»Der« Kritiker
»Alles, was ich in diesem Buch beschrieben habe, ist wahr. Aber nicht alles, was ich erlebt habe, habe ich in diesem Buch beschrieben«, bekannte Marcel Reich-Ranicki, als seine Autobiografie Mein Leben erschien. Aus den Gründen dafür machte er kein Geheimnis. »Jeder Autobiograf schont sich selbst, auch wenn er sich das Gegenteil vorgenommen hat. Ich habe auch einiges weggelassen.« Der Kritiker Reich-Ranicki hatte kein naives, kein leichtgläubiges Verhältnis zur Literatur. Er wollte sich von Schriftstellern nichts vormachen lassen, nicht einmal von sich selbst, sobald er zum Erzähler des eigenen Lebens wurde. Es gibt keine Selbstbeschreibung ohne Selbststilisierung, jede Autobiografie ist zwangsläufig lückenhaft, kein Autor kann sich sicher fühlen vor Streichen, die ihm sein Unbewusstes oder sein Gedächtnis spielen, und Reich-Ranicki wusste das. Er hat Mein Leben nie als das letzte Wort über sein Leben betrachtet.
Ein Biograf ist gewiss nicht klüger als der Autobiograf, aber er hat eine andere Perspektive. Er schreibt aus größerer Distanz und aus der Außensicht, was ihm Vorteile ebenso wie Nachteile verschafft. Das letzte Wort wird auch er nie haben. Reich-Ranicki kannte die Perspektive, aus der das vorliegende Buch geschrieben wurde. Als es 2005 in einer ersten Fassung erschien, war er so großzügig, es zu loben. Er habe, sagte er, darin manches über sein Leben erfahren, »was ich nicht gewusst habe, und manches, womit ich nicht ganz einverstanden war. Gott sei Dank.«1 Nach Reich-Ranickis Tod habe ich das Buch nicht nur ergänzt um die Ereignisse seiner letzten Lebensjahre, sondern in allen Teilen gründlich überarbeitet, vervollständigt und aktualisiert. Die Perspektive auf ihn und sein Leben hat sich dabei nicht verändert.
Zu ersten Mal begegnete ich Reich-Ranicki, als ich vierundzwanzig war. Er hatte mich im Herbst 1979 zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt eingeladen, eine Stelle in der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sollte neu besetzt werden. Ich studierte damals noch und hatte in den Monaten zuvor eine Handvoll Rezensionen für ihn geschrieben, die er zu meiner Freude tatsächlich veröffentlichte. Natürlich war ich nervös, mit dem Gespräch bot sich mir eine großartige Chance, es gab keinen besseren Platz, das journalistische Handwerk zu erlernen, als die FAZ. Aber, um ehrlich zu sein, im Grunde hatte ich das Gefühl, alles in allem könne nicht viel schiefgehen für mich. Falls es mit dieser Bewerbung klappte, wunderbar. Falls nicht, wäre das schade, doch ich war jung, vierundzwanzig, irgendwann würde es eine zweite Chance geben.
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Reich-Ranicki, als er mich eilig in sein Büro winkte, damals knapp sechzig Jahre alt und noch nicht so fernsehbekannt, wie er es später durchs Literarische Quartett werden sollte. Dass ich – der Frankfurter Verkehr! – ein paar Minuten zu spät kam, ließ er mich nicht spüren, wohl aber seine Ungeduld, mehr über meine literarische Bildung zu erfahren. »Keiner kann alles gelesen haben, wir alle haben Lücken«, sagte er auf dem Weg von der Bürotür zu seinem Schreibtisch, »auch ich, auch ich habe Lücken«, und warf sich in seinen Drehsessel: »Welche Autoren kennen Sie? Oder haben Sie die Zeit an der Universität nur vertrödelt?« Ich zählte auf: Böll, Grass, Frisch, Christa Wolf, Walser, Dürrenmatt, meine frühe Leidenschaft für Heiner Müller fand er kurios, mein Interesse für Peter Handke gerade eben noch verzeihlich.
»Gut, gut, wie steht es mit älteren Schriftstellern, haben Sie schon einmal den Namen Thomas Mann gehört?« Buddenbrooks, Zauberberg, Doktor Faustus, Tonio Kröger, Felix Krull.
»Mehr nicht?« Reich-Ranickis Blick wurde düster. »Kleist, haben Sie denn wenigstens was von Kleist gelesen?« Vermutlich lag es an den tiefen Falten, die sich inzwischen auf Reich-Ranickis Stirn zeigten, wenn meine Antwort etwas großräumiger ausfiel, als es den Tatsachen entsprach.
»Alles.«
»Sehr gut. Sie mögen Kleist, sehr gut. Dann erzählen Sie mal etwas über das Käthchen von Heilbronn.«
Unglücklicherweise zählte das Käthchen zu jenem Teil von Kleists Werk, um den meine Antwort zu großräumig ausgefallen war. Ich schwieg und ließ meinen Blick einen Moment lang auf dem Schreibtisch zwischen uns ruhen, bemühte mich, ein nachdenkliches Gesicht zu machen und sagte dann, unbegreiflicherweise sei mir die Handlung im Augenblick entfallen, eine vorübergehende Gedächtnislücke, ein Blackout.
