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E-Book

Max Weber

Ein Leben zwischen den Epochen

AutorJürgen Kaube
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783644116115
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Bereits als Dreizehnjähriger studiert er die Werke Machiavellis und Luthers, mit neunundzwanzig wird er Professor, er ist zeitweise glühender Nationalist und sieht sich als Gesellschaftstourist dennoch gern den American Way of Life an: Max Weber (1864 - 1920) gehört nicht nur zu den einflussreichsten Denkern der Moderne, sondern ist zugleich eine der schillerndsten, widersprüchlichsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Er leidet an der zeittypischen «Nervenkrankheit», arbeitet wie besessen und vollendet dennoch kaum ein Buch; selbst sein Hauptwerk «Wirtschaft und Gesellschaft » erscheint erst posthum. Webers Bedeutung als Soziologe und Volkswirt, Historiker und Jurist ist unumstritten - seine Aufsätze haben Generationen von Akademikern und Politikern beeinflusst, weltweit -, aber was prägte ihn selbst, was trieb ihn an? Als Mensch ist Max Weber bis heute ein Geheimnis geblieben. Jürgen Kaube, einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftsjournalisten, versucht in seiner mitreißend geschriebenen, anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber erscheinenden Biographie, dieses rastlose, stets am Rande der Erschöpfung geführte Leben zu ergründen - und entwirft zugleich ein faszinierendes Zeitbild der ersten großen Phase der Moderne.

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.

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Leseprobe

ERSTES KAPITEL


EIN MITGLIED DER BÜRGERLICHEN KLASSEN


Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauerstande gerechnet werden können.

Allgemeines Preußisches Landrecht, 1794

In der Frage, was einer ist, soll man ihn zuerst selbst hören. «Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen», hat sich Max Weber im Alter von einunddreißig Jahren in seiner Freiburger Antrittsvorlesung als Professor der Nationalökonomie 1895 den Zuhörern vorgestellt, «fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen».[3] Eine so bezeichnende wie merkwürdige Formulierung. Merkwürdig weniger, weil es in jenen Jahren für jemanden, der ersichtlich kein «von» im Namen trug, ziemlich überflüssig war, eigens zu betonen, weder ein Arbeiter- noch ein Bauernkind zu sein. Weber zählt sich nämlich gar nicht «der» bürgerlichen Klasse im Singular zu, wie sie Marxisten vom Proletariat oder Sozialgeschichtler vom Adel und den Bauern unterscheiden würden. Er verwendet den Plural und unterstellt damit, dass es mehrere solcher Bürgertümer gibt und dass nicht nur ihr Unterschied zu anderen Klassen signifikant ist, sondern auch ihre Verschiedenheit untereinander. Doch sich selbst wiederum fühlt er diesem Plural als Ganzem zugehörig; er sieht sich nicht als Mitglied einer bürgerlichen Klasse, sondern als Mitglied ihrer Gesamtheit. Das ist so, als hätte Max Weber gesagt: «Ich bin ein Bewohner der süddeutschen Städte.»

