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DIE FRAGE
Der Tag, an dem ich aus der Kirche austrat, zu der mein Vater und sein Vater und sein Vater und sein Vater so viele Jahre lang gehört hatten, war ein klarer, kalter Wintertag. Ich hatte im Internet nachgeschaut, wo man hingehen und was man mitbringen muss, ich war in der Arbeit gewesen und hatte ein paar Mails geschrieben, ich wollte auf dem Weg nach Hause noch einkaufen. Da könnte ich, dachte ich, vorher noch beim Gericht vorbeifahren, die haben bis 15 Uhr geöffnet.
Es war Dezember, der Tag vor Silvester, und in dieser zeitlosen Zwischenzeit schien auf einmal möglich, was ich all die Jahre hinausgeschoben hatte. Die Entscheidung war ja längst gefallen. Und dass ich immer wieder gewartet hatte, lag weniger an mir. Ich hatte vielmehr eine Scheu davor, was diese Entscheidung für andere bedeuten würde. Erst wollte ich meinen Vater nicht verletzen, als er noch am Leben war. Dann hatte ich die Sehnsucht, meinen Kindern etwas von dem Glauben ihrer Vorfahren zu zeigen. Und schließlich fand ich es schlicht zu klischeehaft, aus der Kirche auszutreten, zu pompös, eine zu große Geste für etwas, an das ich kaum dachte.
Ich wollte niemandem etwas beweisen. Ich wollte nur konsequent sein. Ich glaube nicht an Gott, ich gehe an Weihnachten und manchmal an Ostern in die Kirche, und jedes Mal denke ich, wie falsch es ist, an einem Ort zu sein, der auf dem Glauben aufbaut, und selbst nicht zu glauben. Ich schalte den Kopf aus in diesen Momenten, ich reagiere mechanisch, ich mache, was man dort macht. Es ist eine Überlieferung, die nicht meine ist, und ich schaue mir selber zu, in diesem Museum des Glaubens, das in manchem auch das Museum meiner Familie ist.
Diese alten Worte, diese alten Gedanken, diese alten Gesten. Ich habe versucht zu verstehen, was sie mir bedeuten könnten. Ich habe versucht zu verstehen, warum sie mich nicht erreichen. Ich habe versucht zu verstehen, was sie für die anderen bedeuten, für die zum Beispiel, die um mich herum sitzen an Weihnachten, Gläubige, Ungläubige, Alte, junge Eltern und Familien, die die Kirche betreten und in sich hineinhören, ob da etwas ist, ob da mehr ist als der unbestimmte Wunsch nach einer Erinnerung, die es möglicherweise nie gegeben hat.
Glaube, so sehe ich das, ist zuerst einmal Selbstbeschreibung, Glaube ist Selbstentwurf. Der Einzelne als Teil des Göttlichen, der Zufall als Wesen des Plans, das Vergebliche als Bestimmung und die Erlösung als Belohnung, wenn man es aushält, wenn man mitmacht, wenn man sich fügt und dient und den Kopf beugt. Der Glaube soll der Willkür einen Sinn geben. Für mich hat das nie funktioniert, und ich würde auch sagen, dass es heute für die meisten Menschen nicht funktioniert, die, wie ich, etwas verloren im Gottesdienst stehen und die Lieder nicht mitsingen können. Wir kennen nur noch die Melodie. Wir summen sie mit. Oder wir bewegen einfach nur den Mund.
Manche von denen, die an Weihnachten oder Ostern um mich herum sitzen, glauben. Und manche von ihnen würden gern glauben und strengen sich an und schaffen es. Und manche würden gern glauben und schaffen es nicht und täuschen sich darüber hinweg und singen umso kräftiger mit. Und manche wollen gar nicht glauben, sie sind einfach da, weil sie da sind, sie machen das, was sie schon immer an Weihnachten und Ostern gemacht haben, es gibt ihrer Zeit ein Gerüst und für das Fest einen Anlass. Manche fühlen sich wohl dabei und manche nicht.
Als ich das Gerichtsgebäude in der Möckernstraße betrat, war ich beschwingt. Ich würde es endlich tun. Ich hatte meine Zweifel im Auto gelassen und meinen Personalausweis in der Tasche. In der dunklen Eingangshalle war eine große Ruhe, und die drei Beamten am Metalldetektor waren freundlich. Es war kaum etwas los an diesem letzten Arbeitstag des Jahres. Zuerst, erklärte mir einer der Beamten, müsste ich im Zimmer F 53 eine Gebühr von 30 Euro bezahlen, dann im Zimmer A 27 meinen Antrag ausfüllen. Es war, wie ich es haben wollte: ein Akt ohne Bedeutung, ein bürokratischer Vorgang, kein Pathos, kein Bekenntnis, kein Abschwören.
Die Frau im Zimmer A 27 trug einen schwarz-weißen Fleece-Pullover mit einem weihnachtlichen Wintermuster. Sie erklärte mir, dass ich den schmutzig grauen Zettel, den sie vor mich auf den Tisch gelegt hatte, gut aufbewahren müsste, zehn Jahre lang behalten sie die Akten im Gericht, dann werden sie zerstört, und wer aus der Kirche ausgetreten ist, sagte sie, der muss das auch beweisen können. Eine Art umgekehrte Unschuldsvermutung, dachte ich. Am besten, sagte sie, wäre es, wenn ich den Zettel einscanne, für die digitale Ewigkeit. Denn wer nicht beweisen kann, dass er aus der Kirche ausgetreten ist, der muss Kirchensteuer nachzahlen. Sie hätten schon mehrere solche Fälle gehabt, sagte sie und schaute mich warnend an, Menschen, die vor zwanzig oder dreißig Jahren aus der Kirche ausgetreten seien. Manchmal verlange das Finanzamt nur eine symbolische Zahlung, manchmal mehr. Sie schien über etwas nachzudenken. Dann drifteten ihre Gedanken weg. Sie schob mir den Zettel zu, und ich stand auf und ging.
