Einführung
Das Ultimatumspiel
Sind wir Menschen wirklich Egoisten? Die Frage ist seit jeher umstritten. Philosophen, Religionsstifter und Psychologen haben sich darüber jahrhundertelang den Kopf zerbrochen. Zu einer Einigung haben sie es nicht gebracht. Doch es gibt ein einfaches Spiel, das mehr über uns verrät als endlose Debatten. Das Spiel heißt Ultimatumspiel, und es ist in den achtziger Jahren von Werner Güth, einem Kölner Wirtschaftswissenschaftler, eingeführt und seitdem vielfach wiederholt worden. Es gibt zwei Teilnehmer: Der Anbieter erhält eine bestimmte Summe, sagen wir 10 Euro, die er mit dem zweiten Spieler, dem Empfänger, teilen soll. Wie der Anbieter sie teilt, ist seine Sache. Der Empfänger kann den Betrag annehmen oder ablehnen. Nimmt er ihn an, dann erhalten beide ihren Anteil; lehnt der Empfänger den Betrag ab, gehen beide leer aus. Danach ist das Spiel zu Ende; eine zweite Runde gibt es nicht.
Wären Menschen tatsächlich reine Egoisten, dann wäre die Sache klar. Der Anbieter würde so wenig abgeben, wie eben möglich, denn dann käme er am besten weg. Der Empfänger würde jeden Betrag akzeptieren. Auch ein kleiner Betrag wäre schließlich besser als gar nichts. Affen, mit denen man das Experiment gemacht hat, verhalten sich in der Tat so: Die Anbieter behalten so viel wie eben möglich, und die Empfänger nehmen, was sie bekommen – nur wenn sie leer ausgehen, weisen sie das Geschäft zurück.
Menschen verhalten sich ganz anders. Als Anbieter überlassen sie ihren Mitspielern zwischen 40 und 50 % der Summe – als Empfänger verlangen sie mindestens 20 % – sonst weisen sie das Angebot zurück. Offensichtlich orientieren Menschen sich damit an Fairnessprinzipien, und sie verzichten dabei – als Anbieter und als Empfänger – auf mögliche persönliche Vorteile: Reiner Egoismus sieht anders aus. Immerhin käme der Anbieter in der Regel auch durch, wenn er eine geringere Summe abgeben würde. Und der Empfänger ist bereit, auf einen Gewinn zu verzichten, wenn das Angebot unfair ist. Offenbar will er den Anbieter, der in diesem Falle ebenfalls leer ausgeht, veranlassen, beim nächsten Mal ein besseres Angebot zu machen – auch wenn der Empfänger selbst dann keinen Vorteil daraus ziehen wird: Das Spiel ist, wie gesagt, nach einer Runde zu Ende. Affen interessieren sich offenbar nicht für Fairness – die Empfänger weisen unfaire Angebote im Allgemeinen nicht zurück. Doch selbst wenn sie es tun, lernen die Anbieter nicht, sondern bleiben bei ihrer Linie.
Das Experiment liefert einen ersten Hinweis auf ein Phänomen, das im Folgenden eine zentrale Rolle spielen wird: Menschen unterscheiden sich von Affen vor allem durch ihre höhere soziale Intelligenz. Soziale Intelligenz ist die Fähigkeit, die Beziehungen in einer Gruppe so zu regeln, dass das Zusammenleben gut funktioniert und möglichst wenig Konflikte entstehen. Fairness ist eine wesentliche Voraussetzung dazu: Wer seinen Partner übers Ohr haut, braucht sich nicht zu wundern, wenn er beim nächsten Mal alleine dasteht. Doch faires Handeln ist gar nicht so einfach: Man muss eine Vorstellung davon haben, was dem anderen zusteht, man muss sich selbst so unter Kontrolle haben, dass man dem anderen tatsächlich übrig lässt, was ihm zusteht. Schließlich sollte man einen Blick dafür haben, ob andere sich an die Regeln halten – und notfalls eingreifen, wenn sie das nicht tun. Mit anderen Worten: Es ist schon ein gewisses Maß an sozialer Intelligenz erforderlich, wenn sich Fairness wirklich in einer Gruppe durchsetzen soll.
Unterschiede in sozialer Intelligenz können drastische Konsequenzen haben – erkennbar ist dies an den großen Unterschieden zwischen Affenhorden und frühen menschlichen Gesellschaften. Affenhorden sind in der Regel streng hierarchisch aufgebaut. Ein Alphamännchen steht an der Spitze und hat den ersten Zugriff auf Nahrung und Sex. Die Kooperation zwischen den Mitgliedern der Horde dagegen hält sich in engen Grenzen. Steinzeitliche Horden von Jägern und Sammlern dagegen sind nach allem, was wir wissen, halbwegs egalitär. Anführer, wenn es sie denn gibt, verfügen nur über eine begrenzte Macht. Überschreiten sie ihre Grenzen, dann müssen sie mit dem Widerstand der anderen Gruppenmitglieder rechnen. Zudem herrscht hier ein hohes Maß an Kooperation. Die Mitglieder steinzeitlicher Horden gehen nicht nur zusammen auf die Jagd oder geben ihre Kenntnisse weiter; sie teilen auch ihre Beute und ihre Werkzeuge miteinander.