Max Weber war tatsächlich Mitglied der bürgerlichen Klassen. Er war es ökonomisch: Die Familie lebte, vor allem durch das mütterliche Erbe, im Wohlstand. Das Vermögen, so stellt Weber 1910 im Rückblick auf seine Jugend fest, «war nach damaligen Begriffen sehr groß, zumal Papa daneben 12000 Mk Gehalt hatte, also ca. 34000 Mk Einnahmen».[4] Das mütterliche Erbe, dessen Zinsen also beinahe das Doppelte eines hohen Beamtengehaltes ausmachten, beruhte auf Erträgen aus Handel und Industrie, auf europaweiten Geschäften in der führenden Branche der industriellen Revolution, dem Textilgewerbe. Die Französische Revolution hatte um 1800 zu einer massiven Kapitalflucht nach England geführt und traf dort auf technologische Umstände, die das Rad der Produktion immer schneller antrieben. Ein Urgroßvater Max Webers mütterlicherseits, der aus Frankfurt am Main stammende Cornelius Charles Souchay, nutzte das mit besonderer Fortune und besaß eines der damals erfolgreichsten Unternehmen überhaupt, in dem Herstellung, Vertrieb und Finanzierung zusammenliefen. Er war in Schmuggelgeschäften während der Kontinentalsperre engagiert, der von Napoleon Bonaparte zwischen 1806 und 1814 verfügten Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien, und zog als Spekulant Profite aus den europäischen Kriegen jener Epoche. Die hugenottische Familie Souchay zählte zu den reichsten anglodeutschen Handelsdynastien und gehörte zu einem weit verzweigten Familiennetzwerk, das sich über mehrere Imperien erstreckte und dessen Kontakte deshalb nicht nur nach England, Belgien und Holland, sondern auch bis nach Kanada, Südafrika und Indonesien reichten.[5] Max Webers Großmutter war durch ihr Erbe Millionärin.

Väterlicherseits stammen seine Vorfahren aus Bielefeld, waren dort Leinenhändler und Mitglieder der örtlichen Honoratiorenschicht. Anders als das Leben der Souchays scheint das der Webers von einem etwas gemächlicheren Tempo bestimmt gewesen zu sein; Geldverdienen diente hier vor allem der standesgemäßen Lebensführung. Vor elf Uhr mittags, heißt es, erschien der Großvater nicht im Kontor.[6] Darin scheint er keine Ausnahme gewesen zu sein. «Was Bielefeld betrifft», so schreibt der preußische Handelsminister Christian Peter Wilhelm Beuth 1842 dem Sprecher der dortigen Unternehmer, «so habe ich Ihnen meine Meinung oft offen dahin erklärt, dass die Herren dort auf ihren Lorbeeren und Geldsäcken ruhende Kaufleute, aber keine Fabrikanten sind.»[7] Max Webers spätere Frau, Marianne, stammte aus einem Zweig derselben Familie, der aber ins benachbarte Herzogtum Lippe umgezogen war, weil ihr Großvater, der in Spanien ausgebildete Carl David Weber, sich dort dem preußischen Wehrdienst entziehen konnte.[8] Das Vermögen, das Carl David erwirtschaftete, übrigens ebenfalls in der Textilindustrie, war groß genug, um seinen vielen Kindern und Enkeln lange Zeit die finanzielle Unabhängigkeit zu sichern. Max und Marianne Weber konnten also beide auf Erbschaften ihrer Großeltern zurückgreifen, und so verarmte das Paar auch dann nicht, als Weber schon 1899 mit nur fünfunddreißig Jahren aus gesundheitlichen und psychischen Gründen sein Lehramt aufgab und bald danach als Rentier auf eigene Kosten lebte.

Auch dem politischen Bürgertum gehörte Max Webers Familie an: Sein Großvater mütterlicherseits, Georg Fallenstein, war Mitglied des Lützow’schen Freikorps, eines Freiwilligenverbands der preußischen Armee im Kampf gegen Napoleon, und zählte später zum Umkreis der Matadore von 1848, der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland. Friedrich «Turnvater» Jahn gehörte ebenso zu Fallensteins engen Bekannten wie der Historiker und Germanist Georg Gottfried Gervinus, einer der «Göttinger Sieben», die 1837 gegen die Aufhebung der hannoverischen Verfassung durch den König protestiert hatten. Webers Vater wiederum, Max Weber senior, war einer der ersten deutschen Berufspolitiker und saß für die nationalliberale Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus wie auch im Reichstag. Max Weber selbst wird sehr viel später ebenfalls, als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei des Nationalliberalen Friedrich Naumann, sich um eine Kandidatur für den Reichstag bewerben. Seiner Ausbildung nach war Max Weber Jurist, er liebäugelte kurz mit einer Karriere als Anwalt und Syndikus der Bremer Handelskammer, wurde aber durch seine historischen und sozialwissenschaftlichen Interessen in die Universität hineingezogen.

