Vom Verstehen zur Interpretation
Es ist gar nicht so einfach, das subjektive Verstehen eines Gedichts, in Form der subjektiven Textwahrheit, von der Interpretation eines Gedichts zu trennen. Das liegt daran, dass beide Formen des Verstehens aufeinander aufbauen und miteinander verwoben sind.
Wenn wir eine subjektive Textwahrheit entwickeln, dann geschieht dies, indem wir den Text interpretieren und unsere Art, ihn zu lesen, reflektieren. Vor allem der letztgenannte Teil ist für die sTW sehr wichtig – wir versuchen zu verstehen, warum der Text in dieser oder jener Weise auf uns wirkt.
Dazu reflektieren wir unseren Leseprozess – oder anders ausgedrückt: Wir beobachten und hinterfragen unsere Art des Lesens und Verstehens, um uns selbst und den Text besser kennenzulernen.
Bücher ermöglichen es also, etwas über uns selbst zu lernen.
Ganz einfach geschieht dies zunächst einmal über den Inhalt – klar.
Wir lesen einen Text und finden beispielsweise Ansichten darin, die wir vollkommen teilen. … Oder solche, die wir ablehnen. … Oder solche, die wir unbewusst auch hegen, die uns aber erst jetzt durch das Lesen deutlich werden.
Sie merken schon, ein Buch kann uns allein durch seinen Inhalt und unser Verhältnis dazu sehr viel über uns selbst verraten.
Aber es gibt noch eine weitere, tiefergehende Ebene des Selbstverständnisses, die ein Text erst dann eröffnet, wenn wir unsere Art des Lesens und Verstehens beobachten.
Sie werden das später noch erleben.
Schade ist, dass diese Annäherung über den subjektiven Zugang in der Schule erst seit ein paar Jahren verstärkt beachtet wird.
Viele Menschen haben deshalb ein eher gestörtes Verhältnis zur Lyrikuntersuchung.
Denn seien Sie ehrlich:
Wie oft haben Sie sich in der Schulzeit gefragt, weshalb Sie ein Gedicht interpretieren müssen?
Wie oft hatten Sie das Gefühl, der Text würde dabei ‚zerredet‘ werden?
Und hatte das Lesen für Sie noch einen Zauber, wenn es hieß, eine Analyse vorzunehmen oder eine Interpretation schreiben zu müssen?
Falls nicht, kann ich Ihnen versichern – Sie sind mit dieser Erfahrung nicht allein.
Häufig kommen Menschen aus der Schule und sind vom Deutschunterricht enttäuscht.
Das liegt aber nicht, wie viele jetzt vielleicht behaupten werden, an den Lehrerinnen und Lehrern. Natürlich gibt es immer gute und weniger kompetente Lehrkräfte. Aber egal wie gut ein Lehrer ist – er muss sich letztlich an den Rahmenplan halten und der sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler Text analysieren und interpretieren.
Ich spreche in diesem Zusammenhang übrigens lieber von der Untersuchung eines Textes, also in unserem Fall von Gedicht- oder Lyrikuntersuchung.
Das hat den Vorteil, dass in dem Begriff Untersuchung die Begriffe Analyse und Interpretation zusammenfallen.
Es ist übrigens ein Märchen, wenn jemand behauptet, man könne ein Gedicht interpretieren, ohne es zu analysieren. In dem Moment, in dem Sie beginnen, den Text zu lesen, machen Sie nämlich bereits beides – Sie analysieren die Schriftzeichen, setzen sie zu Wörtern und Sätzen zusammen, und Sie interpretieren die diese Wörter und Sätze dann, um überhaupt erst einmal eine Idee vom Inhalt des Textes zu bekommen.
Nein, Analyse und Interpretation gehören zusammen.
Und die Analyse kann sogar Spaß machen.
Wirklich.
Sie werden es erleben.
Und damit sie Spaß macht, beziehen wir sie auf Ihre Art des Lesens.
Wir analysieren den Text und wir analysieren dessen Wirkung auf Sie.
Aber dazu später.
Zuvor wollen wir ja noch immer verstehen, was die Interpretation von der sTW unterscheidet. Und da komme ich nun zurück auf die Schule.
Denn die Interpretation als das Ergebnis einer Handlung – nämlich als Ergebnis des Interpretierens – ist heutzutage vor allem in der Schule und der Universität beheimatet.
Die Entwicklung einer Interpretation wird oft beschrieben als die Suche nach einem tiefergehenden Sinn, nach der Bedeutung, die ‚hinter den Wörtern‘ liegt.
Die Interpretation ist also die Suche nach einer weitergehenden als der eigentlichen Wortbedeutung.
Und wir finden diese Bedeutung, indem wir den vor uns liegenden Text einer gründlichen Analyse unterziehen.
Das klingt alles erst einmal ziemlich einfach.
Warum fällt es uns dann in der Umsetzung oftmals so schwer?
