Paartherapie besteht darin,
- beiden Partnern verstehen zu helfen, warum sie ein Verhalten an den Tag legen, das offenbar zu Problemen führt, und mit ihnen zu klären, wie das Geschehen im Hier und Jetzt durch eine Wiederbelebung der Vergangenheit entsteht, sowie
- die Partner dabei zu unterstützen, mittels der Haltung der „Mindsight“ die Emotionen des anderen aufmerksam zu registrieren und sich auf sie abzustimmen, und sie auf diese Weise dazu anzuspornen, neue Wege zu erkunden, wie sie Angst und Schmerz wahrnehmen lernen und sodann lindern können (Siegel, 2010a).
Wenn wir in der Paartherapie auf diese Weise vorgehen, kann sie nicht nur in der Gegenwart eine heilende Wirkung entfalten, sondern trägt auch dazu bei, hinderliche Überzeugungen aus der Vergangenheit umzustrukturieren und im Gehirn neue neuronale Verbindungen aufzubauen.
Christine und Richard
Christine und Richard betreten händchenhaltend das Behandlungszimmer und steuern geradewegs auf das Zweiersofa (engl. love seat) zu, ohne wie viele andere Paare erst zu fragen, wo sie sich hinsetzen sollen. Ihre Verliebtheit ist daran, wie ihre Körper wortlos miteinander kommunizieren, deutlich zu erkennen. Sie wollen, auf Richards Initiative hin, bei mir drei Sitzungen im Abstand von je einer Woche machen. Wie er berichtet, haben Freunde ihnen vorgeschlagen, zur...