Das fügt den bürgerlichen Klassen, denen Max Weber angehörte, eine dritte hinzu, den Gelehrtenstand. Es ist wichtig, diese dritte Klasse von den beiden ersten zu unterscheiden. Denn die Gesellschaft, in die Weber hineingeboren wurde, ist durch drei ganz verschiedene Revolutionen gekennzeichnet, die alle «bürgerlich» genannt werden: Die politische Revolution zum demokratischen Verfassungsstaat, die ihren deutlichsten Ausdruck zuerst in Nordamerika und Paris fand. Die industrielle Revolution, die von England ausging und deren Symbole die Dampfmaschine, die Schnellpresse sowie der voll mechanisierte Webstuhl sind. Und schließlich die Bildungsrevolution, an deren Ende die durchgesetzte Schulpflicht stehen, die Abschlussprüfungen an höheren Schulen als Zugangsvoraussetzungen zur Universität und die Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen.[9] Vor allem in dieser letzten Revolution war Deutschland führend; weit mehr als ein halbes Jahrhundert lang, von 1850 bis 1920, werden viele wissenschaftliche Standards und solche der höheren Bildung in Deutschland gesetzt, und zwar sowohl in den Natur- und Ingenieurs- wie in den Geisteswissenschaften. Um zu sehen, was eine forschende Universität ist, fuhr man damals als Amerikaner wie Franzose nach Berlin, Bonn, Leipzig oder Heidelberg. Max Weber wächst in einer Zeit auf, in der Gelehrte ein immenses Prestige erwerben konnten. Er selbst war dabei aber nicht nur Forscher, sondern auch Exponent einer bürgerlichen Kultur, die sich durch ihren Bezug auf Bücher und Reisen, die Antike, das Gymnasium und das Zeitunglesen, das protestantische Christentum und den Nationalstaat definierte.

Alle drei Revolutionen hatten für das Bürgertum jedoch einen ambivalenten Charakter, der schon im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erkennbar wurde. Einer Gesellschaft, die unter dem Eindruck des Sturms auf die Bastille und der Abschaffung der Monarchie in Frankreich stand, mochte es zunächst so scheinen, als tauschten im modernen Staat Adel und Bürgertum, der «erste» und der «dritte Stand», bloß die Plätze, als werde nur die Spitze neu besetzt und das Ganze nunmehr nach bürgerlichen Gesichtspunkten regiert. Solche Gesichtspunkte, dachte man weiter, ließen sich vor allem der industriellen Revolution entnehmen, dem bürgerlichen Interesse an Gewerbe, Handel, Fabrikation – der Entfaltung des Privateigentums also. Und schließlich wurde auch Bildung als eine spezifisch bürgerliche Idee der Vervollkommnung von Individuen aufgefasst. Der «Bildungsroman», jene Gattung, die um 1800 entstand und das europäische Erzählen mehr als neunzig Jahre lang bestimmte, hat diese Idee in seinem Handlungsschema anschaulich gemacht: Der junge, unheroische Held setzt in ihm die Traditionen seiner Herkunft nicht fort, sondern sieht sich einer aufregenden Moderne ausgesetzt, die Erwartungen auf Glück in ihm weckt; erst in der Konfrontation mit der Wirklichkeit lernt er aber, wie viele Illusionen darin lagen. Bürgerlich daran erschien nicht nur das Recht, sein eigenes Glück zu suchen und diese Suche neben Leben und Freiheit wie in der amerikanischen Verfassung zum dritten unveräußerlichen Recht des Individuums zu erklären. Bürgerlich erschien auch die Lösung, die «Bildung» im Konflikt zwischen Glück und Freiheit, Festlegung und Mobilität, Selbstbestimmung und...

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