2 Psychologie des Alters
Sabine Corsten
2.1 Überblick
Im folgenden Kapitel soll herausgearbeitet werden, wie vor dem Hintergrund der in Kap. ▶ 1 dargestellten Veränderungen im Alter ein stimmiges Identitätsbild entstehen kann. Zur genaueren Betrachtung der Identität im Alter ist eine Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlichen Altersforschung erforderlich. Wie über die gesamte Lebensspanne hinweg wird hier davon ausgegangen, dass Identität auch im Alter ein flexibles Konstrukt darstellt, das im intersubjektiven Austausch mit anderen immer wieder neu ausgehandelt wird (vgl. ▶ [572]). Damit ist das Konzept der narrativen Identität angesprochen. Die Definition dieses Konstrukts soll in diesem Kapitel noch weiter geschärft werden.
Untersuchungen zeigen weiterhin, dass im Alter die Identitätskomponente „Eigenständigkeit und Individualität“, welche im Erwachsenenalter dominiert, zugunsten von „Gemeinschaftlichkeit und Sozialität“ abnimmt (s. ▶ [343]). Die Herausforderung von Identitätsbildung im Alter besteht folglich insbesondere in der Akzeptanz altersspezifischer Veränderungen, die beisielspweise durch Krankheiten entstehen und mit einem Autonomieverlust einhergehen. Daher wird in diesem Kapitel beleuchtet, worauf Menschen höheren Lebensalters zurückgreifen, um eine gelingende Identitätsbildung leisten zu können, welche in enger Verbindung mit der empfundenen Lebensqualität steht ▶ [77]. In diesem Zusammenhang wird auch das komplexe Konstrukt der Lebensqualität näher betrachtet.
Schließlich wird abschließend auf die Auseinandersetzung mit Krankheit im Alter eingegangen. Hieraus können Ansatzpunkte für den therapeutischen Umgang mit älteren Menschen abgeleitet werden.
2.2 Identitätsbild im Alter
Entsprechend der aktuellen Definition im Lexikon für Psychologie meint Altersidentität die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe. Alter fungiert laut dieser Begriffsbestimmung als soziale Kategorie, d.h., die Zuordnung erfolgt auf der Basis eines sozial geteilten Verständnisses von Alter. Das Alter stellt dabei eine relevante Größe zur Selbstdefinition dar (vgl. ▶ [1193]). Anders als andere soziale Kategorien, wie z.B. das Geschlecht oder die Nationalität, bedeutet das Alter jedoch eine sich über die Lebensspanne kontinuierlich verändernde Gruppenzugehörigkeit. Dabei werden die charakteristischen Zuschreibungen zu verschiedenen Altersstufen über die Bestimmung durch biologische Prozesse hinaus sozial ausgehandelt und bestimmt. Diese interaktionelle Aushandlung von Alterszuschreibungen kommt auch in der Beschreibung des Altersprozesses als „Doing Age“ ▶ [639] zum Ausdruck. Damit schließt die Definition an den sozialkonstruktivistischen Diskurs an. Hiernach finden Identitätsentwicklungsprozesse altersphasenabhängig im Zusammenspiel zwischen gesellschaftlichen und individuellen Deutungsmustern statt (vgl. ▶ [25]). In diesem Wechselspiel wird die Identität konstruiert. Darüber hinaus zeigt die Definition, dass Identität flexibel ist und sich über die Lebensspanne verändert. Diese Begriffsbestimmung bezieht sich zunächst allgemein auf die identitätsstiftende Wirkung von Alter.
Identität entwickelt sich altersphasenabhängig durch individuelle und interaktionale Konstruktionen.
Der Begriff der Altersidentität wird aber auch enger gefasst und genutzt, um die besonderen biologischen wie auch sozialen Anforderungen im höheren Lebensalter und die damit verbundenen Identitätsentwicklungsprozesse darzustellen. Häufig findet sich hier auch der Begriff der „Alternsidentität“. Während Alter auf die spezifischen Bedingungen referiert, die sich für das Verhalten und Erleben aus dem Alter heraus ergeben, verweist der Begriff des Alterns auf die Bedingungen für den Prozess des Älterwerdens selber ▶ [832]. Meist wird diese Differenzierung in der Literatur jedoch nicht streng durchgehalten, was sich auch darin zeigt, dass von „Alter(n)sidentität“ gesprochen wird. Im Folgenden wird daher der Begriff der Altersidentität verwendet, womit sowohl Bezug genommen wird auf die Bedingungen des Alterns als auch auf die Spezifika, die sich daraus ergeben. Zunächst soll nun auf die Herausforderungen, die an die Entwicklung der Altersidentität gestellt werden, eingegangen werden. Im Anschluss wird der Umgang damit thematisiert, um daraus Konsequenzen für die Altersidentität abzuleiten.
