Mein Weg in die Berge
Wer immer sich auf den Weg macht, um seiner Leidenschaft zu folgen, wer den Kopf freihält und Fantasien zulässt, der hat auch einen Traum. Da ist zum Beispiel die Läuferin, die sich immer neu beweist, was zu leisten sie imstande ist. Vielleicht hat sie das Laufen erst spät entdeckt; womöglich hat sie nicht gewusst, was in ihr steckt. Und mit jedem Trainingsfortschritt setzt sie sich neue Ziele. Sie wird alles tun, um einmal dabei zu sein, beim New York Marathon.
Kleine Jungs träumen von Sportwagen. Wann immer sie einen Bugatti, Ferrari oder Porsche vorbeifliegen sehen, verrenken sie sich die Hälse. Und parkt so ein Bolide am Straßenrand, schleichen sie ehrfürchtig um das Objekt ihrer Träume und drücken sich die Nasen an der Scheibe platt, um wenigstens einen Blick auf den Tachometer zu erhaschen. Sie träumen sich auf den Fahrersitz, wollen einmal Pilot sein in diesem Boliden.
Oder nehmen wir die talentierte Pianistin, die sich schon als kleines Mädchen ihrem Instrument verschrieben hat; seit ihrer Schulzeit drückt sie die Klavierbank und studiert mit Hingabe die Meisterwerke der Klavierliteratur. Abends sitzt sie, zusammen mit hundert anderen Musikbegeisterten, in der Philharmonie und lauscht der Darbietung eines Solisten – und sehnt sich selbst hinauf aufs Podium. Sie träumt sich an dieses Instrument, dass ihr tatsächlich Flügel verleiht.
Für jeden, der seinen Wünschen nachgeht, formuliert sich fast wie von selbst ein Wunschziel, ein Sehnsuchtsort, ein Objekt der Begierde. Früher oder später liegt es klar vor dir: Es ist einfach das »Ding«, das dich motiviert, herausfordert, inspiriert. Dabei ist es zunächst nicht mal wichtig, ob du diese Zielmarke je erreichen wirst. Es ist die Magie, die Anziehungskraft des Ziels selbst, die enorme Kräfte in dir freisetzt. Diese Begeisterung für die Sache ist die Quelle, die uns täglich Energie verleiht, geduldig macht und vielleicht sogar ein wenig demütig.
Ich war neun Jahre alt, als ich meine Leidenschaft für das Klettern entdeckt habe. Meine Eltern gaben meinem sehnlichsten Wunsch nach, mit mir, dem kleinen, geburtsblinden Andy, doch mal auf einen für mich auch heute noch anständigen Kletterberg zu steigen. Sie ahnten damals nicht, dass es mir genau dort, im steilen Gelände, viel leichter fallen würde, mich zu orientieren und selbstständig zu bewegen. Denn an der Kletterwand kann ich die Welt mit Händen und Füßen begreifen, das Gelände lesen und mich ganz ohne Augenlicht zurechtfinden.
Dieses erste Klettern, damals am 16. August 1975, war eine Initialzündung. Plötzlich waren mein Vater und meine Mutter nicht mehr schneller als ich; es ereignete sich ein Rollentausch – ich konnte Teile des felsigen Aufstieges sogar als Erster vollziehen.
Der Moment, als ich das Gipfelkreuz mit eigenen Händen berühren durfte, als ich erstmals so plastisch realisierte, dass alle Grate hier oben zusammenlaufen und wir wirklich am höchsten Punkt waren, dieser Moment nahm mir alle Fesseln ab und ich fühlte mich frei wie nie zuvor.
Dieser für mich so klare Weg direkt am steilen Abgrund, den auch Menschen mit Augenlicht nur mit Respekt gehen können, gab mir das Gefühl von wahrer Gleichberechtigung gegenüber den Sehenden. Und so ging dieser Tag da oben am Spitzkofel in den Lienzer Dolomiten nicht spurlos an mir vorüber. An diesem glücklichen Tag war der Samen der Begeisterung in mir gepflanzt.
Allerdings brauchte es noch Jahre der Entwicklung, bis ich mich wirklich als Bergsteiger begriff. Und vielleicht waren gerade die Jahre, in denen ich eben nicht auf Berge stieg, entscheidend für eine gesunde Entwicklung.
Mit 15, 17 oder mit 19 Lebensjahren hätte ich wohl noch nicht das Spektrum der Gefahren einschätzen können, das mich bei einer Tour in die Felswand erwartet; noch weniger wäre mir in diesem Alter bewusst gewesen, wie diese Risiken trotz meiner eigenen Einschränkung zu meistern sind. Vielleicht wäre ich mit 18 Jahren abgestürzt, wenn mich ein Bergsteiger damals schon mit in einen ernst zu nehmenden Fels genommen hätte.
Heute weiß ich, es war richtig und gut, dass mein Vater, der meinen innigsten Wunsch kannte, gewartet hat in all den Jahren. Erst als ich 23 Jahre alt war, hielt er die Zeit für gekommen, mir einen passionierten, erfahrenen Bergsteiger an die Seite zu stellen, den Bruckner Hans.
Mit Hans, dem so liebenswürdigen, störrischen und um 33 Jahre älteren Kletterer, und meiner Mutter, die bis dahin noch nie an ein Seil gebunden war und mir damit einfach nur helfen wollte, zog ich damals im Herbst 1990 zum ersten Mal mit Seil und Haken los, um die höchste Spitze in den Lienzer Dolomiten zu erklettern. Schwierigkeitsgrad II an der Großen Sandspitze war damals für mich das Ärgste, was ich mir als blinder Kletterer vorstellen konnte. Hans wurde schon bald ein wirklich guter Freund und er ist auch heute, nach so vielen Jahren, immer noch derjenige, dem ich mein Bergsteigerleben am meisten verdanke.
