Was heute für eine Liebesbeziehung nicht mehr ausreicht
Was kennzeichnet eine heutige Liebesbeziehung, was erfordert sie, und was ist unverzichtbar ist, damit sie sich bildet? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich von außen nach innen vorgehen. Dazu werde ich näher beschreiben, was ich bereits angedeutet habe: Paare können eine Menge miteinander teilen, ohne dass es für eine Liebesbeziehung ausreicht. Zwei können ein Paar sein, ohne ein Liebespaar zu sein. Um das zu zeigen, möchte ich sozusagen die äußeren Schalen einer Paarbeziehung ablösen, um schrittweise ihren Kern freizulegen, das, worauf es den Liebespartnern mittlerweile ankommt.
Bei der Freilegung des Kerns einer Liebesbeziehung werde ich in Kurzform der geschichtlichen Entwicklung der Paarbeziehung folgen, angefangen bei der Urzeit bis in die Jetztzeit hinein. Nebenbei wird auf diese Weise auch deutlich werden, dass Paarliebe nie über eine feste Form verfügte, sondern dass zu verschiedenen historischen Phasen etwas anderes darunter verstanden wurde. Zudem wird klar werden, dass die Paarliebe sich abhängig von den sozialen Umständen stets veränderte.
Es sind bestimmte Stationen, an denen ich Halt machen werde, und diese Stationen heißen: geschlechtliche, partnerschaftliche, freundschaftliche und schließlich emotional/leidenschaftliche Liebe.
Geschlechtliche Liebe
Die Singlefrau aus dem Eingangsbeispiel hat, so sagt sie, Sex. Weil sie sogar davon spricht, guten Sex zu haben, wird ihr auf dem Gebiet der Sexualität nichts Wesentliches fehlen. Um guten Sex zu erleben, nimmt sie weder Escortdienste noch professionelle Sexarbeit in Anspruch. Sie hat ab und zu Sex mit Fremden, also: One-Night-Stands. Noch öfter als solche Zufallsgeschichten praktiziert sie, weil ihr ausschließlich One-Night-Stands zu unpersönlich sind, Sex mit besten Freunden. Wenn ihr danach ist, ruft sie bestimmte Personen aus ihrem Freundeskreis an, mit denen sie sich erotisch gut versteht und mit denen sie frei von Komplikationen ihren sexuellen Bedürfnissen nachkommen kann. Die Angelegenheit verläuft komplikationslos, weil beide Parteien sich sympathisch sind und dennoch nur Sex und nichts anderes wollen. Das ist nichts Ungewöhnliches und bei dauerhaften Singles zunehmend verbreitet. Es gibt dafür den Begriff der »friends with benefits«, der Freunde mit Zusatznutzen. Man ist befreundet und hat sozusagen eine freundschaftliche Sexbeziehung, bei der klar ist, dass daraus nicht mehr werden wird.
Menschen, die solchen funktionellen Sex praktizieren, leben eine Verbindungsform, die ich als geschlechtliche Liebe bezeichne. Diese Verbindung dient vorrangig dem Zweck, sexuelle und erotische Bedürfnisse zu befriedigen. Über sexuelle Bedürfnisse verfügen wir Menschen in reichlichem Ausmaß. Die Evolution hat uns, um für die Reproduktion der Art zu sorgen, mit drängenden sexuellen Sehnsüchten ausgestattet, die seit jeher für eine starke Anziehung zwischen den Geschlechtern, teils auch zwischen Partnern des gleichen Geschlechts, sorgen. Die geschlechtliche Liebe stellt damit zweifellos die ursprünglichste Bindungsform zwischen Männern und Frauen dar, die erste Paarbeziehung.
Es gab also, lange bevor sich Familien oder gar Ehen bildeten, bereits Liebespaare. Allerdings war das keine Liebe im heutigen Sinn. Unter dieser ursprünglichen Paarliebe muss man sich aufgrund der damaligen Lebensverhältnisse etwas völlig anderes vorstellen. Wie waren diese Lebensverhältnisse in der Urzeit beschaffen, und wie sah die Paarliebe darin aus?
In Urzeiten lebten Menschen in Sippen oder kleinen Gruppen, in durch Verwandtschaft verbundenen sozialen Gemeinschaften. Die jeweilige Sippe oder Gruppe bot Schutz, Nahrung und soziale Kontakte und sorgte auf diese Weise für das Wohl und das Überleben ihrer Mitglieder. Wurden in den Verbänden Kinder gezeugt, waren diese nicht dem Paar zugedacht, das sie gezeugt hatte. Es gab ja weder die Ehe noch die Familie, und der Anteil des Vaters an einer Zeugung war lange Zeit unbekannt. Zudem existierte keine sexuelle Treueforderung, die eine Zuordnung der Kinder zu einem spezifischen Paar ermöglicht hätte. Daher gehörten die Kinder zu der Frau, die sie geboren hatte, zur Mutter und zur mütterlichen Sippe. Der leibliche Vater hatte ihnen gegenüber weder Pflichten noch Rechte, er war und blieb unbekannt, diente rein als Erzeuger und nahm als dieser in der Sippe der Mutter keine soziale Rolle ein.
Sicherlich gestalteten sich die Verhältnisse in den unzähligen Ethnien sehr unterschiedlich, und später sollten Kinder allgemein einem Paar zugeordnet werden, in der Anfangszeit war das aber offenbar nicht der Fall.