Menschen gewinnen damit eine ganze Reihe von wichtigen Vorteilen: Wer seine schnell verderbliche Beute teilt, statt sie verkommen zu lassen, kann damit rechnen, bei der nächsten Gelegenheit etwas von der Beute anderer Gruppenmitglieder abzubekommen. Angesichts der Launenhaftigkeit des Jagdglücks hat das beträchtliche Vorteile. Doch egalitäre, kooperative Gesellschaften sind viel komplexer als strenge Hierarchien. Wenn man seine Beute mit anderen teilt, muss man immer ein wenig im Blick behalten, wer zur Gemeinschaft beiträgt und wer nicht. Genau diesem Zweck dient die Orientierung an Fairnessprinzipien, wie Menschen sie im Ultimatumspiel zeigen. Doch auch einige übel beleumundete Emotionen wie Neid und Missgunst spielen offenbar eine wichtige Rolle für unsere soziale Intelligenz – sie dürften uns dazu motivieren, die Unterschiede und Ungerechtigkeiten in menschlichen Gesellschaften nicht überhandnehmen zu lassen. In frühen Phasen unserer Geschichte geschah dies sehr langsam, danach aber hat sich dieser Entwicklungsprozess immer weiter beschleunigt.
Machtstrukturen
Erkennbar wird damit die zentrale These dieser Arbeit: Machtstrukturen basieren nicht primär auf Gewalt, sondern auf sozialer Intelligenz. Und sie dienen dazu, das Verhalten der Gruppenmitglieder zu koordinieren, Konflikte zu vermeiden und Kooperationen zu ermöglichen. Nicht aus moralischen oder ideologischen Gründen, sondern weil es schlicht für alle besser ist. Um einander zu verprügeln, braucht man schließlich keine stabilen sozialen Beziehungen, und auch die Anforderungen an die Intelligenz der Kontrahenten sind eher moderat: Was man wirklich benötigt, sind Muskeln, ein paar Fäuste und vielleicht zwei stabile Knüppel. Doch gewaltsame Konflikte haben ihren Preis: Im günstigsten Fall verschwendet man Zeit und Energie, in weniger günstigen Fällen gibt es ernsthafte Verletzungen, oder man riskiert gar sein Leben. Und auch für Kooperationen sind solche Auseinandersetzungen eher hinderlich.
Machtstrukturen, so werde ich im Folgenden zeigen, versuchen, das soziale Zusammenleben so zu regeln, dass derartige Auseinandersetzungen vermieden werden. Damit schaffen sie gleichzeitig bessere Bedingungen dafür, dass eine Gruppe ihren eigentlichen Zweck erfüllen kann, nämlich dass sie die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder erleichtert. In beiden Fällen, bei der Kooperation ebenso wie bei der Vermeidung von Konflikten, spielt soziale Intelligenz die zentrale Rolle.
Soziale Intelligenz und die mit ihr möglichen Formen der Kooperation und Konfliktregulation machen es auch möglich, dass Menschen voneinander lernen und damit ihre Gesellschaft und ihre Kultur weiterentwickeln. Menschliche Gesellschaften wurden damit immer komplexer und meist auch größer. Es brauchte daher ein höheres Maß an sozialer Intelligenz, wenn Konflikte und Koordinationsprobleme nicht zunehmen sollten.
Offenbar kann hier eine Art Rüstungswettlauf in Gang kommen: Soziale Intelligenz kann die Kooperation verbessern und damit die Entwicklung einer Gesellschaft vorantreiben. Die Gesellschaft wird größer und komplexer, doch das erfordert mehr soziale Intelligenz. Gelingt eine solche Steigerung der sozialen Intelligenz nicht, dann können sich die Konflikte wieder verstärken, und die Kooperation nimmt ab. Wir werden sehen, dass wir gerade heute mit diesem Problem zu tun haben.
Konflikte und ökonomische Entwicklungen
Menschliche Gesellschaften existieren nicht im luftleeren Raum; ihre Entwicklung wird von einer Vielzahl äußerer Bedingungen geprägt. Besondere Bedeutung haben dabei zwei Faktoren. Zum einen haben äußere Konflikte einen wichtigen Einfluss auf Gruppenstrukturen. Unter äußerem Druck rücken Gruppen zusammen, begraben interne Konflikte und unterstützen schwächere Mitglieder: Äußerer Druck spielt z.B. bei der Entstehung der Demokratie in Griechenland eine wichtige Rolle, aber auch bei der Entwicklung von Wohlfahrtssystemen nach den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Sind die Konflikte vorbei, dann passiert das Gegenteil: Die Mitglieder rücken auseinander, und die Zahl der inneren Konflikte nimmt zu.
Dabei kommt der zweite Faktor ins Spiel: die ökonomische Entwicklung, insbesondere die Entwicklung der ökonomischen Ungleichheit. Die Jäger und Sammler der Steinzeit besaßen in der Regel gerade so viel, wie sie zum Leben benötigten – mehr konnten sie auf ihren Wanderungen auch gar nicht mitnehmen. Für ökonomische Unterschiede war auch deshalb einfach kein Raum. Doch mit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht sowie dem Beginn der Sesshaftigkeit in der Neolithischen Revolution vor ca. 12000 Jahren ändert sich das: Der Getreideanbau produziert Überschüsse, die sich zudem länger lagern lassen, auch weil man nicht mehr umherzieht. Ökonomische Ungleichheit entsteht, und die lässt sich leicht in politische Ungleichheit umsetzen: Wer mehr besitzt, vergrößert auch seinen politischen Einfluss.
Ökonomische und politische Macht konzentrieren sich nach der Neolithischen...