Einleitung
Seit Anbeginn der Menschheit überschattet die Angst unser Leben. Die Geschwindigkeit aber, mit der sich unsere Umwelt gegenwärtig verändert, und die Art der Ängste, die dadurch in uns ausgelöst werden, überfordern die biologischen Verarbeitungssysteme, mit denen uns die Natur ausgestattet hat. Wir erleben heute kulturelle Brüche und kulturelle Verschmelzungen, wie die Geschichte sie nie zuvor gesehen hat. Die moderne Technologie lässt unsere Welt kleiner werden und verändert sie, doch die Fortschritte, die es uns ermöglichen sollten, alle erdenklichen körperlichen physischen Herausforderungen zu meistern, brachten ihrerseits kaum berechenbare Bedrohungen mit sich. Dazu zählt auch das eigene Unvermögen, die filigranen und hochfunktionalen Systeme anzuerkennen und zu schützen, die es uns ermöglichen, Gefahren zu erkennen und angemessen zu reagieren.
Ganz gleich, ob die Menschen in unserem Land aufwachen, arbeiten, ihre Kinder versorgen, Auto fahren, spielen, essen und sich schlafen legen: Die Zwillingskinder der Furcht – Angst und Aggression – führen die Herrschaft über ihr Gehirn und über ihren Körper. Angst und Aggression sind unser gemeinsames tägliches Bad: zu Hause, auf der Straße, am Arbeitsplatz. Das Ergebnis? Die Anzahl der Suchtkranken und der Menschen mit Angststörungen, mit Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und posttraumatischem Stress schnellen in die Höhe. Die mittlerweile epidemischen Dimensionen von Diabetes, Adipositas, kardiovaskulärer Herzkrankheit und entzündlichen Vorgängen wie Gelenkarthritis signalisieren, dass unsere Systeme aus dem Gleichgewicht geraten sind.
Nicht nur Ärzte und Traumatologen, sondern auch Soziologen verweisen auf Parallelen zwischen der zunehmenden Häufigkeit individueller und gesellschaftlicher Traumatisierungen und impulsiven, häufig irrationalen Entscheidungen einschließlich des Überkonsums. In einem 2010 im New York Times Magazine veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „Dysregulation Nation“ untersucht Judith Warner die fehlende systemische Steuerung als einen Vorboten der gewaltigen Katastrophen, die uns in den vergangenen Jahren heimsuchten. Warner erklärt, dass die Ölkatastrophe, die sich im April 2010 im Golf von Mexiko ereignete, lediglich das jüngste Beispiel für die Dysfunktion zentraler Regulationssysteme darstellt. Sie analysiert die Bankenkrise von 2008, den Zusammenbruch des Immobilienmarktes sowie das Brechen der Dämme in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina und wirft Licht auf die Ähnlichkeiten zwischen der Fehlsteuerung großer Systeme und der nur rudimentär entwickelten Selbstregulation von Individuen, die sich unter anderem in Form von „Begehren, Emotion, Impuls und Habgier“ äußert. Die fehlende individuelle Selbstregulation könnte sich, so Warners Vermutung, durchaus als die charakteristische soziale Pathologie unserer Zeit erweisen: „Zeichen dafür, dass mit unseren inneren Kontroll- und Beherrschungsmechanismen etwas nicht stimmt, lassen sich allerorten beobachten.“1
Doch nichts gibt diese Dysfunktion klarer zu erkennen als unser Gesundheitsstatus. Werfen wir zusammen mit den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) einen Blick auf die Gesundheit amerikanischer Bürger:
- In keiner Industrienation ist die Lebenserwartung niedriger als in den USA. Vierzig andere Länder einschließlich Japan und der meisten europäischen Staaten sind uns voraus.2
- Fast die Hälfte aller Amerikaner leidet unter Bluthochdruck, hohem Cholesterin oder Diabetes. Viele haben mehrere dieser Erkrankungen gleichzeitig: Einer von acht Amerikanern hat mindestens zwei und einer von 33 alle drei Krankheiten.3
- Knapp ein Drittel der amerikanischen Bürger hat einen zu hohen Blutdruck.4
- Herzerkrankungen oder Schlaganfälle sind für ein Drittel aller Todesfälle in den USA verantwortlich.5
- Mehr als ein Drittel der amerikanischen Erwachsenen ist adipös. 68 Prozent der Erwachsenen und ein Drittel der Kinder und Teenager in diesem Land sind übergewichtig.6
- Zwischen 1980 und 2009 hat sich die Anzahl diabeteskranker Amerikaner mehr als vervierfacht; betroffen sind mittlerweile knapp 10 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung.7
- 26 Prozent der Erwachsenen über 18 Jahren leiden unter einer psychischen Störung.8
- 18 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen über 18 Jahren leiden unter einer Angststörung.9