2.2.1 Altersspezifische Herausforderungen
Im Alter müssen biologische Veränderungen wie physiologische Abbauprozesse und pathologische Veränderungen (s. Kap. ▶ 1.4.2) bewältigt werden. Dies beinhaltet auch den Umgang damit, dass Kulturtechniken wie Autofahren oder der Gebrauch eines PC zunehmend nicht mehr beherrscht werden. Schließlich gehört auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod dazu.
Des Weiteren gilt es, mit sozialen Veränderungen umzugehen. Alterstypische soziale Veränderungen können auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Auf beruflicher Ebene markiert das Ausscheiden aus dem Beruf bzw. die Berentung einen Wendepunkt. Über den Umgang mit den finanziellen Veränderungen hinaus gilt es dann, neue, alternative Tätigkeiten zu finden. Auch auf familiärer Ebene ergeben sich Umstellungen. So verändert sich beispielsweise die Rollenzuordnung durch den Übergang von der Eltern- in die Großelternrolle. Fiehler ▶ [343] charakterisiert diesen Wechsel als Übergang von einer Gestaltungs- in eine Unterstützungsrolle. Damit vollzieht sich ein Dominanzverlust, mit dem einhergehend andere Familienmitglieder zu Entscheidungsträgern werden. Mit zunehmendem Alter oder wachsender Pflegebedürftigkeit nimmt der Verlust an Dominanz und damit auch an Autonomie weiter zu. Diese Entwicklung setzt sich noch weiter fort bei einer möglichen Veränderung der Wohnsituation. Mit der Unterbringung in einem Alten- oder Pflegeheim steht wiederum ein fortschreitender Autonomieverlust in Verbindung (s. Kap. ▶ 1.5.1). Auf der Beziehungsebene ergeben sich durch das Ende der Berufstätigkeit, aber auch durch die veränderten familiären Rollen Veränderungen mit abnehmenden sozialen Kontakten bis hin zu sozialer Isolation. Die sozialen Beziehungen werden zudem durch die physischen Veränderungen wie z.B. die abnehmende Mobilität beeinflusst. Zudem muss ggf. der Tod von Ehepartnern, Verwandten und Freunden verarbeitet werden.
Zusätzlich zu den sozialen Veränderungen müssen ältere Menschen einen Umgang mit den gesellschaftlichen Altersbildern finden, den sog. „Altersattribuierungen“. Hier sind sowohl negative wie positive Einschätzungen zu nennen ▶ [550]. Einerseits zeigen sich negative Altersstereotype wie die Zuschreibung einer verminderten kognitiven Leistungsfähigkeit, woraus sich beispielsweise berufliche Nachteile ergeben. Andererseits existieren auch vermehrt positive Altersbilder, welche die spezifischen Fähigkeiten älterer Menschen resultierend aus ihrer Lebenserfahrung betonen ▶ [1209].
Die skizzierten Veränderungen sind individuell unterschiedlich ausgeprägt, d.h., sie betreffen die älteren Menschen in unterschiedlichem Maße und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Ferner gehen sie mit unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien einher. Insgesamt zeigt sich aber, dass ältere Menschen trotz der beschriebenen Einschränkungen und Verluste sowohl eine hohe Lebenszufriedenheit als auch ein hohes Maß an positiven Emotionen erleben (z.B. ▶ [1048]). Dies wird als „Wohlbefindensparadox“ bezeichnet ( ▶ [371], S. 283, s. auch Kap. ▶ 2.3). Zurückgeführt wird dieser irritierende Befund u.a. auf eine gelungene Bewältigung der Herausforderungen des Alters. Im Folgenden soll insbesondere im Anschluss an die narrative Gerontologie darauf eingegangen werden, dass die Bearbeitung der Veränderungen maßgeblich kommunikativ erfolgt (z.B. ▶ [106]). Davon ausgehend werden Identitätskonstruktionsprozesse durch biografische Erzählungen unmittelbar zugänglich. Aus dieser Erklärung können wiederum Ansätze für die sprachtherapeutische Arbeit abgeleitet werden.
Wohlbefindensparadox
Trotz altersspezifischer Verluste und Einschränkungen erleben ältere Menschen eine hohe...