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E-Book

Links, wo das Herz schlägt

Inventur einer politischen Idee

AutorRainer Hank
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641150945
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Was ist eigentlich heute noch links?
Noch immer steht in unserem Land 'links' für 'gerecht', 'ökologisch', 'sozial'. Jeder will es sein, doch wer ist es wirklich? Rainer Hank schaut zurück auf die eigene 'linke' Geschichte und die seiner Generation und konfrontiert diese mit dem Stillstand der Gegenwart. Damit leistet er die überfällige Inventur einer großen, wirkungsmächtigen politischen Idee.

Rainer Hank, geboren 1953, ist Wirtschaftsjournalist. 2001 bis 2018 leitete er die Wirtschafts- und Finanzredaktion der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, seither ist er als Publizist und Kolumnist für unterschiedliche Medien tätig, insbesondere für die FAS. 2009 erhielt er den Ludwig-Erhard-Preis, 2013 den Karl-Hermann-Flach-Preis und 2014 die Hayek-Medaille. Für sein 2017 erschienenes Buch »Lob der Macht« war Rainer Hank für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert. Zuletzt erschien im Penguin Verlag »Die Loyalitätsfalle« (2021).

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Leseprobe

II. Warum die Gier das Herz erkältet und wo die Wärme wohnt. Warum schöne Frauen links sind und was das mit unseren Werten zu tun hat.

Wie kommt einer überhaupt zu seinen Werten, Einstellungen, Haltungen, Präferenzen? Vor der Zäsur des Jahres 1972 und meinem Wechsel nach Tübingen gab es ja schon viele frühere Prägungen. Aufgewachsen mitten im Zentrum von Stuttgart, wo es zwar Banken, Regierungsgebäude und Kaufhäuser, aber keine Wohnhäuser gab, wurden mir früh zwei Nachbarn besonders wichtig: die Kirche und das Theater. Eine katholische Kirche, buchstäblich Mauer an Mauer an die Bank angrenzend, in der mein Vater Hausmeister war und unsere Dienstwohnung lag, war nach dem frühen Tod meiner Mutter im Jahr 1961 so etwas wie Ersatz der Geborgenheit. Wie für viele katholische Buben meiner Generation begann die nähere Bekanntschaft mit dem christlichen Glauben als Ministrant. Weil das noch vor dem Konzil war, gab es natürlich auch viel wallende Gewänder, viel Weihrauch, viel Latein und an Weihnachten, Ostern und zu anderen Festen immer eine große Haydn- oder Mozartmesse mit Solisten und Pauken und Trompeten drum herum. Katholische Messen, zumindest damals, hatten etwas Ästhetisches und Theatralisches und boten dem kleinen Ministranten einen angemessenen Ort der Selbstdarstellung. Auch zu Hause wurden – ich war sechs oder sieben – häufig Messen und Maiandachten liturgisch veranstaltet. Ich zitiere den großen Thomas Gottschalk: »Meine Mutter musste fünf Akkorde am Klavier spielen, dann begann die Prozession: Ich bin ins Wohnzimmer eingezogen, habe den Segen erteilt und auf dem Sessel meine Predigten gehalten«.

So ungefähr, nur ohne Klavierakkorde, darf man sich das bei mir auch vorstellen. Damals gab es noch die großen Fronleichnamsprozessionen mit ausgestelltem Allerheiligsten, eine Erfahrung, die es mir sehr angetan hatte. Noch einmal, und noch einmal mit Thomas Gottschalk: »Meine Erinnerungen sind allesamt positiv. Für mich heißt Kirche in dieser Zeit: die Lagerfeuerromantik in den Jugendlagern, der Weihrauch in den lateinischen Hochämtern und die Morgensonne, die sich im Mosaik der Kirchenfenster bricht.«

