Nicht gut genug
»In Beyoncés Bauch sind mehr Schwarze als in Trumps Kabinett.« Dieser Witz machte die Runde, nachdem die Popsängerin im Februar 2017 bekanntgab, mit Zwillingen schwanger zu sein. Doch tatsächlich war das gar kein Witz: Bis auf eine Ausnahme, den Stadtentwicklungsminister Ben Carson, spielten Afroamerikaner in der damals gerade neu gewählten amerikanischen Regierung keine Rolle. Und das, nachdem mit Barack Obama der erste schwarze Präsident die Nation für zwei Amtsperioden (2009–2017) angeführt hatte. Nach der Amtsübernahme von Donald Trump muss wohl eingesehen werden: Martin Luther King und sein politisches Engagement gegen Rassismus sind aktueller denn je. Denn es ist zu befürchten, dass die Politik der republikanischen Regierung um den Multimilliardär Trump, die das Weißsein zur Norm erklärt hat, dramatische gesellschaftliche Folgen haben wird. Vorausgesetzt, er hält überhaupt eine Amtszeit durch. Als dieses Buch entstand, war Trump erst wenige Wochen im Amt, doch aufgrund seiner zahlreichen umstrittenen Verordnungen und Entscheidungen wurden vermehrt Stimmen laut, die ein Amtsenthebungsverfahren forderten. Ein Beispiel: Als die demokratische Senatorin Elizabeth Warren laut CNN-Bericht (http://cnn.it/2loftZE) am 8. Februar 2017 im US-Senat einen Brief von Coretta Scott King, der Witwe Martin Luther Kings, vorlesen wollte, wurde sie mit einem Redeverbot belegt und gerügt. Warren hatte nämlich Kritik am designierten Justizminister Jeff Sessions geübt, der schon früher wegen seiner rassistischen Ansichten in die Schlagzeilen geraten war.
1986 hatte sich Coretta Scott King in einem Schreiben gegen die Bestätigung von Sessions als Bundesrichter ausgesprochen. »Herr Sessions hat die ehrfurchtgebietende Macht seines Amtes für einen schäbigen Versuch genutzt, ältere schwarze Wähler einzuschüchtern und ihnen Angst einzujagen«, schrieb sie. Seine Ernennung zum Bundesrichter würde »die Arbeit meines Mannes irreparabel beschädigen«. Der Senat verweigerte Sessions damals den Posten als Bundesrichter wegen abschätziger Äußerungen über Schwarze sowie wegen einer Bemerkung, die als Sympathiebekundung für den rassistischen Ku-Klux-Klan gedeutet werden konnte.
Heute weht in den USA ein anderer Wind. Selbst ungeachtet der Proteste der ältesten schwarzen Bürgerrechtsorganisation, der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), wurde Sessions zum Justizminister ernannt. Um die jüngsten politischen Entwicklungen in ihrer gesellschaftlichen Brisanz besser einordnen zu können, ist es 50 Jahre nach der Ermordung Martin Luther Kings dringlicher denn je, sich mit seinem Leben, seinem Engagement als Bürgerrechtler und seinem politischen Erbe zu beschäftigen. Martin Luther King hatte zwei Vorbilder: Jesus und Mahatma Gandhi. Er kämpfte gewaltlos gegen den Rassismus. Er traf sich zu Gesprächen mit Präsidenten, Gelehrten und Kirchenoberhäuptern. Doch jeden Augenblick konnte es ihm passieren, dass er als »Nigger« beschimpft oder als Kunde in einem Geschäft nicht bedient wurde.
Am 12. März 1968 schickte der Bürgerrechtler seiner Frau rote Nelken. Sie war überrascht, der Strauß war schön – aber es waren Kunstnelken. Solche Blumen hatte sie von ihm noch nie bekommen. »Ich wollte dir etwas schenken, was du immer behalten kannst«, erklärte King. Es sollten die letzten Blumen sein, die sie von ihrem Mann bekam. »Irgendwie schien er geahnt zu haben, dass sie nicht verwelken dürfen«, erinnert sich Coretta Scott King später. Nur wenige Wochen darauf, am 4. April, wurde der schwarze Bürgerrechtler auf dem Balkon eines Hotels in Memphis erschossen. Der Vater von vier Kindern wurde nur 39 Jahre alt.
Kann ein Mensch seinen eigenen Tod ahnen? Schon kurz nach der Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy 1963 hatte King seiner Frau prophezeit, dass auch er bei einem Attentat sterben werde – und dass er nicht älter als 40 Jahre werden würde. Er sollte recht bekommen.
Zwei Monate vor seiner Ermordung hatte er erneut von seinem Tod gesprochen, diesmal vor seiner Heimatgemeinde, der Ebenezer Baptist Church in Atlanta:
Hin und wieder denke auch ich an meinen Tod, und ich denke an meine Beerdigung […]. Ich möchte keine lange Beerdigung. Und wenn ihr jemanden die Grabrede halten lasst, sagt, sie sollen nicht zu lange reden […]. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, dass ich den Friedensnobelpreis erhielt. Das ist nicht wichtig. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, dass ich 300 oder 400 Auszeichnungen habe. Das ist nicht wichtig. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, wo ich zur Schule ging. Das ist nicht wichtig. […] Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: ›Martin Luther King jr. versuchte mit seinem Leben anderen zu dienen.‹ Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: ›Martin Luther King versuchte, Liebe zu üben.‹ Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagt, dass ich versuchte, in der Kriegsfrage auf der richtigen Seite zu stehen. Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagen könnt, ich versuchte die Hungrigen zu speisen. […] Ich möchte, dass ihr sagt, ich versuchte, die Menschheit zu lieben und ihr zu dienen.
