2.
DIE VERTRACKTE MENSCHLICHE WAHRNEHMUNG
Anlässlich der Ukraine-Krise entspann sich in der Wochenzeitung Die Zeit im März 2015 eine Debatte zwischen zwei renommierten Osteuropa-Experten, dem Geschichtsprofessor Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität und dem Historiker und Publizisten Gerd Koenen. Unter dem Titel «Der Westen kapiert es nicht»[1] forderte Baberowski einen realistischeren Blick auf die russische Politik. Er erläuterte, warum der autoritär regierende Putin im eigenen Land so viele Anhänger hat und warum er die Unterstützung des Westens für die neue Kiewer Regierung als Bedrohung erlebt.
Eine Woche später griff ihn Koenen an und zitierte dabei sehr frei: Baberowski habe «dafür plädiert, Russland bei der Wiederaufnahme seiner ‹imperialen Mission› am besten freie Hand zu lassen», und sei der Ansicht, «die Ukraine sei ein reines ‹Produkt der sowjetischen Nationalitäten- und Eroberungspolitik›, ihre nationalistischen Selbstkonstruktionen und Leidenskulte verdienten keinen besonderen Respekt».[2] «Nichts davon steht in meinem Text», wehrte sich Baberowski eine Woche später.[3] Koenen sei ein «Untersteller». Die Welt der Untersteller sei «eindeutig, sie kennen nur schwarz und weiß. In Kiew werden europäische Werte verteidigt, in Moskau werden sie mit Füßen getreten (…). Für den Aufrichtigen kann es gar keinen Zweifel geben, dass Vorstellungen, die aus der Welt der Finsternis kommen, bekämpft werden müssen.» Dieser Beschreibung des Mainstreams in Sachen Ukraine und Russland fügte er hinzu: «Erhebt ein Kritiker Einwände gegen das Diktat des politisch Korrekten, wird er moralisch abgewertet, im schlimmsten Fall ignoriert. Wer am Sinn der europäischen Währung zweifelt, muss sich dem Vorwurf aussetzen, er sei ein Gegner Europas und gefährde das europäische Friedensprojekt. Wer den Papst kritisiert, ist im Club der Aufklärer herzlich willkommen, wer Kritik am Islam übt, den erklären die Untersteller zum Rassisten.»
Ein Schlagwort versachlichen
In dieser Debatte, die im Übrigen auch eine zwischen dem Feuilleton- und dem Politikressort der Zeit zu sein schien (Baberowski kam weit hinten und Koenen ganz vorn im Blatt), scheinen die sozialen Hintergründe eines Mainstream-Effekts auf: Das eine ist problemlos sagbar im öffentlichen Raum und entspricht dem Common Sense; mit dem anderen schwimmt man gegen den Strom und geht das Risiko ein, sich zu isolieren. Wer eine schon oft geäußerte Mehrheitsmeinung hinter sich weiß und allgemein anerkannte Glaubenssätze teilt, befindet sich in einer «Niedrigkostensituation»[4] und muss sich wenig Sorgen um seine Reputation machen. Er kann offensiv agieren, ihm steht eine breite Palette etablierter Argumente und bekannter Phrasen zur Verfügung. Wer dagegen eine Minderheitenposition vertritt, ist in einer «Hochkostensituation»: Er muss seine Argumentation sorgsam aufbauen, Einwände vorwegnehmen, sich defensiv vortasten, um möglichst wenige Zuhörer gegen sich aufzubringen und möglichst viele zu überzeugen. Misslingt sein Bemühen, kann er als «Ketzer» sozial sanktioniert werden – und die Feinde mögen ihn zum Aussätzigen abstempeln, die Freunde ihn zum Märtyrer stilisieren.
Von allen Schlagworten, die das empörte Publikum seit Anfang 2014 gegen die etablierten Medien in Stellung gebracht hat, ist «Mainstream» das wohl interessanteste, analytisch fruchtbarste und konstruktivste. Zum Vergleich: Der Begriff «Lügenpresse» taugt zur Verständigung herzlich wenig. Vor allem aufgrund seiner Rolle in der NS-Vergangenheit und der Aggressivität gegen Journalisten, die er transportiert, aber auch deshalb, weil die Anklage des revoltierenden Publikums eher auf Einseitigkeit in der Auswahl und Darstellung von Themen und Meinungen als auf falsche Sachverhaltsaussagen lautet. Ebenso wenig geeignet erscheint der Vorwurf der «Gleichschaltung» (gern auch: «gleichgeschaltete Systemmedien» oder «Lizenzmedien»), denn er hat den Ruch des Totalitären, impliziert Lenkung und Vorzensur durch vorgeschaltete und gleichschaltende Institutionen. Den Begriff der «Mainstream-Medien» kann man am ehesten des Polemischen und Herabwürdigenden entkleiden, um sich den realen Mechanismen anzunähern, die in einer grundsätzlich pluralistischen, demokratisch verfassten Gesellschaft zu einer hohen Konformität der Medien führen.