Nach dem Konzil, in den späten sechziger Jahren, vermissten wir in der ästhetischen Selbstbezüglichkeit der Liturgie den kritischen Zugriff, weil, wie wir dann fanden, das Christentum doch auch die Welt verändern und sie nicht nur mit viel Weihrauch selbst verklären sollte. Da begannen wir zu maulen, mit dem Pfarrer zu streiten, nannten die Orchestermessen Ausdruck des verbreiteten Konsumismus, bezichtigten die Liturgie der Unwahrhaftigkeit und fanden, dass Jesus nicht gelebt habe, um sich weihrauchduselig von der Welt ab-, sondern den Armen zuzuwenden. Gesellschaftsveränderung mit dem Neuen Testament: Das war der Anfang meiner linken Prägung. Freunde, die mir das später als Herz-Jesu-Sozialismus madig machen wollten, haben mich damit immer beleidigt. Weil darin der Vorwurf eines Defizits an Analyse mitschwingt, die Haltung somit nur als intellektuell minderbemittelt durchgeht. Dabei wollten wir doch auch die Welt verändern, eben aus dem Geist des Evangeliums.

Weltveränderung war auch das Thema der zweiten wichtigen Jugenderfahrung, der des Theaters, wo ich, sagen wir seit dem 15. Lebensjahr, sicher einmal die Woche, es waren ja nur hundert Meter, schaute, was es zu sehen gab. Meistens sah man Brecht oder Shakespeare, aber auch vieles andere, wobei ich mit den vielen Toten der Shakespeare’schen Königsdramen deutlich weniger anfangen konnte als mit dem linken Pathos der Nüchternheit bei Brecht. Irgendwie ist es dann nicht verwunderlich, dass ich aus den beiden frühen Erfahrungen auch meine Studienfächer Theologie und Germanistik machte. Wobei, auch hier bin ich alles andere als ein Einzelfall, vor allem als für die Literatur ein Deutschlehrer wichtig wurde, der uns nicht nur Lessing und Trakl nahebrachte, sondern auch die Regeln der Sprache und der die Lust am Debattieren weckte. Das tat er meist mit Nonsensthemen à la »Ist das Halten von Haustieren nützlich oder schädlich«, damit wir uns weniger im Bekennertum als im logischen Argumentieren übten. Erst später kamen dann auch existentielle Erörterungen dazu – zum Beispiel die Frage »Lieber tot als rot?«, was zu beantworten damals, in den Jahren um 1968, die leichtere Übung war.

»Lieber Rot als Schwarz« war dann irgendwie unausgesprochen das Motto der ersten Tübinger Semester. Man muss engagiert sein, so lautete deren kategorischer Imperativ. Wo und worin, dafür gaben die Berge von Flugblättern Anregungen, die wie eine unebene Decke die Tische der Mensa umhüllten. Weil wir fanden, dass ein Seminar über den Kirchenvater Tertullian, wo man im ersten Semester mit nicht ganz leichten lateinischen Texten konfrontiert wurde, keine »gesellschaftliche Relevanz« habe und unserem Drang zum Engagement nicht wirklich nützte, haben wir die Veranstaltung einfach gesprengt, will sagen, diktiert, dass nicht über Tertullian und die frühe Kirche, sondern über Hochschulrahmengesetze und Bildungsökonomie, was immer das damals war, und die Theologie der Befreiung in Lateinamerika diskutiert wurde – natürlich ohne den Professor für alte Kirchengeschichte, der zurecht beleidigt von dannen gezogen war. Das war nun deutlich robuster, weniger höflich als heute, wo die Aktivisten von Attac oder Occupy sich vorab zu Diskussionsveranstaltungen ankündigen. Oder klarer gesagt: Das war ziemlich gewaltsam und irgendwie ein Widerspruch, wo wir doch Jesus und Gandhi mochten und theoretisch natürlich für Gewaltfreiheit waren.

