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E-Book

Man wird nie Deutscher

AutorOzan Ceyhun
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783644462113
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Wie Deutschland Integration verhindert Ozan Ceyhun, in der Türkei geboren und seit 1980 in Deutschland, musste als Student während des türkischen Militärputsches aus seiner Heimat fliehen. In Deutschland machte er eine weitere Ausbildung und ging in die Politik, erst für die Grünen, nach einem Parteiwechsel dann für die SPD. Er heiratete eine Deutsche, seine Kinder haben deutsche Namen und sprechen kein Türkisch, und Ceyhun fühlte sich Deutschland zutiefst verbunden. Als sich jedoch der damalige Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2002 bei seinem Parteigenossen für die Wahlkampfunterstützung bedankte, wurde Ceyhun schlagartig eines klar: Er würde immer der Türke bleiben - das bewies ihm Schröders Frage: «Sag mal, Ozan, warum haben deine Landsleute eigentlich diesen Erdo?an gewählt?» Seit diesem Gespräch hat Ceyhun viel über seine Identität nachgedacht. Und obwohl sein Lebensmittelpunkt nach wie vor Rüsselsheim ist, hat er wieder die türkische Staatsbürgerschaft beantragt und lebt heute in Deutschland, Zypern und der Türkei.

Ozan Ceyhun, geboren 1960 in Adana, Türkei, war zunächst Mitglied der Grünen und wechselte 2000 zur SPD. Er war SPD-Europaabgeordneter und Mitglied u.a. im Innenausschuss im Europäischen Parlament und in der parlamentarischen Delegation EU-Türkei. Ceyhun arbeitete zuletzt in der hessischen Landesvertretung in Brüssel und ist heute hauptsächlich als politischer Berater in der Türkei tätig.

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Leseprobe

Eine Kindheit zwischen linken Demos und westlichen Kinofilmen


Alle zehn Jahre fand in der Türkei ein Militärputsch statt: 1960, 1971, 1980. Die Soldaten holten dann Menschen ab, die sie als Linke bezeichneten – also auch viele Nicht-Linke –, brachten sie in Stadien oder an andere größere, abgeschlossene Orte und folterten sie. Jedes Mal wurden auch Menschen hingerichtet, manchmal gleich auf der Straße. 1960 wurden der Ministerpräsident und zwei Minister des Landes gehängt, 1971 drei unschuldige Studenten, während man zahlreiche weitere erschoss. 1980 werden wieder zahlreiche Menschen hingerichtet. Das geschehe für eine bessere Türkei, sagt die Militärführung.

Manchmal, wenn ich früher Bilder aus der Zeit der Militärdiktaturen Chiles und Argentiniens ansah, war mir, als wären es Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend in der Türkei. Es schien mir ganz so, als hätte ich all diese Filme schon als Kind, als Jugendlicher miterlebt, als wären sie ein Teil meines Lebens.

Meine Eltern und ihr Einsatz für eine demokratischere Türkei


Mein Vater kennt sich aus mit dem Militär, unter dem auch er leidet. Er wird mehrmals verhaftet und wandert ins Gefängnis, weil er Schriftsteller ist und damit per se verdächtig. Irgendwie kommt er immer wieder frei und nach Hause zu uns zurück. Meine Eltern sind sozialistisch eingestellt und politisch aktiv. Sie sind beide Architekten, doch mein Vater ist genau genommen mehr Politiker und Schriftsteller denn Architekt. In seiner Funktion als Generalsekretär und Vorstandsmitglied der Architektenkammer nimmt er ebenso politischen Einfluss wie als Chefredakteur der Zeitschrift der Architektenkammer, zum Beispiel indem er entsprechende Pressemitteilungen verfasst.

Mein Vater kämpft eigentlich immer gegen irgendetwas, zum Beispiel gegen den Bau der ersten Bosporus-Brücke, den er aus ökologischen Gründen verhindern wollte. Tatsächlich kämpft er meistens gegen etwas, selten für etwas. Jeder Protestbewegung schließt er sich an und übernimmt eine führende Rolle. Er ist Mitglied der türkischen Arbeiterpartei, einer sozialistischen Partei, für die er in der Stadt Adana als Abgeordneter und Bürgermeister kandidierte. Mein Vater ist politisch so aktiv, dass ich ihn nur selten sehe. Aber ich weiß, dass er seine Zeit in den Dienst einer guten Sache stellt: die damalige Türkei demokratischer zu gestalten.