Denn auch Journalisten benutzen den Begriff zuweilen, etwa als Entschuldigung für Fehler: «Möglicherweise sind wir zu leicht dem Nachrichten-Mainstream gefolgt», schrieb Kai Gniffke, der Chefredakteur von ARD aktuell, nach massiver Kritik an seiner Ukraine-Berichterstattung. «Vielleicht hätten wir rechte Gruppierungen in der Ukraine früher thematisieren sollen. (…) Wir hätten uns (sic!) bei der Formulierung ‹OSZE-Beobachter› eher eine andere Formulierung wählen können. Vielleicht haben wir die russischen Interessen zu wenig für den deutschen Zuschauer ‹übersetzt›. Wir hätten evtl. die NATO-Position noch kritischer hinterfragen können.»[5] Bemerkenswert, dass der Verantwortliche für die meistgesehene deutsche TV-Nachrichtensendung einem «Nachrichten-Mainstream» gefolgt sein will – den er doch offensichtlich selbst mit prägt. Denn seine Sendungen Tagesschau und Tagesthemen haben Leitfunktion auch für die Medienbranche. Laut der letzten repräsentativen Befragung deutscher Journalisten gehörten beide Sendungen zu den fünf Medien, die Medienmacher am häufigsten nutzen, neben Süddeutscher Zeitung, Spiegel und FAZ.[6] Was war also zuerst da: die Henne oder das Ei, der Mainstream oder seine Medien? Auf jeden Fall wird deutlich, dass ein enger Meinungskorridor auch entstehen kann, wenn keine Abteilung für Agitation und Propaganda täglich Presseanweisungen an die Redaktionen verschickt und kein staatlicher Zensor vor Veröffentlichung die unliebsamen Stellen tilgt, sondern auch dadurch, dass Medien sich gegenseitig beobachten und beeinflussen.
Dem Rätsel, woher der Mainstream-Inhalt kommt, woher der Wind im Meinungskorridor weht, soll in den nächsten Kapiteln nachgegangen werden. Zunächst ist eine Klärung des Begriffs «Mainstream» wichtig, um den Kampfbegriff («Mainstream» ist das, was alle sagen; wer dem «Mainstream» folgt, ist unkritisch) zu versachlichen. Denn nur, weil etwas «Mainstream» ist, muss es nicht falsch oder schlecht sein. Viele Aktivisten kämpfen darum, ihr (neues, zunächst abseitiges) Thema «in den Mainstream» zu tragen, damit es politisch bearbeitet wird. Wenn sie dies geschafft haben und ihr Anliegen Karriere gemacht hat, verliert es ja nicht allein deshalb an Wert – man denke etwa an das Thema «menschengemachter Klimawandel», das erst nach Jahrzehnten und gegen den massiven Widerstand von Öl- und Automobilkonzernen ins breite öffentliche Bewusstsein gedrungen ist.
Der Sound des Blätterwalds
Ein Schimpfen auf «die Mainstream-Medien» legt nahe, dass es eine Anzahl von (Leit-)Medien gibt, die immer dasselbe schreiben oder senden. Nun gibt es tatsächlich eine feste Zahl von Leitmedien, die aufgrund ihrer Reichweite und Bedeutung eine Art «Kern» des deutschen Mediensystems ausmachen und Taktgeber auch für andere Medien sind: Laut der bereits erwähnten Journalistenbefragung sind dies die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF (Tagesschau, Tagesthemen, heute, heute-journal), die Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Die Welt, Frankfurter Rundschau, taz und als Boulevard-Riese die Bild-Zeitung, die Wochenzeitung Die Zeit, die Nachrichtenmagazine Spiegel und Focus, die Illustrierte Stern sowie die Online-Ableger all dieser Medien. Auch die großen politischen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender sind Orte, an denen ablesbar ist, was im öffentlichen Raum problemlos sagbar ist und was nicht. Das wären also die potenziellen «Mainstream-Medien» – doch pauschal zu behaupten, darin würde überall dasselbe gesagt, wird der Sache nicht gerecht. Wem ist nicht schon einmal in einem dieser Medien ein überraschender, besonders kritischer Beitrag aufgefallen, der aus der Masse der Veröffentlichungen herausragte, vom gewohnten Sound des Blätterwalds abwich?
Was es jedoch zweifellos immer wieder gibt, ist ein «Medien-Mainstream», ein mehr oder weniger weit gehender...