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Literarische Dimensionen der Menschenwürde

Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung

AutorMax Graff
VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl520 Seiten
ISBN9783772000546
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis78,40 EUR
Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet.

Max Graff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Theologenbriefwechsel der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Leseprobe

IV. Terminologische Zwischenbemerkungen


Bevor die eigentliche literaturwissenschaftliche Analyse beginnen kann, sind einige terminologische und begriffliche Reflexionen geboten. Die Lexeme ‚Würde‘ und ‚Menschenwürde‘ wurden bislang synonym gebraucht; in unterschiedlichen Fachdiskursen werden, um das Konzept eines absoluten inneren menschlichen Werts zu bezeichnen, sowohl diese beiden Substantive als auch die Genitivphrase ‚Würde des Menschen‘ verwendet. Die folgenden semantischen Präzisierungen gelten zunächst dem Paar Würde/Menschenwürde, sodann dem Kompositum und der Phrase, schließlich zwei von der Forschung herausgestellten Paradoxa.

Tiedemann deutet das Kompositum ‚Menschenwürde‘ als „metasprachlichen Namen“ für den Satz: „Dem Menschen kommt Würde zu.“1 Dieser impliziert zwei Fragen, und zwar jene, was der Mensch, und jene, was Würde ist. Letztere ist an dieser Stelle von Belang: Würde (ahd. wirda, wirdî, werdî; mhd. wirde, werde) ist das Abstraktum zum Adjektiv ‚wert‘.2 Würde kommt also zunächst und ganz allgemein jemandem zu, der einen Wert besitzt. Der heutige Sprachgebrauch, so Tiedemann, unterscheidet drei Nuancen des Lexems ‚Würde‘: Würde „im Sinne von Rang, Status, Amt, Dienstgrad oder Titel“, Würde „als Wertprädikat“ in Bezug auf ein Verhalten oder eine Handlung, schließlich Würde als innerer Wert, der auf eine Gleichrangigkeit ihrer Träger abzielt.3 In den ersten beiden Fällen ist Würde kontingent, mit hierarchischen Implikationen. Die dritte Facette ist jene, die im Determinativkompositum ‚Menschenwürde‘ zum Tragen kommt: Diese innere Würde wird als eine spezifisch ‚menschliche‘, ‚dem Menschen eigene‘ gekennzeichnet; der Mensch ist also Träger dieser Würde. Ein Blick auf die lexikographische Geschichte des Kompositums bestätigt dies. Zum ersten Mal erscheint es als Lexem 1809 bei Campe: „Menschenwürde“ wird dort definiert als „die Würde des Menschen als eines vernünftigen über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens; besonders die sittliche Würde des Menschen“.4 Das Grimmsche Wörterbuch erläutert knapp: „sittliche und geistige würde des menschen“.5 Der Duden schließlich verbucht ganz ähnlich: „geistig-sittliche Würde des Menschen“.6 Alle drei genannten Wörterbücher lösen demnach das Kompositum als Genitivphrase mit erklärendem, deutendem Zusatz auf – wohl nicht zuletzt, um deutlich zu machen, dass eben nicht eine kontingente, sozial konnotierte Form der Würde, sondern eine dem Menschsein innewohnende gemeint ist. Gleichwohl ist festzuhalten, dass alle drei Bedeutungen der Würde zur Begriffsgeschichte der Menschenwürde gehören – kaum eine Darstellung verzichtet darauf, kontingente Formen der Würde zu diskutieren, und sei es nur als Mittel der Abgrenzung. In der vorliegenden Untersuchung wird stets klar sein, welche Art der Würde gerade thematisiert wird: Ist es eine kontingente Form, wird dies explizit herausgestellt, dient ‚Würde‘ als Synonym für ‚Menschenwürde‘, wird der Kontext dies zweifelsfrei erkennen lassen.

Die in den Wörterbüchern – wie ja auch in Art. 1 GG – benutzte Genitivphrase verweist jedoch auf ein weiteres Problem: Besteht ein semantischer Unterschied zum Kompositum? In wissenschaftlichen Untersuchungen, Verfassungstexten und Urteilen des Bundesverfassungsgerichts werden ‚Menschenwürde‘ und ‚Würde‘ (mit oder ohne Genitivattribut ‚des Menschen‘) gemeinhin als quasi-austauschbare Ausdrücke verwendet.7 Dabei sind die zwei Formulierungen keineswegs identisch – nur kann rein linguistisch und ohne Berücksichtigung des Kontexts nur schwer scharf differenziert werden.8 Dennoch kann man sich versuchsweise annähern: Die Genitivphrase, wenn auch nicht so griffig wie das Kompositum, scheint sich aufgrund ihrer deiktischen Qualität (‚des Menschen‘) durch eine größere Emphase auszuzeichnen. Kritisch könnte man allerdings fragen, ob sie nicht durch ihre Bestimmtheit bereits ein philosophisches Programm impliziert – der Mensch etwa als intelligibles Wesen im Sinne Kants – oder normative Konnotationen zulässt. Das Determinativkompositum hat demgegenüber nicht mehr dieselbe semiotische Identität und semantische Klarheit wie die Genitivphrase. Es wirkt wie eine Art Verallgemeinerung der Aussage; nominale Komposita haben eine Tendenz zur Wechselbezüglichkeit und zu perspektivischen Verschiebungen, da die semantische Beziehung zwischen Determinans und Determinatum relativ offen ist.9 So könnte ‚Menschenwürde‘ theoretisch nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch eines Menschen, der Menschen oder aller Menschen bedeuten. Der Schritt zu einer Formulierung wie ‚die Würde der Menschheit‘, v.a. im 18. Jahrhundert durchaus geläufig, ist nicht weit. Die Genitivphrase betont demnach eher den einzelnen Menschen als Träger der Würde, möglicherweise mit besonderem Akzent auf dem jeweiligen ideengeschichtlichen Hintergrund und dem damit verbundenen Menschenbild; das Kompositum konzipiert Würde eher als eine dem Menschen an sich eignende, egalitäre Qualität. Kurz: Eine Differenz ist durchaus theoretisch beschreibbar und kontextabhängig relevant; für das weitere Vorgehen dürfte sie allerdings kaum von analytischer Virulenz sein.