- Beinahe jeder zehnte amerikanische Erwachsene (19,4 Millionen) erfüllt die Kriterien einer Suchterkrankung; sie sind entweder alkohol- oder drogenabhängig oder beides.10 Einer von fünf US-Amerikanern hat einen Partner/eine Partnerin oder einen Verwandten (Geschwister oder Kind), der irgendwann in seinem Leben alkohol- oder drogenabhängig war.11
Lasset die Kindlein zu mir kommen
Amerikanischen Kindern steht das Menetekel an der Wand geschrieben:
- Hinsichtlich Säuglingssterblichkeit und Lebensdauer nehmen die USA unter den sieben größten Industrienationen der Welt den letzten Platz ein.12
- Das Wohlergehen amerikanischer Kinder nimmt Platz 20 von insgesamt 21 reichen Demokratien ein, noch hinter Polen, Griechenland und Ungarn.13
- Eines von drei Kindern, die vor fünf Jahren in den USA zur Welt kamen, wird im Laufe seines Lebens an Diabetes erkranken.14
- Die Anzahl der an den Folgen von Kindesmissbrauch gestorbenen Kinder ist in den USA wesentlich höher als in den sieben größten Industrienationen: dreimal höher als in Kanada und elfmal höher als in Italien.15
- Täglich sterben in den USA fast fünf Kinder an Missbrauchsfolgen. Drei von vier Kindern sind unter vier Jahren alt; fast 90 Prozent der Täter sind die leiblichen Eltern.16
- US-amerikanische Kinder sind die neue Zielgruppe der Pharmaindustrie. Ein Viertel der bei Medco versicherten Kinder wurde im vergangenen Jahr wegen einer chronischen Erkrankung wie Asthma, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Adipositas, hohem Cholesterin, Sodbrennen und Diabetes medikamentös behandelt. Dies entspricht einer Steigerung der Medikamentenkosten um 10,8 Prozent und mithin dem Dreifachen des Betrages, der für die medikamentöse Versorgung von Senioren veranschlagt wird.17
- 2005 kamen 15,5 Prozent der Neugeborenen mit einem niedrigen Geburtsgewicht und/oder zu früh auf die Welt.18
- Knapp über 20 Prozent der Kinder (eines von fünf) leiden oder litten unter einer gravierenden psychischen Störung. Bei 13 Prozent der Acht- bis Fünfzehnjährigen wurde innerhalb des vergangenen Jahres eine psychische Störung diagnostiziert.19
- Schätzungsweise 26 Prozent aller Kinder in den Vereinigten Staaten sind vor Vollendung des vierten Lebensjahres direkt oder indirekt einem traumatischen Erlebnis ausgesetzt.20
- Eines von einhundert Babys wird mit einem fötalen Alkoholsyndrom geboren, der häufigsten bekannten Ursache von Störungen der geistigen Entwicklung und Lernbehinderungen in der westlichen Welt. Vom fötalen Alkoholsyndrom sind mehr Kinder betroffen als von Autismus, Down-Syndrom, zerebraler Lähmung, zystischer Fibrose, Spina bifida und plötzlichem Kindstod (SIDS) zusammen.21
- 4,7 Millionen US-amerikanische Kinder (10 Prozent der Jungen und 8 Prozent der Mädchen) sind lernbehindert.22
Sich krank fürchten ist die Geschichte der Zusammenhänge zwischen Angst und Krankheit. Diese Geschichte wird heute nicht mehr in das Hoheitsgebiet der Metaphysik verwiesen, sondern naturwissenschaftlich untersucht. Weltweit zeigen medizinische Wissenschaftler, wie es dazu kommt, dass unsere Erfahrungen – vor allem wenn sie chronischer Natur sind, uns in den ersten Lebensjahren zustoßen und unerkannt bleiben – unsere Biologie beeinträchtigen können. Sie entdecken in diesem Buch, wie unsere frühen Emotionen die Organisation des zentralen Nervensystems sowie des Hormon- und Immunsystems prägen, und Sie lernen die physischen Mechanismen kennen, die Kinder für die Auswirkungen von Angst und Trauma besonders anfällig machen. Weil die jüngsten Kinder noch keine positiven Erfahrungen gegen diese destruktiven Kräfte aufbieten können, hat die frühe chronische Angst für sie unter Umständen lebenslange gesundheitliche Folgen. Sie erfahren, wie die frühe Angst mit Entgleisungen der HPA-Achse zusammenhängt: Angst aktiviert den Vagusnerv und katalysiert epigenetische Mechanismen, die die Expression genetisch angelegter Krankheiten unterstützen. Sie werden entdecken, dass diese Zusammenhänge individuellen Einflüssen unterliegen, die auf dem Verhältnis zwischen Schutz- und Risikofaktoren beruhen, und dass sie insbesondere durch zuverlässige, intensive emotionale Beziehungen in den ersten Lebensjahren positiv beeinflusst werden. Wir zeigen Ihnen überdies Möglichkeiten auf, das emotionale Trauma, das Sie selbst erlitten haben oder jemand, den Sie lieben, zu heilen.
Wir stellen Ihnen die aktuellen Studien und Untersuchungen nacheinander vor, so wie wir selbst sie entdeckt haben, damit Sie die Einzelaspekte in der gleichen Reihenfolge wie wir zusammenfügen können. Den Anfang macht eine bahnbrechende Studie des Krankenversicherers Kaiser Permanente, die ganz unerwartet erhebliche Zweifel an den herkömmlichen Erklärungen zahlreicher Krankheiten...