Mein Vater kommt aus Adana, damals die viertgrößte türkische Stadt. Sie liegt im Süden des Landes und ist bekannt dafür, dass sie viele einflussreiche und erfolgreiche Personen hervorgebracht hat, in Politik wie Kultur. Wer Adana als Geburtsort in seinem Pass stehen hat, ist meist stolz darauf. «Mein Sohn soll ein Adaner sein», wünschte sich deshalb mein Vater. Meine Eltern lebten in Istanbul, als meine Mutter mit mir schwanger war; doch einige Wochen vor meiner Geburt, im September 1960, reiste sie nach Adana, um mich dort zur Welt zu bringen.

Während mein Vater auf Demonstrationen geht und in seiner beruflichen Position politischen Einfluss nimmt, sorgt meine Mutter für die wirtschaftliche Sicherheit unserer Familie. Mein Vater hat ein unsicheres Einkommen aufgrund seiner vielen außerberuflichen politischen Tätigkeiten, die viel Zeit in Anspruch nehmen, meine Mutter aber ist Beamtin. Sie stammt aus dem Norden des Landes und gehört zur Volksgruppe der Lasen. Die Nordtürken gelten als strenger im Bereich Familie und Patriotismus als die Südtürken; man sagt auch, sie hätten mehr Disziplin. Meine Mutter bringt Ordnung ins Leben der Familie Ceyhun.

Sie vermittelt mir einen Einblick in das Leben in Europa. Wenn wir beide abends allein zu Hause sind, dann legt sie eine Platte auf, und wir tanzen zur Musik. Oder sie blättert in der französischen Elle, während ich mir Werbeanzeigen mit Automobilen in der deutschen Brigitte ansehe. An anderen Abenden oder Nachmittagen gehen wir ins Kino. Ich sehe vor allem den europäischen und amerikanischen Schauspielern bei ihren Helden- und Liebesgeschichten zu. Meine Mutter mag Filme mit dem italienischen Schauspieler Giuliano Gemma am liebsten; sie sagt immer, dass ich ihm ähnlich sehe. Ich schaue mir so ziemlich jeden erfolgreichen Film an, der damals in türkischen Kinos gezeigt wird. Ebenso, wie ich mit meinen Eltern wahrscheinlich auf nahezu jede Demonstration in Istanbul gehe, die die Linken veranstalten.

1967, als ich sechs Jahre alt bin, wird Ernesto Guevara de la Serna, besser bekannt als Che Guevara, in Bolivien umgebracht. In meinem Kinderzimmer hängt ein Bild von ihm. «Guck mal, dieser Mann ist ein Held!», sagte meine Mutter zu mir, als sie Ches Bild aufhängte – wohl wissend, wie gefährlich es ist, ein solches Bild in der Wohnung zu haben: Es ist Auslegungssache, ob Che ein Regierungsgegner ist oder nicht.

Ich bin Kind einer Generation, die mit der Führung der damaligen Türkei riesige Probleme hat – und ich werde von den Erwachsenen voll in ihre Welt integriert. Meine Kindheit ist geprägt von Politik. Am Abend kommen Schriftsteller und andere Intellektuelle, die politisch ebenso sozialistisch eingestellt sind wie meine Eltern, zu uns zu Besuch. Wir sitzen zusammen, essen gemeinsam zu Abend, die Erwachsenen trinken Wein, diskutieren, besprechen und planen. Meine Eltern sind demokratisch orientiert bei ihrer Suche nach Lösungen und lehnen Waffengewalt strikt ab. Dennoch müssen sie ständig auf der Hut sein, was sie wem erzählen, damit nichts von ihren Gesprächen nach außen dringt.

Wenn zwei Leute zusammenkommen und ein Buch von Marx lesen, dann werden sie mitunter schon als «illegale Organisation» bezeichnet. Ebenso kann es zur Festnahme führen, wenn man mit einem Lenin-Buch in der Jackentasche erwischt wird. Ein linkes Flugblatt und eine Schreibmaschine in der Wohnung sind natürlich ebenfalls höchst verdächtig. Ja, selbst einen harmlosen Witz sollte man besser nur hinter vorgehaltener Hand erzählen und auch nur Menschen, denen man vertraut. Man muss kein Erwachsener sein, um damit Verdacht auf sich oder die Angehörigen zu ziehen – selbst Kinder stehen unter Beobachtung.

