Meine erste Einsargung
1971, ich war 16 Jahre alt, stellte ich mich im Büro des Bestattungsunternehmens in der Augsburger Straße in Germering vor.
»Also, Sie möchten bei uns arbeiten. Warum wollen Sie das?«, fragte mich der Filialleiter Uwe Kostelecky, ein Hüne mit Vollbart und tiefer Stimme.
»Weil ich mich, schon seit ich ein kleiner Bub war, für Leichenwagen interessiere. Ich hab da keine Berührungsängste, und beim Zuschaufeln hab ich auch schon mal geholfen.«
»Haben Sie ein dunkles Gewand daheim? Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte?«
Mein Konfirmationsanzug fiel mir ein. »Freilich«, nickte ich.
»Ich ruf Sie an, wenn wir was haben, wo Sie mitmachen können.«
Ich freute mich.
Schon zwei Tage später war es so weit. Eine alte Frau war in Hechendorf verstorben. Mit dem schwarzen Mercedes-Leichenwagen, er hieß »der Sechser«, weil er die Wagennummer sechs trug, fuhren Uwe Kostelecky, sein Kollege Jörg und ich Richtung Pilsensee. Die beiden erfahrenen Männer nahmen mich in die Mitte. Uwe steuerte den Wagen, Jörg saß auf dem Beifahrersitz. Ich glaubte, ich würde ein bisschen zuschauen oder kleinere Dienste verrichten – dass die beiden mich als vollwertigen Mitarbeiter betrachteten, wurde mir erst klar, als wir den Angehörigen kondoliert hatten und Uwe ihnen mitteilte: »Während wir nun die Bestattungszeremonie besprechen, sargen meine Mitarbeiter Ihre Mutter ein.«
Da rutschte mir das Herz dann schon in die Hose. Einsargen! Bislang hatte ich bloß zugeschaufelt. Einsargen!
Mit weichen Knien folgte ich Jörg eine geschwungene Wendeltreppe nach oben. Im ersten Stock lag die Verstorbene – zu meinem Glück vollständig angekleidet. Sonst wäre das unsere erste Aufgabe gewesen: waschen und anziehen. Da hatte ich doch ein bisschen Bammel. Allerdings mehr vor meiner eigenen Courage als vor dem Leichnam.
Das Kinn der alten Frau hatten ihre Angehörigen bereits sachgerecht hochgebunden mit einem Tuch, das Sonnenblumen in verschiedensten Größen und Formen zierten. Eine vorausschauende Maßnahme, denn nach dem Erschlaffen der Muskeln, wie es beim Tod geschieht, klappt auch der Mund oft auf und kann während der Leichenstarre nicht mehr geschlossen werden. Um dies zu verhindern, wird das Kinn hochgebunden. Ein offen stehender Mund ist kein schöner Anblick, so kennen wir andere normalerweise nicht, und deshalb sollten auch Angehörige und Freunde, die sich am offenen Sarg verabschieden, nicht damit konfrontiert werden. Die Leichenstarre setzt circa zwei Stunden nach Eintritt des Todes ein, abhängig von der Muskelkonstitution des Verstorbenen und der Aktivität einzelner Muskelgruppen sowie der Umgebungstemperatur. Sie beginnt am Kiefer und wandert bis zu den Füßen. Nach etwa acht Stunden ist sie vollständig ausgeprägt und hält mindestens 72 Stunden an, bevor sie sich in derselben Reihenfolge, von oben nach unten, wieder löst. Bei einem Menschen, der beim Sport verstirbt, zum Beispiel beim Joggen einen Herzinfarkt erleidet, beginnt die Leichenstarre meistens an den Beinen, da hier die Muskulatur am intensivsten beansprucht wurde. Leichenstarre wird verursacht durch das Absinken des ATP-Spiegels. Das Adenosintriphosphat hält beim Lebenden die Muskelverbindungen geschmeidig. Weil diese Proteinstoffwechselsubstanz nach dem Tod fehlt, verkleben die Muskeln. Fäulnisbakterien, die sich in der Folge entwickeln, lösen die Starre innerhalb des oben genannten Zeitraums wieder auf. Je mehr Muskeln ein Mensch hat, desto stärker wird seine Leichenstarre ausfallen. Meinen Schülern verdeutliche ich das gern plakativ: »Bei einem Tölzer Holzfäller werdet ihr eine stärker ausgeprägte Leichenstarre vorfinden als bei einem Münchner Finanzbeamten.«
Ich erinnere mich noch gut an den Profisurfer aus Frankreich, der bei uns am Institut einbalsamiert wurde. Beim Surfen war er vom Blitz erschlagen worden, der zuerst in den Mast und dann in seinen Surfgurt gefahren war. Dieser Sportler hatte kein Gramm Fett am Leib, war extrem muskulös und zeigte eine so ausgeprägte Leichenstarre, dass wir ihn aufrecht an die Wand hätten lehnen können, ohne dass er eingeknickt wäre.
Das Brechen der Leichenstarre bedeutet nicht, dass man dem Verstorbenen die Knochen bricht, sondern man löst die Starre der Muskel-Sehnen-Verbindungen in den Schulter-, Ellenbogen-, Hüft- und Kniegelenken, um den Toten bewegen zu können; man muss ihn ja ankleiden und in den Sarg legen. Es gibt kein Geräusch beim Brechen der Leichenstarre, nichts knackst oder knirscht. Mitunter braucht man allerdings Kraft, vor allem bei Schulter und Knie. Die gebrochene Leichenstarre bleibt gelöst, da die Sehnen die Muskeln wieder auseinandergezogen haben. Nur wenn sie innerhalb der ersten acht Stunden gebrochen wird, kann sie erneut auftreten.