Die Beschaffenheit einer Paarbeziehung unter solchen Lebensumständen lässt sich beispielhaft anhand der Besuchsehe veranschaulichen. Diese ursprüngliche Form der Paarbeziehung existiert noch heute in entlegenen Teilen Chinas und in einigen Gebieten Afrikas.1 In einer Besuchsehe kommt der Mann nach Einbruch der Dämmerung zur Frau und verbringt die Nacht mit ihr. Die beiden lieben sich auf geschlechtliche, also auf körperliche Weise. Emotionen spielen in dieser Paarbeziehung allerdings keine große Rolle, können das auch nicht, da sich kein ausgeprägtes Gefühlsleben im heutigen Sinn entwickelt hat und Paarbeziehungen noch nicht mit viel Bedeutung aufgeladen sind. Vor allem haben sie keine existenzielle Bedeutung – und sollen diese auch nicht haben. Der Mann muss bereits im Morgengrauen das Bett der Frau verlassen und zu seiner eigenen Sippe zurückkehren. Er darf aus einem bestimmten Grund nicht zum Essen bleiben: weil er und die Sippe der Frau sich damit gegenseitig verpflichten würden. Das Verhältnis soll aber nicht materiell und nicht sozial verbindlich werden, es soll rein geschlechtlich und unverbindlich bleiben.
Was werden diese ersten Liebespartner miteinander gemacht haben? Sie werden sich geküsst haben, sie werden gelacht haben, sie werden zärtlich zueinander gewesen sein, sie werden Sex gehabt und vielleicht sogar Orgasmen erlebt haben. Das alles, aber nicht mehr. Denn für eine über die geschlechtliche Anziehung hinausgehende Verbindung wurde kein sozialer Raum zur Verfügung gestellt. Das hätte keinen Sinn ergeben. Die Liebespartner teilten weder den Lebensalltag miteinander noch trugen sie Verantwortung füreinander. Den über das Sexuelle hinausgehenden Bedürfnissen, seien sie sozialer oder materieller oder emotionaler Art, wurde getrennt vom Liebespartner in der eigenen Sippe nachgegangen.
Für Frauen barg diese Variante geschlechtlicher Paarliebe einige Vorteile. Sie waren weitaus autonomer, weil sie nicht in eine materielle Abhängigkeit zu ihrem jeweiligen Liebespartner gerieten, auch mussten sie sich nicht allein um ihre Kinder kümmern. Deren Versorgung übernahm ihre Sippe, zu der neben weiteren Frauen auch ihre Väter, ihre Brüder, ihre Onkel und alle anderen Männer gehörten. Die spezielle Besuchsbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau diente allein der geschlechtlichen Liebe und der Kindeszeugung, und sie hielt, wie es eine chinesische Ethnologin in Bezug auf die Besuchsehe ausdrückte, »solange es der Liebe gefällt«. Es war sogar erlaubt, mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig zu führen, und jeder Partner konnte eine Verbindung jederzeit auf eigenen Wunsch hin auflösen.
Auch in den Ethnien, die keine Besuchsehe kannten, waren die Paarbeziehungen meist nicht starr, sondern frei gewählt und auflösbar, und sie boten keine existenzielle Grundlage. Der Grund, warum Mann und Frau ein Paar bildeten, lag in den sexuellen und emotionalen Bedürfnissen, im Bedürfnis nach Sex und einer gewissen Intimität.
Die geschlechtliche Liebe stellte die erste Paarliebe dar. Als Liebesmotiv ist sie auch heute nicht aus der Welt, vielmehr erfüllt sie in Paarbeziehungen weiterhin ihre wesentlichsten Aufgaben. Neben ihrer Zeugungsfunktion dient sie nach wie vor der Erfüllung sexueller Bedürfnisse. Sexuelle Bedürfnisse haben beim modernen und aufgeklärten Menschen keineswegs nachgelassen, sie scheinen unter heutigen, oft als entfremdet bezeichneten Lebensverhältnissen, sogar noch wichtiger geworden zu sein. Sex ist für den naturfernen Menschen eine Quelle unmittelbar sinnlichen Erlebens, eine gute Möglichkeit, »aus dem Kopf« zu kommen, ins Hier und Jetzt zu gelangen und sich körperlich und emotional zu erholen.
Auf die Erfüllung sexueller Bedürfnisse und erotischer Leidenschaft wollen jedenfalls weder Singles noch Paare verzichten. Davon können Paarberater und Therapeuten ein Lied singen, da sie nicht selten damit beauftragt werden, zur Belebung einer abgeflachten oder zur Reanimation einer zum Erliegen gekommenen Paarsexualität zu verhelfen.
Geschlechtliche Liebe ist nach wie vor unverzichtbar, und ein heutiges Paar mag Sex haben, es mag sogar guten Sex haben. Aber fest steht auch: Sex allein macht noch kein Liebespaar. Ansonsten würden alle friends with benefits nicht Freunde bleiben, sondern einander Liebespartner werden. Und gute One-Night-Stands würden sich zu Paarbeziehungen entwickeln. Das ist aber nicht so. Im Gegenteil.
Partner, die sich gerade kennenlernen und die sich im Bett hervorragend verstehen, sind meist sehr enttäuscht, sobald sie feststellen, dass sonst nichts läuft. Zwei können sich im besten Sinne miteinander befriedigen, sie mögen sexuelle Sehnsüchte miteinander ausleben, aber wenn sie außer Sex nichts verbindet, fühlt sich ihre Beziehung alsbald leer an. Paarbeziehungen, die vorwiegend oder ausschließlich auf der Befriedigung sexueller Bedürfnisse aufbauen, halten meist nur kurze Zeit. Wenn sich keine weitere Bindung als die sexuelle...