Sonntag, 26. Januar 2003
Meine Tasche ist schnell gepackt. Zwei Paar Jeans, zehn weisse T-Shirts, Turnschuhe, ein mit Insektizid vorbehandeltes Moskitonetz, Medikamente, Laptop, Tonband, Schreibunterlagen. Bevor mich mein Mann und unsere beiden Kinder an den Flughafen bringen, überprüfe ich nochmals die Handtasche: Pass mit Visum, vierhundert Euro, Ticket, Buch, alles dabei. Endlich – es kann losgehen. Dank eines Zeitungsberichts über den positiven Verlauf der Verhandlungen ist meine Familie nicht mehr ganz so vehement gegen mein Unterfangen. Alles ist gut.
Dann stehe ich vor dem Check-in-Schalter, zücke mein Ticket. Die Groundhostess macht grosse Augen, meint: «Nach Abidjan wollen Sie?», erwartet allerdings keine Antwort, sondern spricht gleich weiter: «Heute fliegen wir nicht! Wenden Sie sich bitte an den Informationsschalter der Air France.»
Dort sagt man mir, es habe in Abidjan schwerste Ausschreitungen gegeben. Air France fliege frühestens am Mittwoch wieder. Versprechen könne man mir dies allerdings nicht.
Wieder zu Hause und ziemlich enttäuscht, telefoniere ich mit Lotti. Ihre Stimme, die ich zum ersten Mal höre, ist klar, warm und fröhlich. Als sie meine vernimmt, meint sie: «Schön, dich zu hören, schön, dass du nicht Berndeutsch sprichst, das wäre mir zu langsam gewesen.»
Wir lachen, auch weil wir spüren, dass wir uns nicht nur schriftlich gut verstehen. Dann sage ich, ich käme morgen nicht. Lotti weiss es, weiss, dass der Flughafen in Abidjan geschlossen wurde, weil präsidententreue Demonstranten im Stadtzentrum gegen französische Einrichtungen randalieren. Sie werfen Frankreich vor, zu grossen Druck auf Gbagbo ausgeübt, ihn quasi zur Unterschrift gezwungen zu haben. «Die Hoffnung auf Ruhe und Frieden ist», erzählt Lotti, «geplatzt wie eine Seifenblase. Was bleibt, ist Angst. Aber mach dir keine Sorgen um mich. In den Slums ist es vorläufig noch ruhig.»
Auf meine Frage, ob ich am Mittwoch kommen solle, rät sie mir, weiterhin Zeitungen zu lesen und von Tag zu Tag zu entscheiden. Sie könne unmöglich sagen, was hier noch abgehen werde. «Was ich aber sicher weiss, ist, dass ich in den nächsten Tagen den Slum nicht verlasse und nicht am Cyber-Café vorbeikomme. Maile nicht, telefoniere.»
Montag, 27. Januar 2003
Ich lese Zeitungen und bin nicht mehr frustriert, dass ich nicht fliegen konnte, sondern unendlich froh, daheim zu sein. Der «Tages-Anzeiger» schreibt:
«Die von Frankreich vermittelte Einigung auf ein Friedensabkommen für die Elfenbeinküste hat schwere Unruhen in Abidjan ausgelöst. In der Wirtscbaftsmetropole protestierten am Sonntag mehrere Tausend Menschen gegen die Übereinkunft, die nach ihrer Ansicht den Rebellen im Norden und Westen des Landes zu weit entgegenkommt. Die Anhänger von Präsident Laurent Gbagbo warfen der Regierung in Paris vor, mit dem Friedensplan ein Pulverfass aufgemacht zu haben. Zentrum der Ausschreitungen war die französische Botschaft. Dort kam es zu Explosionen. Französische Soldaten setzten Wasserwerfer und Tränengas gegen die aufgebrachte Menge ein. Französische Geschäfte wurden geplündert, französische Schulen gestürmt. Von Paris aus rief Gbagbo die Bevölkerung zur Ruhe auf.»
Donnerstag, 30. Januar 2003
Die Medien berichten von anhaltenden Unruhen in der Wirtschaftsmetropole Abidjan. Davon, dass die Armee der Elfenbeinküste den in Paris abgeschlossenen Friedensvertrag mit den Rebellen im Norden des Landes ablehnt und dass Augenzeugen von zahlreichen Leichen in den Strassen und von brennenden Moscheen und Kirchen sprechen. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich trifft Vorbereitungen zur Evakuierung ihrer Staatsbürger. Bereits sind fast zweihundertfünfzig Menschen, vor allem Frauen und Kinder, nach Frankreich oder ins Nachbarland Ghana gebracht worden.
Immer wieder versuche ich, mit Lotti telefonischen Kontakt aufzunehmen. Erfolglos.
Sonntag, 2. Februar 2003
Endlich! Ich erreiche sie. Lotti tönt gut, was sie erzählt, ist alles andere.
Die grossen Firmen, auch Nestlé, haben ihre Fabriken geschlossen, die Situation wird von Tag zu Tag prekärer. Die Slums seien, meint sie, für die Randalierenden aber nach wie vor von keinem Interesse. Und weiter: «Falls sich dies ändert und ich – als einzige Weisse im Quartier – um mein Leben fürchten muss, habe ich mit meinen Mitarbeitern im Spital ausgemacht, dass ich mich im Notfall in die Leichenhalle begebe und sie mich dort mit einem weissen Tuch zudecken.»
