Vorwort
»Mein Tod gehört mir«
Der Wunsch nach Selbstbestimmung
Noch einmal die Frage, ob er sich wirklich sicher sei. Ja. Ob er dann bitte auf dem Bett nebenan Platz nehmen könne. Wortlos geht er in den anderen Raum und setzt sich auf die Bettkante: ein alter Mann mit Hosenträgern, der sich, kaum dass man ihm den Becher reicht, das tödliche Medikament entschlossen in die Kehle kippt. Er hat seinen Willen bekommen: Gleich wird er einschlafen, und in einer knappen halben Stunde werden sein Atem und sein Herz ihren Dienst versagen.
Paul Zögli ist einer von Hunderten, die sich jedes Jahr in der Schweiz bei ihrem Suizid helfen lassen. Häufig sind es tödliche Krankheiten, die zu diesem Entschluss führen. Manchmal aber ist auch einfach eine bleierne, lähmende, nicht mehr auszuhaltende Lebensmüdigkeit der Grund, warum sich Menschen an eine Freitodhilfeorganisation wie Dignitas oder Exit wenden. Dort wird ihnen, wenn die notwendigen Bedingungen erfüllt sind, von ehrenamtlichen Freitodbegleitern das Medikament Natrium-Pentobarbital bereitgestellt, ein weißes, in Wasser lösliches Pulver, das einen garantierten, schnellen und schmerzfreien Tod herbeiführt.
Menschen, die sich gegen das Leben entschieden haben, bringen sich in aller Regel allein, heimlich und unter dem Risiko des Misslingens um. Durch die Institutionalisierung des Suizids verwandelt dieser sich ins genaue Gegenteil, nämlich in einen kalkulierbaren und gesellschaftlich akzeptierten Akt, der von den anderen nicht prinzipiell verhindert, sondern umgekehrt unter bestimmten Bedingungen gerade unterstützt wird.
In der Schweiz ist eine solche Praxis – anders als bislang in Deutschland – qua Gesetz erlaubt. So besagt Artikel 115 des Schweizer Strafgesetzbuches, dass eine Suizidbeihilfe zulässig ist, wenn keine selbstsüchtigen Motive vorliegen; die Freitodorganisationen müssen daher nachweisen, dass die erhobenen Mitgliedsbeiträge lediglich zur Unkostendeckung verwendet werden. Wie verankert und anerkannt der begleitete Suizid in der Schweiz als Form des Sterbens ist, zeigen schon die Mitgliederzahlen der Organisationen: Die 1982 gegründete Organisation Exit hat fast 70 000 Mitglieder; im Jahr 2012 haben sich 356 von ihnen in den Freitod begleiten lassen. Die wesentlich jüngere Schwesterorganisation Dignitas erhielt bislang immerhin 5500 Beitrittserklärungen aus insgesamt 60 Ländern. Anders als Exit begleitet der 1998 durch Ludwig A. Minelli ins Leben gerufene Verein auch Nichtschweizer in ihren Freitod: Viele von ihnen stammen aus Deutschland. Um der Nachfrage im Nachbarland entgegenzukommen, eröffnete Minelli deshalb im Spätsommer des Jahres 2005 eine Dependance in Hannover – ein Vorstoß, der hierzulande tiefe Ängste weckte. Gerade die Deutschen begegnen einer gesellschaftlichen Unterstützung des Sterbens mit größter Vorsicht: Mit Blick auf die nationalsozialistische Euthanasie befürchten viele, dass Sterbehilfe, wenn sie missbraucht wird, zu einer Vernichtung vermeintlich »unwerten Lebens« führen könnte. Was, wenn Alte, Kranke und Behinderte zum schnellen Sterben gedrängt werden?
Als schließlich 2008 der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch einen Sterbehilfe-Verein gründete und lebensmüden Menschen gegen Geld Suizidbeihilfe anbot, sah man auch in deutschen Regierungskreisen Handlungsbedarf: 8000 Euro veranschlagte Kusch für eine Sterbebegleitung; die Motive der Sterbewilligen interessierten ihn nicht. Seither wird darüber debattiert, ob es auch in Deutschland einer expliziten gesetzlichen Regelung der Suizidassistenz bedarf, und wenn ja, wie diese genau auszusehen hat. Soll man nur die gewerbsmäßige Suizidassistenz verbieten, eine Beihilfe aus altruistischen Motiven aber erlauben, wie es ein Gesetzesentwurf des Justizministeriums derzeit vorsieht? Oder wäre eine solche Gesetzgebung schon zu liberal?