Den Zettel faltete ich und steckte ihn in die tiefe Tasche meines warmen Wintermantels. Formal gesehen war die Kirchensteuer das, was mich am direktesten mit der Kirche verbunden hatte. Ich hatte sie immer ohne Emotionen bezahlt, das Geld war mir nicht wichtig. Ich sah in dieser Steuer keinen Ablass für nicht geleisteten Glauben. Sie war für mich so sinnvoll oder sinnlos wie ein Dinosaurierskelett oder altes Besteck. Ich verstand ihre Bedeutung und schaute doch achselzuckend auf ihre Existenz.
Mein Vater, und das überraschte mich damals, als er mir davon erzählte, fand sie falsch, diese Steuer. Ein Pfarrer, dachte ich, der die Grundlage für die Existenz jener Institution infrage stellt, die ihm die Miete und das biblische tägliche Brot bezahlt. Er hätte sich gewünscht, sagte er, dass die Kirchensteuer mit der Wiedervereinigung abgeschafft worden wäre, was durchaus möglich gewesen wäre, aber wie so viele andere Chancen der Erneuerung gedankenlos übergangen wurde. Mein Vater sagte damals, dass es ihm um den lebendigen Glauben gehe und dass die Menschen stärker mit einer Sache oder in diesem Fall mit der Kirche verbunden wären, wenn sie selbst entscheiden könnten, ob sie zahlen oder nicht, ob sie es wirklich wollen oder ob es ihnen letztlich egal ist. Das war seine Vorstellung vom Glauben: Der Einzelne sucht seinen Gott, der Einzelne formt seinen Glauben, der Gläubige erschafft die Kirche. Wenn es anders läuft, wird die Institution zum Problem.
Mein Vater war kein Rebell. Er war aber, und das ist eines der Rätsel, die ich mit diesem Buch ergründen will, ein freier Geist, der sich in ein System begab, die evangelische Kirche, das keinen besonderen Wert auf Freiheit legte. Er war ein Mann, der Worte liebte und der mir gegenüber doch ein wenig geizig damit war. Er war ein Mann, der viele Ideen hatte und Pläne und der mir wenig von dem Glauben zeigte, der ihn anscheinend so begeistert hatte, dass er sein Leben damit verbrachte, ihn anderen Leuten zu vermitteln, Sonntag für Sonntag, im Gottesdienst, auf der Kanzel, in der Predigt und jeden Tag im Gemeindebüro, wo er an seinem Schreibtisch saß, der neben dem schweren braunen Schrank stand, in der Ecke ein niedriger Tisch, auf dem eine Decke lag, die sich so seltsam anfühlte, das fand ich als Kind immer, wenn ich ihn dort besuchte, es war wohl eine Art Samt, und ich saß dort und wartete, bis er fertig war, und es roch nach alten Büchern und der Flüssigkeit, die er brauchte, um die Blätter für den Gottesdienst zu vervielfältigen. Es gab noch keine Kopiergeräte, er verwendete, so hieß das, Matrizen.
Mein Vater und meine Mutter hatten sich damals schon getrennt. Mein Vater hatte noch einmal geheiratet, die Gemeinde musste darüber entscheiden, ob der geschiedene Pfarrer Diez bleiben durfte, und hätte nur ein Gemeindemitglied dagegen gestimmt, er hätte gehen müssen. So waren die Zeiten, und vielleicht lag es auch daran, am Geist der 70er-Jahre, diesem Zwischenjahrzehnt, aus den 60ern in die Moderne geschossen, in der Melancholie der Utopielosigkeit gestrandet, dass er mir so wenig von Gott erzählte oder Jesus. Es schien fast, als ob er eine gewisse Scheu hatte. Es war, als ob er mich nicht damit behelligen wollte. Als ob er sich nicht traute, mich zu überzeugen. Als ob er nicht glaubte, dass mich sein Glaube überzeugen würde.
Warum aber hat er nicht versucht, seinem einzigen Sohn zu erklären, warum Gott seinen einzigen Sohn geopfert hat und warum das ein Zeichen der Liebe und der Hoffnung ist für die gesamte Menschheit? Warum hat er mir nicht erklärt, dass dieser Gott gut und gnädig ist, obwohl es auf der Welt so viel Elend gibt? Wie hat er sich dieses Durcheinander erklärt, das auf der Welt herrscht, obwohl sein Gott doch allmächtig ist und also leicht für Ordnung sorgen könnte? Warum straft Gott, was er liebt? Warum straft Gott, was er geschaffen hat? Was ist der Sinn der Schöpfung, wenn sie so viel Leiden bedeutet? Gäbe es keinen Glauben ohne Leiden? Ist, andererseits, eine Welt ohne Leiden überhaupt denkbar?
Der Mensch ist, wie er ist. Und Gott kennt den Menschen. Er kennt ihn so gut, könnte man sagen, weil er ein Geschöpf der Menschen ist. Die Menschen haben sich Gott erfunden, nicht umgekehrt. Es gibt Gott also, weil die Menschen an ihn glauben. Es ist ein, ja, Teufelskreis. Warum tut Gott, was er tut, wenn es ihn gibt?
Mein Vater ließ mich in Ruhe mit diesen Fragen, er war nicht besonders streitlustig, und ich war es damals auch nicht, und so herrschte eine mehlige Stille, die ich mit der Kirche verbinde und mit den Bildern, die ich aus der Kinderbibel kannte, die mein Vater mir geschenkt...