01 Managementinnovation?
Gedankenexperiment (I)
Stellen Sie sich vor, ein Manager von 1975 würde in ein Büro einer Konzernzentrale im Jahr 2015 gebeamt. Direkt hinein in den schweren Lederstuhl hinter dem Schreibtisch. Wie viel Zeit würde der Manager (mit ziemlicher Sicherheit wäre es heute wie damals ein Er und keine Sie) benötigen, um sich in seinem neuen Büro zurechtzufinden? Wie lange könnte er den Zeitsprung verbergen, bis ihn seine Kollegen als antiquiert, rückständig, heillos überfordert einschätzen würden? Mein Verdacht: Seine Zeitreise bliebe unentdeckt. Binnen einer halben Stunde hätte er sich mit den wesentlichen Abläufen in seinem Büro vertraut gemacht; und weder im Small Talk noch in den Sitzungen würde seinen Kollegen die 40 Jahre breite, aber eben nicht sehr tiefe Wissenslücke auffallen.
Ganz im Gegenteil: Abgesehen von ein paar infotechnologischen Beschleunigungsapparaten würde sich unser zeitreisender Manager wohlfühlen in seiner neuen Organisationshaut. Zentralisieren oder dezentralisieren, bottom-up oder top-down – mit Hilfe dieser ehernen Koordinaten des manageriellen Vorstellungsvermögens würde er sich prächtig zurechtfinden in den repräsentativen Büros und den opulenten Besprechungszimmern. Zugleich wüsste er die Küche und den Korridor als Seminarräume für das Unsagbare und Unerhörte zu decodieren, und auch sein Alltag im Büro hätte sich nicht wesentlich geändert. Seine To-do-Liste erwiese sie sich als Klassiker: Auch noch nach 40 Jahren füllen unverändert Besprechungen mit Mitarbeitern, Kunden und Beratern die Tage; Berichte, Analysen und Memos wollen gelesen, Entscheidungen getroffen werden (was meist jedoch in umgekehrter Reihenfolge geschieht); und die abendlichen Stunden dienen der Netzwerkpflege, gelegentlich auch der Arbeit. Lange Abende im Büro legitimieren und, etwas später, kaschieren das schleichende Eingeständnis, dass man so weit Organisationsmensch geworden ist, dass sich das soziale Leben außerhalb des Büros eigentlich nicht wirklich lohnt.
Was ergibt sich aus unserem Experiment? Management ist die vielleicht wichtigste kulturtechnologische Erfindung des 20. Jahrhunderts. In seiner über hundertjährigen Geschichte hat es die Welt, unsere Werte, ja uns selbst verändert. Selbst aber ist Management nahezu unverändert geblieben: der Manager als Motor der Veränderung, den es braucht, um die Organisation, das schwerfällige Drumherum, nach vorne zu bewegen. Der Manager, der Ziele definiert, Strategien entwickelt und deren Implementierung überwacht. Die bestehende organisationsinterne Hierarchie mitsamt dem damit verbundenen Autoritätsgefälle wird durch das Versprechen auf Effizienzsteigerung legitimiert. Dort, in der Organisation, wird Wert produziert, den der Konsument draußen verbraucht, aufbraucht, zerstört. Darin nun liegt das Problem: Management, das zur rastlosen Veränderung, ja permanenten Revolutionen aufruft, das keinen Stillstand akzeptieren will – jenes Management erweist sich selbst als veränderungsresistent. Das Management, das für Innovation, Dynamik und Veränderung steht, soll selbst davon ausgenommen sein. Der Manager also als konservative, konservierende Kraft? Als Antipode von Innovation und Veränderung? Möglicherweise liegt darin das eigentliche Problem unserer von Management gesteuerten, von Wirtschaft getriebenen, von Organisation durchstrukturierten Gesellschaft – dass wir mit den Mitteln und Methoden des frühen 20. Jahrhunderts die Probleme des 21. Jahrhunderts angehen.
Plan B
Das Paradox liegt auf der Hand: Stellen Sie sich vor, Sie kaufen sich alle paar Jahre einen neuen Computer, müssen aber immer weiter die alte Software verwenden. Kann das gut gehen? Gehen tut es vielleicht schon, sicher aber nicht gut. Management stellt uns vor ein analoges Problem: Es ist eine Kulturtechnik, ein Sammelsurium von Ideen, Modellen und Praktiken, die Handlungsanleitungen oder, um im Bilde zu bleiben, Verhaltenscodes zur Verfügung stellen. Zum Beispiel: Wenn Ziele klar definiert werden können, die Wege dorthin allerdings Kreativität und Improvisation verlangen, dann management by objectives; wenn Wettbewerb schnell- und daher eigene Vorteile nur kurzlebig sind, dann organische Strukturen mit maximaler Flexibilität. Wenn in einer Wissensgesellschaft der Mitarbeiter die wichtigste Ressource darstellt, dann wird die Organisationskultur zum strategischen Faktor. Und so weiter.