Augenlider sind ebenfalls von der Leichenstarre betroffen, deshalb sollte man sie möglichst unmittelbar nach Eintritt des Todes verschließen und mit feuchtem Mull abdecken, damit sie geschlossen bleiben. Um offen stehende Augen zu schließen, verfahre ich folgendermaßen: Ich lege mit einer Pinzette ein winziges Stück Papiertissue über den Augapfel und ziehe das Lid darüber, damit Ober- und Unterlid auf dem Papier haften und das Auge geschlossen bleibt.
Der Blick eines toten Menschen ist nicht schön, sondern kalt, leer, starr und nichtssagend. Man spricht ja auch von »gebrochenen« Augen, was daran liegt, dass mit der Zeit die Feuchtigkeit aus dem Augapfel entweicht und sich die Hornhaut – die Cornea – eintrübt. Die Pupillen reagieren nicht mehr auf Lichtreflexe. Augen werden nicht umsonst Fenster zur Seele genannt, da wir einen anderen Menschen in seinen Augen zu erkennen glauben, doch im erloschenen Auge fehlt eben dieses Charakteristische eines Menschen.
Die Augen der alten Dame in Hechendorf waren geschlossen; sie sah aus, als würde sie tief schlafen. Die Angehörigen hatten sie gut versorgt. Jetzt waren wir an der Reihe.
»Da gibt es ein Problem«, sagte Jörg zu mir.
»Das Treppenhaus?«, fragte ich, weil ich mir das auch schon gedacht hatte.
Jörg stimmte mir zu. »Das ist viel zu eng, um den Sarg rauf- und runterzubringen.«
Nach Rücksprache mit Uwe und den Angehörigen wurde beschlossen, die Tote im Flur einzusargen.
Ich nickte. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was nun geschehen sollte. Doch als wir den Sarg aus dem Auto holten, den ich zuvor mit Jörg dort verstaut hatte, fühlte ich mich ein bisschen sicherer. Jörg lehnte den Sargdeckel im Hausflur vorsichtig an eine Wand und erklärte mir, dass man stets darauf achten müsse, mit dem Sargdeckel keinem Angehörigen den Weg zu versperren.
Im Sarg befand sich die übliche Garnitur zusammen mit einem Kissen voller Sägespäne. Auch der Sargboden ist für gewöhnlich mit fünf bis zehn Zentimetern Sägespänen ausgelegt – verrottendes Material. Darüber wird mit einer Klammermaschine ein Tuch aus Leinen oder geraffter Seide als Sargunterteilbespannung getackert. Wir bereiteten das Kissen vor und nahmen die Decke aus dem Sarg, die wir später über die Verstorbene legen würden. Jörg gab mir klare Anweisungen, und auf einmal war es kein Rätsel mehr für mich, wie wir die tote Frau die Wendeltreppe hinunterbringen sollten. Wir verknoteten das Bettlaken, auf dem die Frau lag, an Kopf- und Fußende, schoben den Arm unter dem Knoten durch, bis er in der Ellenbeuge ruhte, und rollten mit der anderen Hand das Laken über dem Körper zusammen. Nun hatten wir die Tote optimal im Griff. Angenehmerweise war es eine leichte Leiche. Als sie im Sarg lag, entfernten wir das Leintuch vorsichtig, richteten ihr Kleid, breiteten die Decke über sie und falteten die Hände, um die wir einen Rosenkranz wickelten. Zum Abschluss kämmten wir die alte Dame, und schließlich meldete Uwe: »Wir sind fertig.«
Uwe lud die Angehörigen ein, sich zu verabschieden. Als dies geschehen war, setzten wir den Deckel behutsam auf den Sarg, und zwar so, dass die Angehörigen ihre Verstorbene bis zum Schluss sehen konnten. Solche Kleinigkeiten sind sehr wichtig, denn es ist ja oft der letzte Blick, den jemand auf einen Verstorbenen wirft, und da wäre es respektlos, den Sarg von der gegenüberliegenden Seite zu schließen.
Jörg und ich trugen den Sarg zum Sechser. Ich war froh, dass alles so gut geklappt hatte. An Uwes Gesicht konnte ich ablesen, dass er mit mir zufrieden war. Für mich war es eine große Ehre, dass er mir diese Aufgabe zugetraut hatte. Später überlegte ich mir, dass er mich testen wollte. Jedenfalls hatte ich die Prüfung bestanden, denn auf der Heimfahrt bot Uwe mir das Du an. Ich sagte ihm, dass ich bald wieder dabei sein wollte – obwohl ich zu dieser Zeit bereits berufstätig war. Ich machte eine Lehre zum Werkzeugmacher bei der Firma Rodenstock. Doch abends und am Wochenende nahm ich mir gern Zeit für Uwes Bestattungsunternehmen – außer die »Butlers« hatten einen Auftritt. Die Abwechslung, die mir meine drei Tätigkeiten boten, gefiel mir, und ich lernte mit großem Eifer in meinem Ausbildungsberuf, den ich mir selbst ausgesucht hatte. Ich wollte immer Handwerker werden – bloß nicht den ganzen Tag im Büro hocken! Meine Eltern fanden meine Wahl gut. »Rodenstock ist eine Weltfirma.« Und dass ich mein schmales Lehrlingsgehalt mit Beerdigungen und Konzerten aufbesserte, unterstützten sie ebenfalls. Meine Mutter sorgte dafür, dass mein Konfirmationsanzug stets sauber und seriös aussah, und mein Vater ließ sich gern erzählen, was ich bei den Beerdigungen erlebt hatte. Sobald es etwas Kurioses zu berichten gab, konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. »Stell dir vor, Bapa, da ist ein Mann exhumiert worden wegen...