Avant-Propos
Tourrettes-sur-Loup, Januar 2012
Welcher Dämon mag mich wohl an jenem sonnigen Nachmittag im Münchner Verlagshaus geritten haben, als ich meine Unterschrift unter den Vertrag setzte, der mich zur Niederschrift einer Autobiographie verpflichtete? Das war im Jahr 2000, wenn ich mich recht erinnere. Die finanziellen Bedingungen, die Garantiesumme, die mir zugestanden wurde, ging nicht über den bei mir üblichen Vorschuß hinaus. Ein rivalisierender Verlag, der sich offensichtlich von dieser Lebensbeichte einen sensationellen Auflageerfolg versprach, wollte mir das Doppelte bieten. Aber dann hätte ich mich unverzüglich an das Verfassen dieses Opus machen müssen, während Random House, wie sich der Buchvertrieb des Bertelsmann-Konzerns im Zuge der üblichen Verbalamerikanisierung umbenannt hatte, gar nicht versuchte, mir einen präzisen Erscheinungstermin vorzuschreiben.
Ich war damals sechsundsiebzig Jahre alt, und es mag lächerlich klingen, daß ich in diesem hohen Alter verlangte, das Projekt auf die lange Bank zu schieben, an seine endgültige Gestaltung erst heranzugehen, »wenn ich im Rollstuhl« säße, wie ich mich recht überheblich äußerte. Die Publikation einer Autobiographie, das verspüre ich auch heute noch, droht einen Schlußstrich zu ziehen unter jede schriftstellerische Kreativität. Im Unterbewußtsein könnte auch die Freude an neuen, originellen Erlebnissen erlöschen, an jenen »émotions fortes«, die meinem Leben einen Sinn gegeben haben.
Während ich diese Einleitung – gemäß dem Prinzip »nulla dies sine linea – kein Tag ohne geschriebene Zeile« – zu Papier bringe, ist der dichte, feuchte Nebel aufgerissen, der das Dorf Tourrettes-sur-Loup seit zwei Wochen in ligurische Trübsal hüllt. Am späten Nachmittag kommt jenseits der Zypressen und Agaven des Gartens eine strahlende Bläue auf, der dieser Landstrich den Namen Côte d’Azur verdankt. Über dem Esterel-Massiv, das im Mittelalter erobernden Sarazenen als Bollwerk diente, verfärbt sich der Horizont zu einem Purpurstreifen. In diesem Winter trennen mich nur noch ein paar Wochen von meinem achtundachtzigsten Geburtstag. So vermessen es klingt – bis zum Abschluß dieser Memoiren, deren Präambel ich zögernd beginne, hoffe ich, meinen weltweiten Peregrinationen, die seit sieben Dekaden andauern, noch die eine oder andere Episode hinzuzufügen.
Zu Füßen der Terrasse, die Eva ausbauen ließ, damit der Blick sich in ganzer Breite auf das Mittelmeer öffnet, umsäumt eine unberührte Waldlandschaft die steile Felsschlucht des Flüßchens Loup. An der Küste, in vierhundert Meter Tiefe und gebührender Entfernung, täuscht der Hafen Antibes ein makellos weißes Stadtbild vor. Der ursprüngliche Name Antipolis erinnert daran, daß griechische Händler diesen Strand besiedelten, lange bevor er der Provincia Narbonensis des Römischen Reiches einverleibt wurde. Jenseits der Fluten des geschichtsträchtigsten aller Binnenmeere, das mit aufkommender Dämmerung zur grauen Bleiplatte erstarrt, bilde ich mir ein, die Nähe der afrikanischen, der maghrebinischen Gegenpiste zu spüren. Wenn in heißen Sommern der Schirokko aus Süden bläst, übersprüht er die Mauern des Dorfes Tourrettes, dessen verschachtelte Silhouette einer maurischen Kasbah ähnelt, mit einer dünnen Schicht roten Treibsandes, der aus der Sahara herüberweht.
Ich werde mich bemühen, den Abschluß dieses Buches so lange hinauszuzögern, bis meine Kräfte vollends erlahmen und »Freund Hein«, wie man früher einmal sagte, seinen Schatten auf mich wirft. Vorbildlich hat sich in dieser Hinsicht Joachim Fest verhalten, dem ich mich stets verbunden fühlte. Sein Bericht über eine ungewöhnliche Jugend im Dritten Reich, »Ich nicht«, war unmittelbar vor seinem Tod erschienen. Was die ehrenden Reden betrifft, die einem mit Erreichen des biblischen Alters, bei Preisverleihungen oder runden Geburtstagen gewidmet werden, so haben sie stets den ungewollten Klang eines Nachrufs. Die Verleihung der wohl angesehensten Fernsehtrophäe bezeichnete ich denn auch als »letzte Ölung«, als quasisakramentale Zeremonie, die dem Veranstaltungsort, dem »hilligen Kölle«, gut anstand.
