Es war der 28. Mai 2006. Ein Sonntag. Steven und sein Bruder Brian standen um sieben Uhr morgens auf. Der Himmel über dem Zürcher Oberland war leicht bedeckt, die Luft war frisch. Ein gewöhnlicher Frühlingstag. Sie waren allein in der Wohnung in Volketswil. Die Mutter war mit ihrem Partner übers Wochenende ins Tessin gefahren.
Steven zog wie immer nur das Nötigste an. Shorts mit praktischen Beintaschen, ein blaues T-Shirt, leichte Trekkingschuhe. Die Brüder packten ein bisschen Proviant in einen Rucksack, Karabinerhaken, einen Klettergurt.
Vor dem Haus wartete Heinz, Brians Kollege aus der Nachbarsiedlung. Sie hatten schon im Sandkasten miteinander gespielt. Die drei gingen zu Fuß an Wohnblöcken, Schrebergärten und dem Dorfbach entlang zum Bahnhof Schwerzenbach, wo sie in den Zug nach Zürich stiegen. Dort, auf einem Parkplatz beim Hauptbahnhof warteten in einem dunkelgrünen Land Rover Defender fünf Kollegen, alle zwischen siebzehn und neunzehn Jahre alt. Stefan saß am Steuer. Der Geländewagen gehörte Jans Vater. Jan, Steven und andere aus der Clique waren in den letzten Jahren schon Tausende Kilometer mit diesem Auto gefahren. In die Schweizer Berge, an Felsküsten in Sardinien, Kroatien, Südfrankreich. Der Wagen bietet mit seinen längs im Heck eingebauten Sitzbänken Platz für acht Personen und viel Material.
Diesmal saß nicht Stevens übliche Clique im Auto, sondern eine zusammengewürfelte Gruppe: die zwei Brüder Steven und Brian Mack, Freunde und Kollegen von Kollegen. Ihr Ziel: das Wallis. Simplongebiet. Ganterbrücke. Abseilen, vielleicht Brückenspringen. Einfach einmal losziehen. Einen guten Tag in den Bergen erleben. Keiner wusste, was ihn an diesem Tag erwartete. Was der andere wagen, wer wie mutig sein würde. Steven, vor zwei Monaten zwanzig geworden, war der Älteste. Und der Einzige, der schon von Brücken gesprungen war. In den Bergen gilt: Wer am meisten Erfahrung hat, trägt die Verantwortung. Steven war an diesem Tag also verantwortlich für sieben Teenager. Er versuchte es locker anzugehen, machte die Sprüche, die er immer machte, wenn sie in die Berge fuhren, vor einem Abenteuer standen: »Ist euch bewusst, dass wir heute alle sterben können?« »Habt ihr euer Testament geschrieben?« Gelächter und Buhrufe im Wagen. Brian witzelte: »Steven, wenn du heute stirbst, will ich deine Stereoanlage erben.«
Die Stimmung auf der Fahrt ins Wallis war eine Mischung aus Vorfreude und Anspannung. Jeder im Auto kannte diese Gefühle: Man geht aus dem Haus, fährt los. Raus aus dem Dorf, der Stadt. Raus aus dem Alltag, weit weg vom Gymnasium, von der Lehre, der Berufsschule. Raus aus dem »zubetonierten Leben«, wie Steven gerne sagte.
Raus. In die Natur. In die Welt, wo der Mensch ganz klein ist. Wo Berge den Himmel berühren, wo Steilwände in Schluchten enden, Wind und Wetter unberechenbar sind. Wo es unbeschreiblich schön ist, wild auch, und gefährlich. Wo man Berge bezwingen, Wände »rocken«, sich abseilen und in die Tiefe stürzen kann. Die Macht der Natur hautnah spüren. Sich ihr aussetzen. Entgegenstellen. Sich mit ihr messen. Wer bezwingt wen? Es ist das Spiel um Kalkül und Risiko. Leben und Tod. Adrenalin pur. Die körpereigene Glücksdroge. Das war es, was die acht jungen Männer liebten.
In Kandersteg steuerte Stefan den Land Rover auf einen Waggon des Autoverlads der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn. Auf der anderen Seite des Tunnels, im Wallis, war das Wetter schöner. Ein starker Wind trieb einzelne große weiße Wolken vor sich her. Das Tal und die Bergflanken auf der anderen Seite leuchteten im warmen Licht der Frühlingssonne. Von Goppenstein fuhren sie runter nach Brig, dort, auf der anderen Talseite, wieder hinauf, die steile und kurvenreiche Passstraße hoch Richtung Simplon. Meter um Meter in die Höhe, immer weiter weg vom tiefen Tal immer näher zu den hohen Bergen, zu Fels, Schnee und Himmel: Das, so sagte einer im Auto, sei wie »der langsam ansteigende Trommelwirbel vor dem Höhepunkt im Konzert«. Das Crescendo zum Höhenrausch.