Die Gänsehaut, die meinen Rücken überzieht, beweist mir, wie nah mir Lotti in den letzten Monaten gekommen ist.
Die Situation wird für sie von Tag zu Tag bedrohlicher. Bald hat sie kein Benzin mehr im Auto und muss ihren «sicheren Hafen» wohl oder übel verlassen, um im Zentrum zu tanken. Vier junge Männer haben sich dazu anerboten, sie als Bodyguards zu begleiten. Ihr grösstes Problem ist das Auftreiben von Nahrung. Die Preise sind explodiert, inzwischen ist fast nichts mehr zu bekommen.
Auch fehlen, nun wo die Fabriken ihre Türen geschlossen haben, die Gratislieferungen – der Lebensmittelvorrat für Ambulatorium und Sterbespital reicht nur noch für ein paar Tage. Zwar hat Lotti noch Geld, aber das schmilzt wie Schnee in der Sonne, nicht nur wegen der exorbitanten Preise, sondern auch weil die Spender, die bis anhin so grosszügig gewesen sind, nun damit rechnen, dass ihre Gelder gar nicht mehr an den richtigen Ort gelangen, und die Spenden einstellen, was Lotti versteht.
Als ob dies nicht genug wäre, fordert die Ausgangssperre nach wie vor ihren Tribut. Viele sterben, weil im Slum niemand ein Telefon hat, um im Notfall die Polizei kommen zu lassen, die die Patienten ins Spital bringt. Komplizierte Geburten während der Nacht enden oft tödlich. «Haben wir einen Notfall, kann ich zwar telefonieren, bekomme dann aber oft zu hören, man hole niemanden ab, das Benzin sei ausgegangen. Das ändert sich allerdings schnell, wenn ich Schmiergeld in Aussicht stelle. Trotzdem ist letzte Nacht ein Asthmatiker gestorben.»
Wenn ich mir schon solche Sorgen um Lotti mache, wie gross müssen dann erst die ihrer Familie sein? Ich muss die Frage nicht aussprechen, Lotti hat sie gespürt: «Mein Mann hat mich gestern dazu aufgefordert, Abidjan zu verlassen. Ich habe ihn beruhigen können, habe ihm versprochen, nichts zu riskieren. Gestern hat mir eine Freundin, eine Weisse, gesagt, sie habe vier Ausreisetickets für Mittwoch organisieren können und würde mir eines schenken, falls ich mitkommen wolle.»
Trotz allem lacht Lotti am Telefon immer wieder, ist kommunikativ, herzlich und widerspricht aufs Vehementeste, als ich philosophiere, dass, wenn sie das Land verlässt, auch das Glück die Armen verlasse. Sie erzählt dann aber doch, dass die Menschen ihr sagen, sie müsse sich keine Sorgen machen, sie sei von Gott geschickt und er würde sie beschützen.
Als ich endlich aufhänge, habe ich zwar die Gewissheit, dass es Lotti den Umständen entsprechend gut geht, nicht aber die Gewissheit, dass es dort unten bald Frieden geben wird. Im Gegenteil. Wir verbleiben so, dass wir unser Vorhaben verschieben, wenn es sein muss um Monate. Die Hoffnung, dass ich den Ort, wo sie lebt und arbeitet, irgendwann mit all meinen Sinnen erleben werde, hat sie – trotz allem – nicht aufgegeben. Mir bleibt die Hoffnung, dass dies tatsächlich so ist.
Donnerstag, 27. März 2003
Ich telefoniere abermals, will einfach wissen, wie es ihr geht. Sie erzählt, sie habe ein neues Projekt. Ein Mütter- und Kinderheim, denn: «Es geht nicht mehr an, dass Kinder von schwer aidskranken Müttern ganze Wochen in einem Sterbespital verbringen müssen.»
Nach wie vor ist alles chaotisch, die Ausgangssperre gilt immer noch. Die Lage, meint Lotti, habe sich aber beruhigt: «Nimm jetzt einfach all deinen Mut zusammen und komme! Komme einfach.»
Ich antworte ihr, dass ich momentan noch an einem anderen Buchprojekt arbeite und eine Reise vor Juni nicht möglich sei. «Juni ist gut! Aber komm erst nach dem vierten. Vom 25. Mai bis zum 4. Juni bin ich bei meiner Familie in Kairo, um den vierzehnten Geburtstag von Sarah, unserer Jüngsten, zu feiern.»
Donnerstag, 5. Juni 2003
Ich unterbreche die zweimonatige Funkstille, telefoniere, frage, wie es in Kairo war, und bekomme die Antwort: «Wundervoll.» Ein zweites «Wundervoll» erhalte ich auf meine Ankündigung, ich würde in acht Tagen reisen. «Das ist gut, sehr gut. Du kommst im richtigen Moment, die Ausgangssperre ist seit dem 10. Mai aufgehoben. Wir können sogar zusammen auf den Nachtmarkt gehen und ein afrikanisches Bier geniessen!» Lotti tönt gut. Ihre Stimme verblüfft mich in ihrer klaren, hellen, sprudelnden Art immer wieder. Sie rät mir noch, Gummistiefel mitzubringen, es sei Regenzeit.
Ich buche den Flug,...