»Mein Lieber«, sagte Reich-Ranicki, »Sie haben das Käthchen nie gelesen. Als junger Mann wie Sie vergisst man dieses Stück nicht, man vergisst nicht, was Käthchen für den Mann tut, den sie liebt. Besser, Sie bleiben bei der Wahrheit.«
Danach stellte er noch viele Fragen, welche, weiß ich nicht mehr, nur dass ich mit meinen Antworten von nun an streng bei der Wahrheit blieb – und dass ich, als ich wieder zu Hause war, umgehend das Käthchen las. Reich-Ranickis Bemerkung hatte meine Neugier geweckt. Etwas, das er perfekt beherrschte: auf Literatur neugierig zu machen. Ich begriff schnell, was er in unserem Gespräch gemeint hatte: Als das Schloss brennt, geht Käthchen für den Mann, den sie liebt, in die Flammen, sie geht buchstäblich für ihn durchs Feuer, diese Szene vergisst man nicht, das ist richtig.
Später dann, viel später, als ich Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben las, begriff ich noch etwas anderes. Nämlich, dass er gerade vierundzwanzig Jahre alt war, so alt wie ich bei unserem ersten Gespräch, als er das Warschauer Getto und den Holocaust überlebt hatte, und dass seine Frau Tosia und er mehr als einmal für den anderen durchs Feuer gegangen waren. Und mir wurde klar, was für ein unverschämtes Glück es ist, mit vierundzwanzig noch in dem Glauben leben zu dürfen, es könne nicht viel schiefgehen und es warte, falls doch etwas schiefgeht, eine zweite Chance.
Gut zwanzig Jahre nach diesem Bewerbungsgespräch, im Dezember 2001, war Reich-Ranicki auf einem Gipfel von Prominenz und Wirkungsmacht angelangt, den vor ihm kein anderer Kritiker in Deutschland erreicht hatte. Neun Jahre lang hatte ich in seiner Literaturredaktion gearbeitet, und obwohl ich danach die Frankfurter Allgemeine verließ, hatten wir uns nicht aus den Augen verloren. Es war ein sehr kalter Tag in Berlin, wir waren am Gendarmenmarkt verabredet. Reich-Ranicki wohnte dort in einem Hotel mit Blick auf den Deutschen Dom und das ehemalige Schauspielhaus, dem er die großen Theatererlebnisse seiner Jugend verdankte. Er war, als er durch die Lobby auf mich zueilte, ein wenig ungeduldig wie so oft. Die Begrüßung fiel kurz und geschäftsmäßig aus, dann wollte er weiter, dirigierte mich zurück in die Kälte, zum nächsten Taxi.
»Sie kenn ich ausm Fernsehn.« Der Taxifahrer musterte im Rückspiegel den Mann, der sich auf den hinteren Sitz seines Wagens hatte fallen lassen. Er zögerte einen Moment, drehte sich um, studierte das Gesicht seines Fahrgasts und ließ Sendungen, Serien, Shows an seinem inneren Auge vorüberziehen. Für mich auf dem Nebensitz hatte er keinen Blick. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ja«, brummte er und nickte zufrieden, »Sie sind der Kritiker.« Drehte sich wieder nach vorn, gab kein weiteres Wort von sich und fuhr uns zu der gewünschten Adresse.
© Isolde Ohlbaum:
Nicht: »ein« Kritiker hatte er gesagt. Auch nicht: »dieser« Kritiker. Sondern: »der Kritiker«. Wenn die Kritik, die in Deutschland traditionell zu den missverstandenen und oft ungeliebten Institutionen zählte, nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land ein neues, anderes Image bekam, dann ist das nicht zuletzt ein Verdienst Reich-Ranickis. Ihm ist gelungen, was hierzulande zuvor undenkbar schien: Er hat die Kritik zu einem vom Publikum gespannt verfolgten, nicht selten bewunderten und in vollen Zügen genossenen Schauspiel gemacht. Er hat die Debatte über Literatur – also über so luftige, schwer fassbare Fragen wie die, ob der Roman X des Autors Y gelungen genannt werden dürfe oder nicht – konsequent popularisiert. Er hat den öffentlichen Streit über Bücher aus den Zirkeln der Fachleute, Akademiker und Intellektuellen herausgeführt und zu den gewöhnlichen Lesern gebracht, und das in Zeiten, in denen der Literatur gebetsmühlenhaft nachgesagt wird, sie sei im Begriff, alle Ausstrahlungskraft einzubüßen.
Zum Zeitpunkt jener Berliner Taxifahrt kannte ihn nahezu jeder Fernsehzuschauer, also: nahezu jeder. Schon als Literaturkritiker der Zeit und als Chef der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war Reich-Ranicki zu einer beherrschenden, den Kulturbetrieb zuverlässig polarisierenden Gestalt herangewachsen. Mit einer kaum noch überschaubaren Zahl von Sammel- und Essaybänden, Monografien und Anthologien, Reden und bücherfüllenden Gesprächen manifestierte er über Jahrzehnte hinweg seinen Anspruch auf eine umfassende literaturkritische Zuständigkeit. Und mit dem von ihm konzipierten und dominierten Literarischen Quartett begann schließlich in den neunziger Jahren seine Karriere zum Popstar der Kritik. Er krönte sie 1999 mit seiner Autobiografie Mein Leben, die bislang fast anderthalb Millionen Käufer fand und ihn zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren jener Jahre machte.
Wenn also der damals amtierende Bundespräsident Johannes Rau im Dezember 2001 vorschlug, die Abschiedssendung des Literarischen Quartetts in seinen Berliner Amtssitz zu verlegen...