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Linguistik der Lüge

AutorHarald Weinrich
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl90 Seiten
ISBN9783406697029
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,49 EUR

In der Welt werden munter die "Lügenfahnen" (Goethe) entrollt, und daran wird sich wohl auch so rasch nichts ändern. Was aber geht eigentlich mit der Sprache vor sich, wenn die Wahrheit zur Lüge verdreht wird? Können nicht nur Sätze, sondern auch Wörter lügen? Und wie ist das Verhältnis der Ironie zur Lüge? Harald Weinrichs fulminanter Essay ist ein linguistisches Kabinettstück und eine kleine Anleitung zum Denken des Wahren.



Harald Weinrich, geb. 1927, war nach Professuren in Kiel, Köln, Bielefeld und München zuletzt Professor für Romanistik am Collège de France, Paris. Er hat u. a. den Joseph-Breitbach-Preis, den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa und den Hanseatischen Goethe-Preis erhalten.

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Leseprobe

„Magna quaestio est de mendacio …“


Die Lüge ist in der Welt. Sie ist in uns und um uns. Man kann die Augen nicht vor ihr verschließen. „Omnis homo mendax“, sagt ein Psalmvers (115, 11). Wir können übersetzen: Der Mensch ist ein Lebewesen, das der Lüge fähig ist. Das ist eine Definition, die ebenso richtig ist wie jene Definitionen, die den Menschen ein Lebewesen nennen, das zu denken, zu sprechen oder zu lachen versteht. Es mag wohl eine misanthropische Definition sein, aber sie ist nicht widerlegbar. Molières Misanthrop nimmt sich aus ihr das Recht, das ganze Menschengeschlecht zu hassen.

Die Linguistik kann die Lüge nicht aus der Welt schaffen, und sie kann nicht verhindern, daß die „Lügenfahnen“ (Goethe) so oft entrollt werden. Zwar lügen die Menschen – meistens – mit der Sprache; sie sagen die Unwahrheit, und sie reden doppelzüngig. Aber es ist sehr fraglich, ob ihnen die Sprache beim Lügen hilft. Wenn sie es tut, wird sich die Linguistik dem „großen Problem der Lüge“ (Augustin) nicht entziehen können. Hilft die Sprache jedoch beim Lügen nicht oder setzt sie dem Lügen sogar Widerstand entgegen, so kann dennoch die Linguistik beschreiben, was sprachlich geschieht, wenn die Wahrheit zur Lüge verdreht wird. Die Lüge geht die Linguistik allemal an.

Augustin, der als erster die Lüge zum Gegenstand der philosophischen und theologischen Reflexion gemacht hat, hat auch als erster den linguistischen Aspekt der Lüge gesehen. Er erinnert daran, daß den Menschen die Sprache nicht gegeben ist, damit sie sich gegenseitig täuschen, sondern damit sie einander ihre Gedanken mitteilen. Wer also die Sprache zur Täuschung gebraucht, mißbraucht die Sprache, und das ist Sünde.[1] Thomas von Aquin und Bonaventura nehmen diesen Gedanken auf: Die Wörter der Sprache sind Zeichen des Geistes; es ist wider ihre Natur und wider den Geist, sie in den Dienst der Lüge zu stellen.[2] Die Sprache soll die Gedanken offenbaren, nicht verbergen. Die Zeichenfunktion der Sprache steht auf dem Spiel. Sie ist die elementarste, aber ebendarum die fundamentalste Leistung der Sprache. Die Lüge ist ihre Pervertierung.

Die Menschen sind aber so beschaffen, daß sie die Zeichen der Sprache zugleich zum Guten und zum Bösen gebrauchen. So sagen die Moralisten. Ein Hexameter des Dionysius Cato lautet: Sermo hominum mores et celat et indicat idem. (Die Sprache verbirgt und offenbart zugleich die Sitten der Menschen.) Das skeptische Wort hat Schule gemacht. Voltaire schreibt einen Dialog Der Kapaun und das Masthuhn und legt seinen geflügelten Wortführern auch dieses harte Urteil über die Menschen in den Schnabel: Ils ne se servent de la pensée que pour autoriser leurs injustices, et n’emploient les paroles que pour déguiser leurs pensées. (Sie bedienen sich des Denkens nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen, und benutzen ihre Worte nur, um ihre Gedanken zu verkleiden.) Wer dem Kapaun nicht glaubt, wird vielleicht dem Politiker Talleyrand mehr Gehör schenken. Von ihm wird ein Wort überliefert, das in einer Unterredung mit dem spanischen Gesandten Izquierdo 1807 gefallen sein soll. Es lautet: La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée. (Die Sprache ist dem Menschen gegeben, damit er seine Gedanken verkleiden kann). Es ist geflügeltes Wort geworden. Man schreibt es auch Fouché oder Metternich zu. Das bedeutet: Wenn schon nicht alle Menschen mit der Sprache ihre Gedanken verbergen, bei Politikern und Diplomaten gehört die Lüge zum Beruf. Sie ist eine Kunst. Hermann Kesten nimmt den Gedanken auf und entfaltet ihn wie einen Fächer: „Es gibt ganze Berufe, von denen das Volk von vornherein annimmt, sie zwängen ihre Vertreter zur Lüge, zum Beispiel Theologen, Politiker, Huren, Diplomaten, Dichter, Journalisten, Advokaten, Künstler, Schauspieler, Banknotenfälscher, Börsenmakler, Lebensmittelfabrikanten, Richter, Ärzte, Gigolos, Generäle, Köche, Weinhändler.“[4] Spricht hier ein Dichter?