Zum Eintritt in eine der politisch zersplitterten Gruppen fehlte mir der Mut, ehrlich gesagt auch die Zeit, weil ich ein eifriger Student war, leistungsorientiert, gute Noten haben wollte, die Dinge mir aber nicht immer leicht von der Hand gingen. Eine Weile liebäugelte ich mit der Gruppe internationaler Marxisten GIM. Keine Ahnung mehr, ob das Trotzkisten oder Maoisten waren (Google sagt, es waren Trotzkisten der vierten Internationale; allemal besser als Maoisten). Ich ließ es dann aber bleiben und wurde – Engagement muss sein – in den Fachschaftsrat der Theologen und bald auch zum Sprecher gewählt. Das galt damals eher als angepasst. Die Radikaleren gingen ins Studentenparlament und die anderen Organe der »verfassten Studentenschaft« und Selbstverwaltung, wie das damals hieß. Immer noch ein bisschen schüchtern, bestand mein Beitrag zum politischen Engagement darin, die Fachschaftszeitung Kuckucksei zu edieren. Ich habe mir die fünf Nummern dieses einschlägigen Tübinger Periodikums (danach wurde die Zeitung eingestellt) jüngst noch einmal angesehen, nicht zuletzt mit der Frage, ob es darin womöglich doch einige Revolutionsartikel von mir gäbe, derer ich mich heute schämen müsste.

»Warum eigentlich Scham?«, fragt mich eine Bekannte, eine Generation jünger, und fordert mich auf, ein bisschen mehr Respekt mir selbst gegenüber zu bezeugen. Es ist tatsächlich so, wie wenn man alte Tagebücher liest: Nicht nur die Einträge sind einem fremd, häufig nicht mehr erinnerlich. Sondern auch die Gefühle, die man damals bei Schreiben – und beim Erleben – hatte. Aber soll man sich deshalb gleich schämen? Vielleicht reichen fremdeln und die respektvolle Anerkennung des anderen, der man einmal war. Leute, die nachtragend sind, mag man nicht. Sich selber gegenüber nachtragend zu sein, ist fast noch ein bisschen schlimmer.

Es war dann, wie sich bei der Neulektüre zeigte, alles halb so wild, was wir da mit der Reiseschreibmaschine auf Wachsmatrizen getippt und anschließend mit Hand vierhundert Mal »hektographiert« hatten. Viel Jargon gab es zu lesen, den man damals überall hörte, so zum Beispiel einen Aufruf der »Christen für den Sozialismus« schon im ersten Heft, der sich folgendermaßen liest: »Wir wenden uns gegen das Herrschaftssystem des Kapitalismus, dessen Toleranz und Veränderungsbereitschaft nur so weit reichen, wie seine Profitinteressen nicht in Frage gestellt werden.« Interessant daran finde ich heute die allegorisierende Personalisierung des Kapitalismus. Was mögen wir uns darunter wohl konkret vorgestellt haben? Der einzige konkrete Unternehmer, den ich kannte, war der Heizungs- und Sanitärfabrikant Müller, ein freundlich-distanzierter Herr, Vater meines Klassenkameraden Michael, in dessen Stuttgarter Firma Stumpf & Müller ich während der Schul- und Semesterferien Geld verdiente. Die Rohre aneinander zu flanschen war ganz schön anstrengend, die Uhr brauchte morgens schrecklich lange, bis um neun Uhr die erste Vesperpause nahte. Die Arbeiter verlachten den Abiturienten. Über die Profitinteressen des Kapitalisten Müller hatte ich mir damals keine großen Gedanken gemacht. Aber ich wusste, dass ich alles daransetzen wollte, später nicht als Arbeiter in einer Fabrik zu schuften.

Dass das Christentum links sein müsse, schien mir damals selbstverständlich. Jesus war schließlich der Anwalt der Schwachen und Armen, während er die Etablierten und Mächtigen kritisierte oder ignorierte. In der Bergpredigt werden jene selig genannt, die sich der Leistungsgesellschaft verweigern. Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie verweigern sich der marktwirtschaftlichen Logik, und der himmlische Vater ernährt sie trotzdem. Jesus mag die Reichen nicht: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.

Es war nicht nur die Utopie des Egalitären, die uns damals zu den »Christen für den Sozialismus« führte. Es war mehr noch, wie bei unserem Helden Herbert Marcuse, das Versprechen einer umfassenden Befreiung, das Christen und Marxisten zu natürlichen Verbündeten machte. Von der »Theologie der Befreiung«, die in Lateinamerika eine Enteignung der...

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