Die Kletterwochenenden mit Hans liefen meist nach demselben Muster ab. Samstags erkundete ich als Seilzweiter und unter Hans’ erfahrener Führung eine neue Route. Und am Sonntag darauf stieg ich dieselbe Tour als Seilführer hinauf – und am anderen Ende meines fünfzig Meter langen Kletterseiles kamen Sabine oder meine Mutter hinterher gekraxelt, fluchend und schnaubend.
Meine ersten Erfahrungen als Seilschaftsführer lieferten mir die stärksten Impulse für die Entwicklung meines Selbstbewusstseins und den Umgang mit der Verantwortung.
Ich spürte in diesen Momenten glasklar: Es gibt jetzt keinen anderen auf diesem Planeten, der es in der Hand hat, ob unsere Seilschaft direkt auf den Friedhof oder in eine herzerwärmende Gipfelstunde geführt wird. Es liegt einzig und alleine an mir.
Und wenn es eben nur an mir liegt, dann habe ich noch nicht verloren. Dann habe ich noch nichts falsch gemacht. Dann habe ich alle richtigen Entscheidungen zur Verfügung. Natürlich auch alle falschen.
Dieses Maß an Verantwortung hat mich anfänglich sehr gefordert, später dann umso mehr beflügelt. Mit dieser Herausforderung umzugehen, musste ich erst lernen. Zuerst ist diese Situation kaum zum Aushalten, später wird es zur Wachheit und am Ende zum Salz des Daseins.
Mit den Jahren gesellten sich neben Sabine, meiner Mutter und dem Bruckner Hans noch weitere Bergpartner dazu und so wuchsen meine Fähigkeiten stetig.
1994 im September machte ich meine erste, unmittelbare Erfahrung mit einem schweren Alpinunfall in meiner Seilschaft. Hansjörg, mein damaliger Partner, stürzte in der ersten Seillänge der Laserzkopf Nordwand in den Lienzer Dolomiten dreißig Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer.
Wieder sah ich mich mit dieser Frage konfrontiert: War das Klettern tatsächlich mein Weg? War dieser Unfall ein Signal für mich, es sein zu lassen – oder war er einfach eine hautnahe Verdeutlichung der Tatsache, wie nahe am Abgrund eigentlich jedes Leben steht?
Dank Sabines Hilfe und der meiner Eltern kam ich wieder auf die alpinen Beine und ging meinen Weg weiter. Ende der Neunzigerjahre konnte ich schon richtige ernste Felstouren in den Ambezaner, Sextener oder Lienzer Dolomiten klettern. Im Winter galt jedes Wochenende dem Pulver- oder Firnschnee, wenn wir auf unseren Tourenskiern ausrückten.
Am 18. August 2002 ereignete sich der nächste, schreckliche Rückschlag. Ich stand an einem der Sicherungsstandplätze in der direkten Laserz Nordwand in den Lienzer Dolomiten, circa vierhundert Meter über einem nach unten sich weit öffnenden Abgrund – die Wand ist hier überhängend – als plötzlich der Körper meines Freundes Sepp von oben über mich hinwegschoss; ich konnte von meinem lieben Freund, der danach etwa acht Meter unter mir in der leicht überhängenden Wand hing, nur noch ein leises Kratzen und Schürfen vernehmen, als sein bereits toter Körper am noch immer pendelnden Seil die umliegenden Felsausbauchungen streifte.
Als ich vier Tage darauf neben Sepps Frau Berti am Friedhof von Hermagor hinter Sepps Sarg zu seiner letzten Ruhestätte ging, kam wieder diese ganz große Frage auf.
Muss das Bergsteigen sein? Hat es nicht schon genug Opfer gegeben? Bist du vielleicht der Nächste?
Die Frage nach Sinn oder Unsinn will hier nicht greifen. Die Frage ist vielmehr: Ist es mein Weg oder ist es nicht mein Weg?
Wieder brachten mich an erster Stelle meine Sabine, aber auch meine Mutter und mein Vater, der Bruckner Hans und einzelne andere Bergsteiger zurück in die Spur. Es war nicht mein Unfall, es war der Weg und der Fall vom Sepp, das wurde mir dann immer klarer.
Wieder kaufte ich ein neues Seil, wieder träumte ich nachts von den Felswänden. Und immer öfter nahmen mich richtig starke und erfahrene Kletterer mit in die Wand. 2004 durfte ich nach der Durchsteigung der Gelben Kante an der Kleinen Zinne in den Dolomiten auch noch als erster und bis heute einziger blinder Kletterer die Nordwand der Großen Zinne, die Comici-Route, durchklettern, 2005 dann den Pilastropfeiler an der Tofana.
Im September 2005 bereiste ich zum ersten Mal einen anderen Kontinent. Auf Einladung meines Freundes Erik Weihenmayer, dem neben mir einzigen blinden Berufsbergsteiger und Everest-Bezwinger weltweit, flog ich nach Afrika. Gemeinsam mit meinem Freund Peter Mair aus Dölsach in Osttirol und Eriks Freunden erstiegen wir den Gipfel des Kilimandscharo in Tansania. Eriks Unterstützung hat mir diesen Trip zum höchsten Berg Afrikas ermöglicht; logistisch und finanziell wäre ein solches Unternehmen für mich damals utopisch gewesen.
Von da...