Heinrich Dickerhof, Präsident der Europäischen Märchengesellschaft meint, dass Märchen nicht nur als Gute-Nacht Geschichten eine wichtige Funktion erfüllen, sondern „…sind sprachliche Kostbarkeiten“. (Dickerhof, zit.nach FOCUS-SCHULE)
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Funktionen die ein Märchen zu erfüllen hat, indem soziale, psychologische, pädagogische, erzieherische und ästhetische Aspekte deutlicher aufgezeigt werden sollen.
Dem Märchen wird in der Regel ein sehr geringer Realitätsbezug zugeschrieben. Typisch sind diesbezüglich Begriffbestimmungen und Aussagen wie z.B. „Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung, besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte“ (Bolte, J./Polivka, G., zitiert nach Röhrich, 1979, S. 1)
Tatsächlich finden Leser und Hörer zahlreiche Beispiele für das Übernatürliche und Phantastische der Märchenwelt. So wundert sich niemand über sprechende und wie Menschen agierende Tiere, über Gestalten des Jenseits, die ganz selbstverständlich Kontakt zu lebenden Personen aufnehmen oder über Verwandlungen von Tier zu Mensch und umgekehrt. Jedes Volksmärchen ist aber auch direkt mit der Wirklichkeit verbunden. Die Helden sind in der Regel keine übernatürliche Wesen, sondern reale Menschen. Auch der Ausgangspunkt des Märchens ist meist eine real-mögliche Situation (vgl. Röhrich, 1979, S.3) Die real-möglichen Elemente des Märchen können Aufschluss geben über das soziale Milieu, soziale Ordnungen und Sozialkritik aus Sicht der jeweiligen Märchenträger, zu denen sowohl Erzähler als auch Hörer und Leser gehören. (vgl. Woeller, 1961 S.414)
Die Märcheninhalte und ihre Verortung in eine bestimmtes soziales Milieu hängen vor allem „von Lebensumständen der Trägerschichten und ihrer Stellung in der Gesellschaft ab“ (Neumann, 2006, Sp.918). Märchen reflektieren unterschiedlich deutlich die Lebensverhältnisse und Anschauungen der jeweiligen Trägergruppen. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich in den meisten Fällen um eine unbewusste Anpassung des Erzählers an die Wirklichkeit, in der er lebt, handelt. Die Tendenz, dass die Märchenhelden ebenso wie die Erzähler den unteren Sozialschichten angehören findet man bereits in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. So ist zum Beispiel „Hans im Glück“ eindeutiges Knechtmärchen.
Nicht nur in der Charakterisierung der Märchenfiguren, sondern auch in der Darstellung des täglichen Lebens spiegelt sich das soziale Milieu der Trägergruppen wieder. So ist in sehr vielen Märchen von großer Armut und Not die Rede. “ Die Märchenschilderungen von Essen und Trinken, Kleidung und sonstigen Lebensgewohnheiten, Sitten und Bräuchen“ runden das Bild einer äußerst einfachen sozialen Wirklichkeit ab“ (Röhrich, 1979, S.211)
Ein zentrales Thema in sehr vielen Märchen ist der soziale Aufstieg des Helden. Das Märchenende erzählt von großem Reichtum, vor allem aber vom Aufstieg des Helden der Heldin in den Königsstand. Dieser Aufstieg spiegelt den Wunsch der Märchenträger nach einem besseren, reicheren, einfacheren Leben wider. Je größer die gesellschaftliche Not von Erzählern und Hörern war, desto häufiger formten sie den traditionellen utopischen Märchenschluss in ein realistisches Ende um. (vgl. Woeller, 1961, S. 443)
Auch dass in relativ vielen Märchen direkt oder indirekt Sozialkritik in Form „Kritik an den jeweils bestehenden gesellschaftlichen, politischen und/oder rechtliches Verhältnissen“ (Tomkowiak, 2006, Sp. 938) geübt wird, zeigt dass die Märchenträger ihre eigene Umwelt in das Erzählte transportieren.
Zum Thema „Soziale Funktion des Märchens“ gehört auch der Aspekt der Sozialisation. In europäischen Volksmärchen wird Sozialisation nur selten direkt thematisiert. Vielmehr treten die Helden in der Regel als scheinbar fertig geformte soziale Persönlichkeiten auf. (vgl. Roth, 2006, Sp. 932) Sie sind schon bei ihrer Geburt erwachsen, als Kinder klug wie Könige, vollbringen Heldentaten oder sind Wunderkinder. Der Held verdankt demnach sein Wesen in der Regel nicht seinem sozialen Umfeld, sondern vielmehr der Vorbestimmung, dem Schicksal. Das Interesse der meisten Märchen gilt in erster Linie jedoch nicht den Lebensphasen, sondern den Statusveränderungen des Helden, wie zum Beispiel von jung zu alt oder von sozial niedrig zu sozial hoch. Mit dieser Darstellung sprechen Märchen „grundlegende Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung an und bieten vorbildliche Sozialisationsprozesse und Rollenmuster“. (vgl. Roth, 2006, Sp. 934)
Märchen vermitteln oft konservative Werte und Normen, weshalb sie nicht selten zur Sozialisation von Kindern und Erwachsenen, als Erziehungsmittel also, verwendet werden. Die Frage nach dem pädagogischen Wert von Märchen beschäftigt Autoren, Erzieher, Eltern und Wissenschaftler bereits seit dem 17. Jahrhundert. Im nächsten Abschnitt meiner Arbeit wird eine Auseinandersetzung mit dieser Frage versucht.