In meiner Grundschulzeit bittet meine Klassenlehrerin meine Mutter zum Gespräch. «Ozan», sagt meine Mutter anschließend auf dem Heimweg zu mir. «Ich möchte nicht, dass du Mao-Witze an deiner Schule erzählst. Das ist gefährlich. Deine Lehrerin ist sehr nett und eine gute Frau. Aber andere werden nicht so reagieren wie sie. Dann bekommen wir Ärger.» So ist die Türkei damals: Wenn ein Kind einen Mao-Witz erzählt, gilt das als höchst verdächtig und ist für die Eltern gefährlich. Alles Politische, was in unserer Wohnung besprochen wird, muss deshalb in unserer Wohnung bleiben – das ist eine klare und wichtige Regel.

Jedes Mal, wenn das Militär damals in der Türkei putscht, werden Linke verhaftet, so auch mein Vater. Seine Verhaftung 1971 erlebe ich mit. Ich bin zehn Jahre alt, als eines Nachts die Tür zu meinem Kinderzimmer aufgerissen wird und ein älterer Offizier in mein Zimmer tritt. Nach einem kurzen Moment sagt er irritiert: «Schlaf ruhig weiter, mein Kind», und schließt die Tür hinter sich. Doch sie öffnet sich sofort wieder, meine Mutter kommt herein und sagt: «Nein, mein Sohn soll das sehen. Siehst du, Ozan, was diese Männer machen?» Sie packt mich am Arm, zerrt mich aus dem Bett auf den Flur und zeigt auf die Soldaten, die ihre Thompson-Gewehre schussbereit halten. «Sie nehmen deinen Vater mit», sagt meine Mutter. «Er hat nichts getan! Sie nehmen ihn mit, weil er anderer Meinung ist. Aber das ist Unrecht. Mein Sohn soll sehen, was Sie mit seinem Vater machen.» Es ist gegen Mitternacht, als die Soldaten meinen Vater mitnehmen.

Meine Mutter und ich stehen am Fenster und sehen auf die Straße. Hinten auf dem offenen Militärjeep sitzen zwei Soldaten mit meinem Vater, hinter dem Steuer sitzt ein weiterer. Mein Arm brennt noch immer von dem harten Griff, mit dem meine Mutter mich aus dem Bett gezogen hat.

«Sieh mal», sagt meine Mutter und hebt den Blick. «Hinter all den dunklen Fenstern stehen wahrscheinlich Menschen und beobachten uns. Keiner darf sehen, dass wir Tränen in den Augen haben. Dein Vater ist ein ehrlicher Mann, wir sind stolz auf ihn … Morgen früh wirst du in die Schule gehen und niemandem etwas sagen. Am Abend suchen wir deinen Vater.»

Am nächsten Abend bin ich lange mit meiner Mutter in Istanbul unterwegs, wir besuchen Gefängnis um Gefängnis, Sammelstelle um Sammelstelle, und fragen nach meinem Vater. Alle sind sehr nett zu uns, zu der Frau mit dem Kind, aber niemand sagt uns, wo mein Vater ist. Nach ein paar Tagen, in denen wir nichts über den Verbleib meines Vaters erfahren, ist er dann plötzlich wieder zu Hause. Sie haben ihn freigelassen.

Irgendwann in dieser Zeit muss ich einen Gerichtssaal von innen gesehen haben, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau und aus welchem Anlass. Und vielleicht täusche ich mich auch und habe nur ein Bild von einem solchen Saal gesehen und ihn abgemalt – in eines der Heftchen, die ich als Zehn- oder Elfjähriger bastele. Als Zeitvertreib hefte ich an manchen Tagen Blankoblätter so zusammen, dass sie wie ein gebundenes Büchlein aussehen. Fein säuberlich schreibe ich per Hand Geschichten hinein. Jedes Buch hat ein Cover, ist mit einer Autorenbiografie versehen, mit dem Namen des Verlags und natürlich auch mit einem Ladenpreis. Manchmal schalte ich sogar Werbeanzeigen in meinen Büchern, die auf meine anderen Publikationen verweisen.

Schwarzes Kind ist der Titel eines dieser Bücher. Es ist inspiriert von den vielen Filmen, die ich gesehen habe, und natürlich...

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