Mit diesen Sätzen fasste er zusammen, was sein Leben vor allem bestimmt hat: Der charismatische Baptistenpfarrer hatte fast 13 Jahre lang gegen den Rassismus in den USA gekämpft. Er hatte sich für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit eingesetzt, war gegen den Vietnamkrieg eingetreten und hatte sich für den weltweiten Frieden stark gemacht. Seine Ermordung löste überall auf der Welt Entsetzen aus und machte den begnadeten Redner so populär wie nie zuvor.
Als 18 Jahre später, am 20. Januar 1986, der erste nationale Martin Luther King Day in den USA gefeiert wurde, zogen Hunderttausende durch Atlanta und andere Städte. Ich war damals 15 Jahre alt und hörte die Geschichte des gewaltlosen Kämpfers für Gerechtigkeit zum ersten Mal. Gewaltlos kämpfen? Wie soll das gehen? Ich sah einen ernst dreinblickenden Mann mit hoher Stirn und akkurat geschnittenem Schnauzer in einem eleganten dunklen Anzug, der als »moralischer Anführer der Nation« angekündigt wurde. Im Radio wurde ein Tonband mit Kings berühmter »I have a dream«-Rede gesendet. Die einfache, klare Sprache, die modulierende, eindringliche Stimme lösten bei mir sofort ein Schaudern aus. Ich wollte mehr über diesen Mann erfahren.
Das King Center
Das King Center in Atlanta lädt Besucher dazu ein, die eigenen Träume auf seiner Website zu veröffentlichen. Über 4600 Besucher haben sich an der kostenlosen Aktion schon beteiligt: www.thekingcenter.org/dreams/map
In unserer kleinen Stadtteilbücherei in Bochum-Werne entdeckte ich eine schmale Biografie über Martin Luther King. Ich informierte mich über den Sklavenhandel in den USA, die Rassentrennung und die Bereitschaft des schwarzen Bürgerrechtlers, für seine Überzeugung nicht nur immer wieder ins Gefängnis zu gehen, sondern sogar dafür zu sterben. Besonders beeindruckten mich die mutigen Kinder und Jugendlichen, die in Birmingham gemeinsam mit ihm für ihre Rechte auf die Straße gingen und dabei durch Wasserwerfer und Polizeiwillkür verletzt wurden. Der Verfasser der Biografie ließ keinen Zweifel daran: Martin Luther King war der strahlende Held, der den Schwarzen in Amerika zu ihrem Recht verhalf. Ein Symbol für das Gute in der Welt. Längst war auch ich seine Anhängerin geworden.
Einige Jahre später stieß ich während des Studiums auf wissenschaftliche Abhandlungen über King. Statt die Galionsfigur der Bürgerrechtsbewegung zu bejubeln, analysierten die deutschen und amerikanischen Geschichtswissenschaftler nüchtern dessen Reden, beleuchteten sein Verhältnis zum FBI und fragten nach seinen außerehelichen Affären. Zunächst war ich enttäuscht: Wo war der strahlende Held meiner Jugend geblieben, der die Massen begeisterte und so viel erreichte? Mussten Historiker alles relativieren?
Doch dann verstand ich, dass eine kritische Betrachtung der Vergangenheit nicht bedeutet, den Erfolg zu schmälern. Im Gegenteil. Eine realistische Einschätzung ist nötig, um die Leistungen einer Persönlichkeit bewerten zu können. Was wollte King erreichen, und inwieweit war ihm das tatsächlich unter seinen Lebensumständen gelungen? Wo verhinderten andere seinen Erfolg, und wo stand er sich selbst im Weg? Der Held meiner Jugend ist dadurch greifbarer und menschlicher geworden. Denn seine eigenen Bücher, die Autobiografie seiner Frau Coretta Scott King und die seines Vaters, die Bild- und Tondokumente stellten weitere Quellen dar, die nach Interpretationen verlangten. Die Sicht, die ich heute auf Martin Luther King habe, ist eine ganz andere als die meiner Jugend. Sie zeigt immer noch einen beeindruckenden Menschen; aber einen mit Schwächen. Und dass ich bei manchen seiner Reden immer noch eine Gänsehaut bekomme, daran hat auch der kritischere Blick nichts geändert.
Mein Buch möchte dazu einladen, eine Schlüsselfigur der Bürgerrechtsbewegung 50 Jahre nach ihrem Tod neu kennenzulernen und sich ein differenziertes Bild von dem Mann zu verschaffen, der sich schon als Jugendlicher gern elegant kleidete und als junger Mann auf eine sorgfältige Maniküre achtete. Der Bücher schrieb,...