Als die Berliner Verlagsleitung von Ullstein meinen achtzigsten Geburtstag besonders aufwendig zelebrierte und Helmut Kohl mir die Ehre erwies, eine Laudatio zu halten, deren Wärme, intuitive Menschenkenntnis und rhetorische Kraft sich weit über die Platituden parlamentarischer Ergüsse erhob, habe ich am Ende meiner eigenen Danksagung die Anwesenden darum gebeten, auf das Anstimmen des üblichen »Happy birthday to you« zu verzichten. Seit Marilyn Monroe diesen Glückwunsch-Song im Ton eines erotischen Lustgekeuches an John F. Kennedy richtete, damit auch niemand daran zweifle, daß sie mit dem Präsidenten der USA geschlafen hatte, ist mir diese Weise ohnehin verleidet. Da mein Wiegenfest – ein recht altertümlicher Ausdruck – im März häufig mit dem Aschermittwoch zusammenfällt, zitierte ich jenen liturgischen Spruch, der jeder Lebenslage angemessen erscheint: »Memento homo quia pulvis es et in pulverem reverteris – Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und zum Staube zurückkehren wirst.«
Mit der Niederschrift meiner »Memoiren« habe ich in den Erlebnisberichten meiner zahlreichen Bücher ja längst begonnen. Der französische Autor Chateaubriand hat seinen monumentalen Rückblick auf die Epoche Napoleons und Ludwigs XVIII. unter das Motto »Mémoires d’outre-tombe – Memoiren aus dem Jenseits« gestellt. Wenn Charles de Gaulle seine Serie von Erinnerungsbänden, die – dem Vorbild Julius Cäsars folgend – in der dritten Person abgefaßt sind, als »Mémoires d’espoir – Memoiren der Hoffnung« präsentierte, so entsprach das seiner Neigung, den französischen Niedergang, dem er sich mit seiner Résistance verzweifelt entgegengestemmt hatte, dessen er sich jedoch schmerzlich bewußt war, mit einem Schein imaginärer »gloire« zu überstrahlen, ehe er »ce cher et vieux pays – dieses liebe alte Land« den Ungewißheiten eines weltweiten Umbruchs überließ. »La vieillesse est un naufrage – das Alter ist ein Schiffbruch«, hatte er in einem früheren Lebensabschnitt festgestellt. Damit hatte er wohl kaum seine eigene Person gemeint, sondern die tragische Gestalt des von der ganzen Nation glühend verehrten Verteidigers von Verdun, den Marschall Pétain, dessen Kapitulation vor den siegreichen Armeen des Dritten Reiches er nur als Symptom von Senilität erklären konnte.
Mein Leben sei stets »in expectatione mortis – in Erwartung des Todes« verlaufen, hatte mein verstorbener Freund Johannes Gross in einer Tischrede gesagt. Das mag durchaus zutreffen für jemanden, der schon in jungen Jahren an der Exekutionsmauer stand. Aber diese Maxime gilt für jeden Menschen, beginnt das Sterben doch mit der Geburt, bleibt der Tod die einzige Gewißheit, über die wir verfügen. Der Gedanke daran hat sogar etwas Tröstliches, denn wer möchte schon ewig verweilen in einem Dasein, das der heilige Bernhard von Clairvaux als »Tal der Tränen« beschrieb?
Ich betrachte es dennoch als eine große Gunst, daß ich meine berufliche Tätigkeit als Buchautor und Chronist der Konflikte unseres Säkulums weit über den Zeitpunkt fortsetzen durfte, der für die meisten Kollegen den Beginn einer Existenz als Rentner oder Pensionär signalisiert. Das verleitet manchen Gesprächspartner auf den unvermeidlichen »Get-together«-Veranstaltungen, die ich nach Kräften zu meiden suche, die etwas hämisch klingende Frage an mich zu richten: »Warum tun Sie sich denn in Ihrem greisen Alter diese Strapazen noch an?«, wenn ich neue Reisepläne in Zentralasien erwähne oder darauf drang, mit siebenundachtzig Jahren südlich von Kundus an einer Patrouille der Bundeswehr in Richtung auf die afghanische Provinz Baghlan teilzunehmen. Aber warum sollte ich meinem Lebensstil, dem Rausch neuer Erkundungen entsagen, bevor die körperliche Gebrechlichkeit eines nahen Todes ohnehin diesen Verzicht erzwingen wird?
Der Historiker Michael Stürmer hat meinen intimen Wesenszug gelegentlich als »heroischen Pessimismus« beschrieben. Es wäre schön, wenn ich über diese römische Tugend in vollem Maße verfügte. Als ich mit Erreichen des fünfundsechzigsten Lebensjahres aus dem Vorstand des Verlagshauses Gruner + Jahr ausschied, oblag es Johannes Gross, die »oraison funèbre« zu halten in einer Hamburger Atmosphäre voll Herzlichkeit und guter Laune, die man dieser angeblich spröden Hansestadt gar nicht zutraut. Unter allen Anwesenden verfügte wohl nur er über ausreichend gallische Bildung, um den Begriff »oraison funèbre« vorrangig auf die erhabene Prosa des Predigers Bossuet am Hof Ludwigs XIV. zu beziehen.
Mein unentwegtes Vagantentum verglich Johannes allzu schmeichelhaft mit den Irrfahrten des antiken Helden Odysseus. Auf mehr als einer Insel, fügte er schelmisch hinzu, sei dieser nicht nur auf furchterregende Ungeheuer gestoßen, sondern habe sich auch am Charme weiblicher Verführerinnen, zumal der zauberhaften Kalypso, erfreut. Da fühlte ich mich veranlaßt, darauf zu verweisen, daß im Epos Homers der legendäre Ulysses nicht nur als wagemutiger Entdecker und Freund robuster Sinne geschildert wird, sondern als »polytropos«, als Mann vieler Listen, und daß auch bei mir zweifellos der vorhandene Hang zum Abenteuer mit einem stark ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb gepaart war.
»Hos mala polla planchthe … der viele Leiden erdulden mußte«, heißt es schon in den ersten Versen der Homerschen Überlieferung. So wie die düstere Vision des verwüsteten Troja und der erschlagenen Gefährten den hellenischen Heimkehrer auf seiner endlosen Suche nach Ithaka begleitete, so bleibt auch...