Es sind nun immer wieder Stimmen laut geworden, die der Sprache eine Mitschuld zugesprochen haben, wenn die Menschen sie zur Lüge mißbrauchen. In Shakespeares Heinrich V. steht, französisch geschrieben: O bon Dieu! Les langues des hommes sont pleines de tromperies. (Mein Gott! Die Sprachen der Menschen sind voller Betrügereien!)[5] Vielleicht sogar die eine Sprache mehr, die andere weniger. In Wilhelm Meisters Lehrjahren unterhält sich die Gesellschaft einmal über das Für und Wider des französischen Theaters. Man bemerkt, daß Aurelie dem Gesprächskreis bei diesem Thema fernbleibt. Auf sanftes Drängen gibt sie den Grund bekannt: sie haßt die französische Sprache. Ihr treuloser Freund hat ihr die Freude daran geraubt. Solange er ihr nämlich verbunden war, schrieb er ihr seine Briefe auf deutsch – „und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch!“ Als er aber seine Liebe von ihr abwandte, ging er in seinen Briefen, was vorher nur zum Scherz geschehen war, zur französischen Sprache über. Aurelie verstand den Wechsel nur zu gut. „Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache. (…) Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen und belügen können.“[6] So wäre, wenn Aurelie mit ihren „launischen Äußerungen“ recht hatte, die deutsche Sprache der Wahrheit, die französische Sprache der Lüge zugetan.

Nun, dergleichen sind nur Anekdoten und von Shakespeare und Goethe gar nicht anders gemeint. Aber es könnte ja sein, daß die Sprache überhaupt, wie Wittgenstein einmal erwogen hat, nicht Kleid, sondern Verkleidung des Gedankens ist.[7] Solchem Zweifel begegnet man oft. Als sich vor Jahren Wissenschaftler aller Disziplinen zu einer gemeinschaftlichen Untersuchung des Phänomens Lüge zusammentaten, wurde auch der Sprachwissenschaftler Friedrich Kainz zu einem Beitrag über Lügenerscheinungen im Sprachleben aufgefordert.[8] Augustin folgend, stellt Kainz eingangs fest, daß alle Lügen sprachliche Aussagen sind und folglich zum großen Bereich der Sprache gehören. Er mustert dann die Sprache auf Lügenhaftes hin durch und findet davon so viel, daß dem Leser angst und bange werden muß. Mit dem gleichen Recht, wie man von der Sprache sagt, sie denke und dichte für uns, darf man nach der Meinung von Friedrich Kainz auch sagen, daß sie für uns lüge. Er prägt dafür den Ausdruck „Sprachverführung“. Er besagt, daß unser Denken sich in sprachlichen Bahnen bewegt und daß die Lügen der Sprache folglich auch unser Denken zur Lüge zwingen. Sprachliche Lügen aber sind, wenn man die Dinge genau nimmt, die meisten rhetorischen Figuren wie Euphemismen, Hyperbeln, Ellipsen, Amphibolien, die Formen und Formeln der Höflichkeit, Emphase, Ironie, Tabuwörter, Anthropomorphismen usw. Der Wahrheit bleibt in der Sprache nur noch eine schmale Gasse. Das ist, wie man vermuten darf, der blanke Aussagesatz, den die Logik liebt.

Arme Sprachkritik, die von der Sprache alle Blüten und Blätter abstreift, bis sie nur noch einen dürftigen Stengel in der Hand hält! Augustin war da ein besserer Sprachwissenschaftler. Er hat sich nämlich bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt. In seiner Schrift Wider die Lüge (Kap. 24) sieht sich Augustin vor der Schwierigkeit, die schlimme Täuschung Isaaks durch Jakob, der sich das Erstgeburtsrecht erschleicht (Gen. 27), zu rechtfertigen und mit seiner uneingeschränkten Verurteilung der Lüge zu harmonisieren. Seine Lösung: non est mendacium, sed mysterium. Die biblische Begebenheit ist ein Geheimnis, insofern sie allegorisch verstanden werden muß. Jakob bedeckt seine Hand mit einem Bocksfell, nicht um seinen Vater zu betrügen, sondern als Typos des erwarteten Erlösers, der fremde Sünden auf sich nimmt. Die Allegorien und Typologien der Bibel sind nicht Lüge. Wollte man sie Lüge nennen, wäre man gezwungen, auch alle anderen Formen uneigentlicher Rede, alle Tropen, Bilder und Metaphern für Lüge zu nehmen. Und das wäre barer Unsinn: quod absit omnino.

Man kommt also, so fährt Augustin fort, nicht mit der Definition aus, Lüge sei, etwas anders zu sagen, als man es weiß oder meint. Mit einer solchen Definition kann man noch nicht die schwere, böse Lüge von den Spielformen (ioci) kultivierter Rede unterscheiden; denn diese lassen sich alle als Allegorien auffassen, und das heißt „Andersreden“. Das moralische Bewußtsein aber gibt uns andere Auskunft. Lüge ist erst da, wo das Andersreden von einer bewußten Täuschungsabsicht begleitet ist. Daher Augustins berühmte Definition der Lüge: mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi. (Die Lüge ist eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen.)[9] Die Scholastik hat sich diese Definition zu eigen gemacht und sie der europäischen Philosophie vererbt. Die Diskussion der Moralphilosophie betrifft nun...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch90
Über den Autor90
Inhalt4
Impressum3
„Magna quaestio est de mendacio …“6
Wort und Text13
Wort und Begriff24
Können Wörter lügen?33
Denken38
Wider die Bilderstürmer42
Ja und Nein49
Ironie61
„Viel lügen die Sänger“69
Nachwort nach 35 Jahren78
Anmerkungen86

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