Die Funktion des Märchens hat sich im Laufe der Zeit mehr und mehr von der sozialen zur psychologischen Funktion gewandelt.
Das eigentliche Leben des Märchens findet heute in der Kinderstube statt. Um sich mit dem gegenwärtigen Leben des Märchens als Psychologe zu beschäftigen, muss man nach dem Verhältnis des Kindes zum Märchen fragen.
„Worauf beruht die Empfänglichkeit und Faszination des Kindes auf das Märchen?“,- fragt Charlotte Bühler (vgl. Lüthi, 1968, S. 84) Schon rein formal entspricht das Märchen den Bedürfnissen des kindlichen Denkens. Es ermöglicht wie keine andere Erzählform die Übung des Vorstellungsmechanismus. An seinen plötzlichen Übergängen (groß-klein, Versetzung an einen anderen Ort, Umschlagen in die Gegensituation etc.) kann das Kind, mit oft lebhaftem Vergnügen, die Fertigkeit und Gewandtheit des Vorstellens üben. Da das Kind jede Einzelheit mit großer Gefühlsintensität erlebt, genügt ihm die bloße Nennung von Figuren und Vorgängen. Zusätzlich dazu halten sich Wiederholung und Variation die Waage und es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Das Ungewöhnliche, das Wunderbare beschäftigt den Geist des Kindes. Wunsch und Gerechtigkeitsbedürfnis kommen auf die Rechnung, das Gute siegt.
Man kann Märchen also als psychologische Hilfe bei eigenen Entwicklungsschwierigkeiten sehen, da die Bereitschaft der Kinder, sich dem Übermächtigen zu stellen, gestärkt und so Schwierigkeiten besser bewältigt werden können. Auch werden Kinder, durch die gezeigte drastische Bestrafung der Antagonisten langsam an Grausames herangeführt, das ihnen auch später in ihrem Leben begegnen könnte. „ Kinder die dem Märchen nicht begegnet sind, trifft das Grausame im Leben unvorbereitet“ (Wittgenstein, zit. nach Lüthi, 1968, S. 85)
Hans Dieckmann hat die Antwort auf die Frage der psychologischen Bedeutung des Märchens für das Kind in zwei Thesen zusammengefasst: Erstens, betont er, dass das Kind an den Figuren des Märchens lernen und erleben kann , wie man mit den „…auf es zukommenden, für die eigene Persönlichkeit gefährlichen und negativen Ansprüchen und Bedürfnissen der Umweltfiguren…“ umgeht und wie man die bereits erwähnte „Übermächte“ überwinden kann. Zweitens, meint Hans Dieckmann, dass das Kind „… muss es lernen, sich mit den tiefen instinktiven und triebhaften Gegebenheiten seiner eigener Natur auseinanderzusetzen und muss sein Ich gegenüber diesen oft überlegenen Kräften behaupten.“ Die Märchen bieten dem Kind hierbei in bildhaft-symbolischer Form typische Möglichkeiten und Entwürfe an, um in diesen Kampf zu bestehen. (Dieckmann, 1980, S.31)
In der Literatur trifft man auch andere Überlegungen, die das Thema psychologischer Funktion des Märchens betrachten. Bei seiner Untersuchung der Zaubermärchen kam Walter Scherf zum Ergebnis, dass fast alle Zaubermärchen mit einem ausgeprägten Konflikt zwischen Kind und Eltern – genauer gesagt: etwa 50% mit einem Sohn-Vater Konflikt, je etwa 20% mit einem Tochter-Vater – bzw. einem Tochter-Mutter-Konflikt und etwa 10% mit einem Sohn-Mutter-Konflikt beginnen. Genau dieses Ablösungskonflikt ist das, was der Zuhörer oder Leser vom Zaubermärchen erwartet, denn diese Erwartung entspringt dem Bedürfnis, sich in die Rolle eines „verkannten, missachteten, verfolgten … oder eines festgehaltenen, nicht freigegebenen…zu versetzen“ ( Scherf, 1983, S. 169). So ein Märchenanfang dient für ein Kind als Signal, das dem Kind voraussahen lässt, was im Leben auf es zukommt. Das wichtigste ist, dass die Ablösungsmotivik des Märchens zeigt genau die Konfliktlage an, aus der sich für den Zuhörer das Drama der Selbstfindung entwickelt. Sicher scheint für den Autor, dass die Ablösung vor alten Kind-Eltern-Bindungen eine sehr große seelische Leistung für beide Seiten kostet und diese Ablösung häufig nicht restlos stattfindet, was das Zerbrechen der Bindung zu einer anderen nicht zur alten Familie gehörigen Person (z.B. Partner) bewirken kann. (vgl....