Am Ende der Bergflanke, wo man noch ein letztes Mal nach Brig und ins Tal hinunterschauen kann, fuhr der Land Rover die lang gezogene Linkskurve in das Seitental, wo tief unten die Ganter fließt. Auf diese Kurve folgt ein erster Höhepunkt. Links und rechts steil abfallende Hänge, im Sonnenlicht schimmerndes Grün in allen Schattierungen. Dichte Bergwälder. Föhren, Lärchen und Fichten, dazwischen kleine Wiesenflecken. Tief unten, wo sich die Talflanken in einem spitzen Winkel treffen, ist der breite Bergbach nur noch ein schmaler Streifen. Ställe und Alphütten sehen von oben aus wie Streichholzschachteln. Hinten, am Ende des Tals, steigen die Berge steil an, das Grün wird immer weniger, mischt sich mit Braun, Braun mischt sich mit Grau, Grau mit Weiß. Das Licht wird heller, die Konturen verschwinden, bis alles weiß ist. Ewiger Schnee. Darüber der Himmel. Offen, unendlich.
In der Mitte dieses Bildes, im Taltrichter, noch mehrere Hundert Meter entfernt, konnten die acht jungen Männer ihr Ziel bereits sehen – klein und fragil in dieser mächtigen Landschaft, gleichzeitig gigantisch und elegant: die Ganterbrücke. Ein monumentales Bauwerk.
Sie ist die höchste Brücke der Schweiz. 150 Meter über dem Bergbach überquert sie in einem S-Bogen auf einer Länge von 678 Metern das Gantertal. Unter Bauingenieuren ist sie weltweit ein Begriff. Entworfen hat die »Ganterbrigga«, wie sie die Walliser nennen, der bedeutendste Schweizer Brückenbauer, der Bündner Christian Menn, geboren 1927, Ingenieur, emeritierter Professor der ETH. Die Brücke, 1980 dem Verkehr übergeben, gilt als technisches Wunderwerk. Bei herkömmlichen Brücken ist die Fahrbahndecke beweglich auf den Pfeilern gelagert, und diese sind fest im Boden verankert. Bei der Ganterbrücke ist es umgekehrt: Die Fahrbahn ist an den Pfeilerköpfen fixiert, die Pfeilerfüße stehen auf Gleitlagern im Boden – und sind damit beweglich. Dies ist nötig, weil die Brücke auf rutschenden Berghängen steht. Dank dieser Konstruktionsart kann der Betongigant bis zu einem halben Meter Richtung Berg in die korrekte Position geschoben werden. Einmal war das schon nötig, das nächste Mal wird es ungefähr im Jahr 2050 so weit sein.
Stefan nahm den Fuß etwas vom Gaspedal. Diese Berge! Dieses Tal! Die Brücke vor ihnen wurde immer größer, der Mut bei manchem immer kleiner. Sie hatten die Brücke noch nicht überquert, da war es für die meisten innerlich schon entschieden: Nie im Leben springe ich da runter! Vielleicht beim letzten Pfeiler nahe beim Hang ein bisschen Abseilen, das ja. Aber aus hundertfünfzig Metern am Seil ins Nichts hinausspringen – nie.
Der Land Rover nahm die letzte Kurve, verließ den festen Boden der Passstraße, fuhr auf die Fahrbahn der Brücke. Vom Auto aus sahen sie nicht über die Brückenbrüstung ins Tal hinunter. Doch sie alle spürten unter sich den Abgrund, das Nichts. Die Brücke war bei Selbstmördern beliebt. Ein sicherer Tod. Vor Jahren hatte die Telefonseelsorge-Organisation Die Dargebotene Hand ein Schild mit ihrer Notrufnummer 143 an die Brücke montiert.
Auf der anderen Seite der Brücke wies Steven seinen Kollegen am Steuer an, das Fahrzeug rechts in einen Parkplatz zu lenken, wo Reisende gerne haltmachen, um das imposante Bauwerk zu fotografieren. Es war kurz nach Mittag. Die meisten hatten Hunger und packten ihren Proviant aus. Steven und Jan holten zwei siebzig Meter lange Kletterseile, Gartenschläuche, Klettergurte und Grigris, halbautomatische Sicherungsgeräte, aus dem Wagen. Mit dem Material auf den Schultern marschierten sie zu Fuß auf der Gegenfahrbahn der Leitplanke entlang zur Brückenmitte. Der Wind blies heftig vom Tal herauf. Radrennfahrer, die ihnen entgegenkamen, mussten absteigen, damit sie nicht umgeblasen wurden. Zwischen dem zweiten und dem dritten Pfeiler, noch nicht ganz in der Mitte der Brücke, begannen Steven und Jan mit den Vorbereitungsarbeiten.
Pendelspringer stürzen sich an gewöhnlichen Kletterseilen in die Tiefe, nicht an einem Gummiseil wie beim Bungee-Springen, und sie springen nicht dort ab, wo die Seile befestigt sind, sondern dreißig bis vierzig Meter daneben. So erreichen sie die Pendelbewegung, wenn sich die Seile spannen.
Steven und seine Freunde hatten neue, 9,5 Millimeter dicke Seile mitgenommen. Extrem reißfeste und sogenannt dynamische Seile, die zweieinhalb Tonnen halten und sich unter Spannung mehrere Meter ausdehnen können.
Um die Seile vor Abrieb am Brückengeländer zu schützen, zogen sie an einem ihrer Enden meterlange Teile von Gartenschläuchen darüber. Steven wickelte das Hauptseil mehrmals um einen dicken Eisenpfosten der Leitplanke und knotete es fest – so, dass die Gartenschläuche über den Kanten und der Brüstung der Brücke lagen. Jan tat dasselbe mit dem Sicherheitsseil. Sie installierten die Seile so, dass das zweite für die Sicherheit drei Meter länger war – als Lebensversicherung, falls das erste reißen sollte. Eine...