»Hindernisse können mich nicht aufhalten;
Entschlossenheit bringt jedes Hindernis zu Fall.«
Leonardo da Vinci
Das Wesen der Scanner-Persönlichkeit
Scanner-Persönlichkeiten oder Vielbegabte, wie ich viel lieber sage, sind Menschen, die sich nicht für eine oder wenige Sachen im Leben entscheiden, sondern die viele Ideen haben, sich immer wieder von neuen Aktivitäten anregen lassen und sich für alles Mögliche begeistern können. Scanner sind begeisterungsfähige, kreative Menschen und haben oft viele Interessen, Projekte und Hobbys, sie sind vielfältig engagiert und können sich nur schwer entscheiden. Bei ihnen stehen die ungenutzten Golfschläger neben dem Spanisch-Sprachkurs und die Ölfarben neben dem Paket Wolle, aus dem ein Pulli gestrickt werden soll, und so weiter und so weiter.
Der Begriff »Scanner-Persönlichkeit« wurde erstmals 2006 von Barbara Sher genutzt. Das Buch, in dem die Autorin das Wesen, die Fähigkeiten und Probleme der Scanner-Persönlichkeiten beschrieb und dabei den Scanner-Begriff einführte, offenbart bereits im Titel, wie die kreativ veranlagten und oft hochbegabten Multitalente ticken: »Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast.« Dieser Buchtitel ist das alltägliche (Wunsch-)Programm der Scanner-Persönlichkeiten.
Allerdings halte ich den Begriff »Scanner« für etwas unglücklich gewählt, denn to scan bedeutet im Englischen so viel wie »abfragen«, »absuchen«, »abtasten«, »rastern«. Von Begabungen ist dabei leider nicht die Rede. Seit den Diskussionen über die Einführung von Körperscannern an Flughäfen zur Durchleuchtung von Passagieren sind viele negative Assoziationen mit dem Scanner-Begriff verbunden. Zudem ist dieser Körperscanner ein Sucher nach Sprengstoff oder Waffen, was sicher nicht zu angenehmen Gedanken und Gefühlen beim vielbegabten Menschen führen wird.
Ein Wort, das die Seele erreicht
Die Begriffe »Vielbegabung« oder »Multitalent« können viele Menschen leichter annehmen, denn sie führen dann endlich aus der Sackgasse eines negativen Kontextes heraus. Wer die Erkenntnis, ein Vielbegabter zu sein, annimmt, wird schnell ein viel besseres Verhältnis zu seinen kreativen, innovativen und sprudelnden Ideen und Interessen finden, was ein Durchatmen der Seele bewirkt. Ich habe dieses tiefe Aufatmen häufig miterlebt.
Vielbegabte Menschen sind oft wundervoll charismatische Zeitgenossen. Sie sind nie langweilig, meist geradezu ansteckend begeisterungsfähig, enorm idealistisch, faszinierend kreativ und haben nicht selten große, weite Herzen. Vielbegabte haben eine unbändige Neugier auf eine Vielzahl von Themen, die überhaupt kein Muster dahinter erkennen lassen, und wollen sich am liebsten mit all ihren Ideen sofort und gleichzeitig beschäftigen.
Im ersten Moment hört sich das alles wunderbar und problemlos an. Das ist jedoch nicht der Fall. In unserer heutigen Erziehung und Kultur lernen wir, dass es nicht gut ist, »auf vielen Hochzeiten zu tanzen«, und dass ein Hansdampf in allen Gassen es nicht weit bringen wird. Jeder Mensch sollte wissen, was er gern mit seinem Leben anfangen möchte, und sollte genau dies tun. Expertentum, Spezialisierung und Geradlinigkeit sind gefragt! Man soll sich festlegen, sich positionieren, spezialisieren, einen Schwerpunkt finden und einen logisch aufgebauten Lebenslauf haben. Viele Projekte gleichzeitig zu verfolgen gilt geradezu als anrüchig und es wird im beruflichen Zusammenhang dann schnell von einem »Bauchladen« gesprochen. Echten Erfolg könnten nur besondere Spezialisten und richtige Koryphäen auf einem Gebiet erzielen, wird immer wieder behauptet.
Es wird als flatterhaft, wankelmütig und unstet empfunden, wenn jemand ständig wechselnde Interessen hat und sich mit immer wieder neuen und andersartigen Dingen befasst. Die meisten Vielbegabten müssen immer wieder hören, dass sie etwas verkehrt machen und sich ändern müssen. Das führt natürlich dazu, dass diese Multitalente ihre Gaben nicht nur nicht schätzen können, sondern sie denken sogar, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, und schämen sich für ihre scheinbare Unbeständigkeit. Sie fühlen sich wie der unglückliche Universaldilettant.
Eine Aussage von vielbegabten Menschen, die ich immer wieder höre, ist: »Aber ich kann doch nichts wirklich richtig, sondern nur viel, und das durchschnittlich.« Eben universaldilettantisch. Geht dir das auch so? Denk noch mal zurück an Leonardo da Vinci. Seine Zeitgenossen haben ihn auch oftmals für einen Loser gehalten, der viele Projekte nicht zu Ende bringt. Selbstzweifel haben ihn ebenso begleitet wie die meisten anderen Scanner-Persönlichkeiten auch.