Das Problem ist nun, dass die Codes, die wir zur Verfügung haben, sich kaum verändert haben – die Welt allerdings schon: Sehen wir denn nicht allenthalben, wie die Produktion von Wissen, Innovation und Ideen in Netzwerken floriert, die ihrerseits Organisation mit ihrer Hierarchie und ihren Grenzen ignorieren? Beobachten wir nicht, wie das Internet und eine Unzahl von Kognitionsapparaten um uns herum neue Formen sozialer Vernetzung erlauben, die es vorher nur innerhalb einer Hierarchie geben konnte? Und impliziert technischer Fortschritt nicht auch, dass in einer mit Computern, Laptops und Smartphones hochgerüsteten und vernetzten Wissensgesellschaft die Produktionsmittel dezentral verteilt sind? Ist nicht jeder, der einen Laptop besitzt, ein zumindest kleiner Kapitalist? Lehrt uns nicht eine Vielzahl von Experimenten, von Linux bis Wikipedia, dass an der Schnittstelle von Wissen und Technologie auch ein neuer Konsument entsteht – ein Konsument, der nicht Verbraucher ist, der nicht den passiven Konsum-König spielen will, sondern der selbst produktiv wird? Ein Konsument, der versteht, dass Wissen im Gebrauch an Wert gewinnt und dass damit der Konsum von Wissen nichts anderes darstellt als die subtilste Form seiner Produktion? Und dass damit das Problem der Knappheit nicht länger das Fundamentalproblem darstellt, das uns die Bürden der Hierarchie zumutbar erscheinen lässt?
Die herrschenden Managementcodes lassen sich nicht mit einem einfachen System-Update überholen. Denn das, was in den Regalen der Flughafenbuchhandlungen als Managementinnovation feilgeboten wird, ist nichts als Makulatur, bietet lediglich Berichtigung im Falschen – ganz so, als würde man ein paar bugs aus einer längst überholten Programmiersprache austreiben und einige neue gadgets hinzufügen. Das nicht ganz unbescheidene Ziel von Plan B ist es, wenn nicht einen neuen Code zu entwerfen, so doch wenigstens ein paar Zeilen in einem neuen Code zu schreiben, der uns die Dinge anders – und wer weiß, womöglich andere Dinge – begreifen lässt. Was auf dem Spiel steht, ist kurz gesagt die Innovation von Management und Organisation. Es geht um den Versuch, jene Kreativität und Fantasie, die normalerweise in die Entwicklung neuer Produkte geht, quasi gegen ihren Herrn, die Organisation, zu wenden.
Plan B erzählt die Geschichte von der Subversion der Organisation durch die Eigenart des Wissens, die Geschichte von der Sabotage der Hierarchie durch Technologie. Das ist der kritische Aspekt des Unternehmens. Plan B ist aber auch Spurensuche. Die Suche nach neuen Formen von Organisation, nach neuen Techniken des Managens, die sich an den Rändern der Ökonomie, in den zahlreich werdenden Rissen an ihrer Oberfläche formieren. Wohlgemerkt: Es geht nicht um eine Welt jenseits von Organisation. Nichts scheint naiver, als Open Source dem Weber’schen eisernen Käfig gegenüberzustellen und auf der einen Seite Freiheit zu vermuten, während man auf der anderen Zwang mittels hierarchischer Bürokratie setzt. Selbst offene Netzwerke wollen organisiert sein, brauchen ein Minimum an Struktur, an Rhythmus, an Routine. Sie müssen zumindest temporär stabile Plattformen anbieten, auf denen kreative Konsumenten, pensionierte Wissenschaftler, Hobbyisten, selbst ernannte Experten, Pro-Ams und all jene anderen Amateure (wörtlich: die, die lieben, was sie tun) ihre Ideen entwickeln und ihre Geschäfte abwickeln können. Und bewegen sich nicht die aufregendsten Unternehmungen, all jene Facebooks, Ubers und Alibabas, schlafwandelnd in genau diese Richtung? Indem sie nämlich immer mehr zu Plattformen werden, die selbst nichts produzieren, sondern vielmehr eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, auf der Dritte arbeiten, spielen und leben. So gesehen müsste die Rolle des heutigen Managers wohl eher der des Diplomaten ähneln, der mehr oder minder autonome Akteure, social movements und manchmal sogar ganze Gesellschaften über indirekte Steuerung und soft power von der Richtigkeit und Wichtigkeit seiner Ziele zu überzeugen sucht. Nehmen wir in diesen Veränderungen nicht erste, vielleicht schwache, aber doch unzweideutige Zeichen wahr, die auf fundamental neue Formen der Organisation von wirtschaftlichen Prozessen hindeuten? In denen selbst die scheinbar klarsten Begriffe wie Produktion, Konsum, Ressource, Knappheit neue Bedeutungen annehmen?
Metaphorisch ausgedrückt ist es weniger der Geist oder Ungeist des Kapitalismus, der mich umtreibt. Nein, ich bin Spinozist und glaube, dass es der Körper ist, der den Geist quasi als Anhängsel mitproduziert. Der Körper des Kapitalismus aber, das ist die Organisation, das ist das Büro der Bürokratie, und mittendrin ist der Manager. Von dort kommt die Veränderung. Diese Annahme läuft ganz und gar gegen den Zeitgeist. Die meisten Stimmen, die sich Gehör verschaffen, suchen Alternativen zum System, zum Kapitalismus, wollen zurück auf ein menschliches Maß. Sprechen sich für eine Ökonomie aus, die Gut und...