Warum haben wir irgendwann das Gefühl bekommen, dass wir nicht in der Lage wären, die ‚richtige‘ Bedeutung zu finden, dass unsere Interpretation immer an der eigentlichen Textbedeutung vorbei ginge?
Ich glaube, dass hier ein Knackpunkt liegt, der die Unbeliebtheit der Interpretation als Aufsatzform erklärt.
Denn seien Sie ehrlich:
Wie oft hatten Sie das Gefühl, dass es immer nur um die Bedeutung geht, die Ihre Lehrerin vertritt?
Irgendwie konnte man von seiner eigenen Interpretation noch so überzeugt sein, sie wurde schnell als nicht tiefgehend genug oder in ganz harten Fällen sogar als falsch abgetan. Jeder Mensch, der diesen Umgang mit seiner Textauseinandersetzung mehr als einmal erlebt hat, verliert verständlicherweise die Lust daran, immer wieder nach einer Bedeutung zu suchen.
Das Problem scheint hier zu sein, dass die schulische Interpretation als Aufsatzform und die allgemeine Vorstellung davon, was Interpretation eigentlich bedeuten solle, nicht völlig deckungsgleich sind.
Ich glaube, dass es vielen Menschen zunächst um das geht, was ich subjektive Textwahrheit genannt habe – nämlich um ein persönlich bedeutsames Verständnis des Textes als Anknüpfung an die eigene Lebenssituation.
Die Interpretation in der Schule hingegen bezieht sich zumeist auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen und lässt in der Kürze der Zeit kaum Luft für einen subjektiven Zugang.
Dabei lehnt sie diesen gar nicht ab.
Im Gegenteil setzt sie ihn sogar voraus.
Aber machen wir uns nichts vor – wer findet in nur wenigen Stunden einen wirklich reflektierten und durchdachten Zugang zum Text?
Stattdessen legen junge Menschen häufig den Schwerpunkt ihrer Textbetrachtung auf den Teil, der nach Zuordnungen fragt.
Das ist im Grunde ja auch einfacher.
Man hat bestimmte Merkmale auswendiggelernt und sucht diese nun im Text.
Hat man sie gefunden, kann man recht schnell sagen, weshalb ein Gedicht zu dieser oder jener Epoche gehört, oder weshalb es sich diesem oder jenem Motivkomplex zuordnen lässt.
Aber ist das für die Beschäftigung mit Literatur ausreichend?
Müssen wir nicht, gerade auch auf das Gedicht bezogen, viel stärker danach fragen, was es uns persönlich sagt und wie wir mit diesen neu gewonnenen Erkenntnissen umgehen wollen?
Auch wenn ich selbst diese Frage bejahe, möchte ich hier nicht die eine Art des Interpretierens gegen die andere ausspielen.
Ganz im Gegenteil möchte ich die zweite Form sogar stärken, indem ich die erste gemeinsam mit Ihnen in diesem Buch kultiviere.
Dazu werden wir folgendes tun:
Wir machen eine Unterscheidung zwischen der Interpretation ersten Grades, der subjektiven Textwahrheit, und der Interpretation zweiten Grades, der literaturwissenschaftlich orientierten Interpretation.
In diesem Buch wird es um die Interpretation ersten Grades gehen.
Denn die sTW als einer Form dieser Interpretation sollte meiner Meinung nach immer Grundlage der Interpretation zweiten Grades sein. Nur wenn Sie einen Text und dessen Wirkung auf Sie persönlich verstanden haben, können Sie auch weiterführende Fragen dazu beantworten.
Bevor ich Sie nun aber auf den folgenden Seiten an meine Vorstellung von Lyrikuntersuchung heranführe, muss ich Ihnen auch fairer Weise mitteilen, welchen Theorien von Literatur und Literaturverstehen ich zuneige.
Es sind die Hermeneutik und die Rezeptionstheorie.
Die Hermeneutik ist ein weit verbreiteter Ansatz, der vor allem nach der Bedeutung hinter der Bedeutung fragt. Hier geht es darum, dass ein Text mehr sagt, als inhaltlich ‚in ihm steht‘. Die Hermeneutik erhebt also den Text zur entscheidenden Instanz der Interpretation, denn der Leser soll diesen im Grunde ‚enträtseln‘ – also sehen, was hinter den Wörtern steht.
Wer sich zur Interpretationstheorie näher belesen möchte, kann u.a. zu dem Buch „Literatur- und Kulturwissenschaften“ von Sabina Becker greifen.
Originalbeiträge zur Interpretation sammelt der Reader „Moderne Interpretationstheorien“ von Tom Kindt und Tilmann Köppe.
Eine sehr gute Übersicht, nicht nur über die Theorie, sondern auch über die praktische Anwendung, geben schließlich Vera und Ansgar Nünning in „Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse“.
Die Rezeptionstheorie hingegen schaut vor allem auf den Leser (oder auch Rezipienten), weil dieser die Bedeutungssuche nicht nur beginnt, sondern in ihren Augen auch bestimmt. Demnach bietet der Text zwar Strukturen, an die im Leseprozess angeknüpft wird, doch die Art der...