*

Das Nachdenken über die Menschenwürde lässt bisweilen Paradoxa hervortreten. So beschreibt Franz Josef Wetz das Paradox der Unantastbarkeit der Menschenwürde: Das „Dogma der Unantastbarkeit“10 des deutschen Grundgesetzes lässt sich sprachlich auf zweifache Art deuten – deskriptiv (die Würde des Menschen kann nicht angetastet werden) und normativ (die Würde des Menschen soll/darf nicht angetastet werden). Dies lässt sich, so Wetz, auf die doppelte Konzeptualisierung der Menschenwürde als unzerstörbares menschliches Wesensmerkmal sowie als Achtung und Schutz verlangenden Gestaltungsauftrag zurückführen.11 Ein Blick auf die alltägliche Realität – nicht nur in Krisengebieten, sondern auch in vermeintlich friedlichen Gesellschaften – führt zudem schmerzhaft vor Augen, dass die als unantastbar geltende Menschenwürde laufend ‚angetastet‘ wird. Wetz führt aus:

Wenn auch die Würde des Menschen unzerstörbar ist, so kann sie offenbar doch verletzt werden, und aus diesem Grund heraus bleibt sie auf staatlichen Schutz angewiesen. Vielleicht darf man sagen: Nur weil die Würde verletzlich ist, wurde sie als unverletzlich normiert […].12

Ralf Stoecker weist in seiner Auseinandersetzung mit Avishai Margalit auf das „Paradox der Entwürdigung“ hin.13 Im spezifischen Kontext des Würdebegriffs Margalits, der eng mit dem Begriff der Selbstachtung zusammenhängt, meint dieses Paradox folgendes: „[E]s wirkt paradox anzunehmen, dass eine Behandlung durch andere unsere eigene Selbstachtung beschädigen können sollte.“14 Anders formuliert: Es ist fraglich, wie im Hinblick auf einen entwürdigenden Vorgang die objektive von der subjektiven Ebene klar zu trennen ist, ob eine Entwürdigung überhaupt objektiv bestimmt werden kann oder stets eine Beschreibung vom subjektiven Standpunkt des vermeintlich Entwürdigten notwendig ist.

Wilfried Härle veranlassen ähnliche Überlegungen zu sprachlichen Betrachtungen. Er versteht Menschenwürde als „Anrecht auf Achtung als Mensch“.15 Dieses Anrecht ist tatsächlich unantastbar; insofern ergibt es wenig Sinn, von ‚Entwürdigung‘, ‚Würdeverlust‘, ‚Würdeverletzung‘, dem ‚Wiedergewinnen‘ von Würde o.Ä. zu sprechen. All dies würde implizieren, dass die Menschenwürde angetastet werden kann. Stattdessen kann laut Härle nur davon gesprochen werden, dass die Würde ‚missachtet‘ oder ‚abgesprochen‘ wird oder dass etwas mit der Menschenwürde ‚unvereinbar‘ ist:

Mit solchen Formulierungen bewegt man sich auf der zutreffenden sprachlichen Ebene, auf der es nicht um das Antasten des Anrechts auf Achtung des Menschseins geht, sondern ‚nur‘ um die (Miss-)Achtung dieses Anrechts.16

*

Nun sind solche Überlegungen maßgeblich von ihrem historischen Kontext beeinflusst; im gegenwärtigen Diskurs ist die Menschenwürde kaum noch isoliert von ihrer nationalen wie internationalen verfassungs- und völkerrechtlichen Relevanz und den damit verbundenen Begrifflichkeiten betrachtbar. Der literarische Diskurs ist demgegenüber viel weniger festgelegt; für jeden zu untersuchenden Text wird zu fragen sein, ob er die Menschenwürde als unantastbar, verlierbar, verletzbar oder gänzlich zerstörbar konzeptualisiert und wie er dies dann literarisch inszeniert. Die Analyse kann deshalb nicht darauf verzichten, ggf. von ‚Entwürdigung‘ – hier und im Folgenden verstanden als Prozess des Angriffs auf oder des Absprechens von Würde – oder von...

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