Es wird immer wieder versucht, den Vielbegabten einzureden, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie suchen daher ständig nach dem ultimativen Thema, das sie für immer fesseln und glücklich machen wird. Natürlich werden sie nicht fündig. Immer wieder kreiert ihr flinker Geist neue Ideen, die sie sich dann verbieten, weil sie denken, dass sie doch nicht schon wieder die Richtung ändern können. Sie zwingen sich durch Willenskraft zu einer klaren Linie und werden dadurch unglücklich. Um es mit dem Bild einer Speisekarte zu verdeutlichen: Vielbegabte können es tendenziell nicht leiden, wenn sie sich auf ein Gericht festlegen müssen. Es quält sie nahezu, wenn sie sich für eine Sache entscheiden müssen, obwohl sie eigentlich so viele mehr wollen. Wenn sie dann ein Gericht gewählt haben, geht es ihnen damit manchmal nicht gut. Denn es könnte ja sein, dass etwas anderes besser schmeckt.
Ein typischer Feierabend eines Vielbegabten
Du kommst nach Hause und checkst erst mal die E-Mails und Online-News der Welt. Dabei wird dir bewusst, dass du dringend deine Idee aus der Mittagspause aufschreiben wolltest. Dazu musst du noch etwas in Wikipedia recherchieren. Du kennst das schon: Vom ersten Link kommst du zum nächsten und eh du dich versiehst, ist eine Stunde vorbei und du hast eine neue Idee geboren, denn beim Surfen ist dir ein neuer Onlinekurs begegnet. Als schnelles Abendessen hast du dir ein neues marokkanisches Rezept ausgesucht, denn du besuchst gerade einen entsprechenden Kochkurs. Im Stapel der Kochbücher entdeckst du ein Buch über Grafikdesign, das du dir vor zwei Wochen gekauft hast, als du im Buchladen warst, um den neusten Roman von der Bestsellerliste zu kaufen. Den wolltest du deiner Mutter zum Geburtstag schenken, vorher aber noch gern selbst lesen. Also beginnst du damit und vergisst darüber, für deine morgige Gesangsstunde zu üben. Beim Gang in die Küche kannst du der Versuchung nicht wiederstehen, noch mal kurz die E-Mails zu checken. Dadurch wirst du erinnert, dass dein Probeabonnement der Astronomiezeitung bald endet, was dich erleichtert, denn du hast sie nur selten gelesen, da dir die Zeit fehlte …
Ja, so könnte ein Feierabend eines Vielbegabten aussehen. Viele dieser bunten Menschen neigen dazu, sich zu verzetteln. Und da alles Neue besonders spannend und interessant ist, ist auch die Gefahr, ständig noch etwas Neues zu beginnen, groß. Da diese Menschen oft aber auch noch Perfektion erreichen möchten, fühlen sie sich bald unvollkommen und unfähig – und da schließt sich dann der bekannte Teufelskreis der Unzufriedenheit.
Muss man als vielbegabter Mensch aufgrund seiner eventuell doch etwas zahlreicheren Interessen damit leben oder kann man das Ganze sinnvoll kanalisieren? Eindeutig Letzteres, denn es geht auch anders. Nämlich mit lustvoll gelebter Vielfalt.
Ein Vielbegabter ist oft (aber zum Glück nicht immer) ein Mensch, der aufgrund seines an Ideen, Eindrücken, Interessen und Möglichkeiten überquellenden Bewusstseins nicht mehr weiß, wann, wo, wie und wozu überhaupt er diese realisieren soll. Oder noch schlimmer: Er leidet darunter. Warum?
Noch einmal: Die heutige Gesellschaft lebt von Spezialisierung, Expertentum und Zielorientierung. Bereits in Schule und Studium wird den Scannern der übersprudelnde Geist aberzogen. Es wird ihnen beigebracht, dass nur Experten es weit bringen können, und Vielfalt wird mit Sprunghaftigkeit oder Oberflächlichkeit gleichgesetzt. Der Scanner erfährt also schon ab frühester Kindheit Ablehnung und Unverständnis für seine besondere Begabung. Das führt dazu, dass er sich falsch fühlt, immer meint, sich ändern zu müssen, und verzweifelt nach dem einen Ziel sucht, das seinen Hunger nach Abwechslung und Vielfalt stillt. Diese Suche ist aber immer zum Scheitern verurteilt. Der Scanner kann nicht glücklich sein, wenn er sich beschränkt und auf weniges fokussiert.
Bist du etwa ganz normal?
Je angepasster und normaler du bist, umso mehr Akzeptanz erlebst du an jedem einzelnen Tag innerhalb der Gesellschaft. Das Streben nach Normalität wird heute gern mit Perfektion gleichgesetzt. Doch warum scheint langsam unsere Fähigkeit zu verschwinden, hinter die Fassade des Normalseins zu blicken? Gerade für vielbegabte Menschen kann ein genussvoller Ausflug in das Anderssein zum ersten Schritt auf dem Weg zu sich selbst werden.
Was ist überhaupt normal? Im Laufe der Erziehung wird jeder Heranwachsende mit einer Vielzahl von moralischen und gesellschaftlichen Maßstäben konfrontiert. Dadurch entwickelt sich schnell ein verinnerlichtes Gespür für normales Verhalten. Spätestens im Teenageralter entscheidet sich dann, inwieweit dieser Sensor infrage gestellt wird. In der Rebellion, die zum Erwachsenwerden gehört, entstehen auch eigene Werte, die...