Bisher gibt es für die Suizidassistenz im deutschen Strafgesetzbuch keine ausdrückliche Regelung. Infolgedessen ist sie grundsätzlich nicht verboten, weil der Suizid an sich keine strafbare Handlung darstellt. Beihelfer hierzulande gehen aber durchaus ein Risiko ein: zum einen aufgrund des Paragraphen zur unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB), der dazu verpflichtet, sofort Maßnahmen zur Lebensrettung zu ergreifen: »Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.« Zum anderen, weil Ärzten eine Beihilfe zum Suizid standesrechtlich nicht gestattet ist: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.« So heißt es in der Muster-Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland.
Gleichwohl gab es in jüngerer Geschichte viele Fälle, in denen Ärzte Suizidbeihilfe geleistet haben und dennoch nicht strafrechtlich verurteilt wurden. Der vielleicht berühmteste Fall ist der des Krebsarztes Julius Hackethal, der in den achtziger Jahren angeklagt war, weil er seiner Patientin Hermine Eckert tödliches Kaliumcyanid besorgt hatte. Deren Krankheit war überaus schmerzhaft, ihr Gesicht durch eine Krebserkrankung erheblich entstellt. Sie traute sich kaum noch unter Menschen und wollte sterben. Die Äußerung ihres Todeswunschs zeichnete Hackethal auf Video auf; das tödliche Medikament nahm Frau Eckert ein, als ihr Arzt sich in einem anderen Raum befand. In seinem Urteil bekundete das Münchner Oberlandesgericht, dass Hackethal lediglich straflose Suizidbeihilfe geleistet habe, sich keinesfalls aber, wie von Seiten der Staatsanwaltschaft behauptet wurde, einer Tötung auf Verlangen schuldig gemacht habe. Darüber hinaus sei der Arzt nicht verpflichtet gewesen, seiner bewusstlosen Patientin zu helfen, weil diese sich frei für ihren Tod entschieden habe und ein Weiter- bzw. Überleben nur eine Verlängerung ihres Leidens dargestellt hätte. Die Begründung ist bemerkenswert – meint sie doch im Klartext: Der Tod war letztlich das geringere Übel für Hermine Eckert; das wusste die Kranke genauso gut wie ihr Arzt.
Im Sommer 2006, ungefähr zwanzig Jahre nach dem spektakulären Hackethal-Fall und noch nicht einmal ein Jahr nach Eröffnung der Dignitas-Filiale in Hannover, sprach sich der Deutsche Ethikrat (der damals noch Nationaler Ethikrat hieß) dafür aus, dass Angehörige und Ärzte auch in Deutschland nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen, wenn sie bei Selbsttötungsversuchen schwerkranker Menschen, die diesen Versuch »aufgrund eines ernsthaft bedachten Entschlusses« unternommen haben, eine mögliche Rettung unterlassen. Die Bundesärztekammer hingegen zeigt bis heute für Ärzte wie Hackethal keinerlei Verständnis. Um ihre ablehnende Haltung zu begründen, beruft sich die Kammer gebetsmühlenartig auf den Hippokratischen Eid: »Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde.«
Was aber legitimiert diesen über 2000 Jahre alten Eid? Hat er in Zeiten hochgerüsteter Medizin überhaupt noch Gültigkeit? Sind nicht durchaus Fälle vorstellbar, in denen das Bereitstellen von Gift ein Akt der Humanität sein kann? Sich diesen ethisch hochbrisanten Fragen zu stellen ist eine Herausforderung, die Bundesärztekammerpräsident Frank Montgomery nicht annehmen will. »Es darf keine Option ärztlichen Handelns sein«, schrieb er 2013 im Philosophie Magazin, »in schwierigen oder hoffnungslosen Situationen einem Patienten eine aktive Tötung seiner selbst zu empfehlen oder daran mitzuwirken.«
Hier zeigt sich, dass berechtigte Vorsicht und starre Abwehr hierzulande nicht immer klar zu unterscheiden sind: Suizidassistenz ist offenbar einfach tabu; wer ernsthaft eine Legalisierung unter bestimmten Bedingungen erwägt, öffnet der Inhumanität Tür und Tor. Wie groß die Abwehr der Deutschen gegen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Suizidassistenz tatsächlich ist, lässt sich nicht zuletzt an begrifflichen Unschärfen erkennen: Selbst Altbischof Wolfgang Huber, Mitglied des Deutschen Ethikrats, verwechselt die Freitodhilfe mit aktiver Sterbehilfe: »Es muss klar sein, dass Ärzte und Pfleger sich nicht an aktiver Sterbehilfe beteiligen«, sagte Huber der Bild-Zeitung anlässlich der Gesetzesdebatte um Suizidassistenz. Diese lässt sich allerdings kaum ernsthaft führen, wenn nicht einmal Ethikratsmitglieder sauber zwischen den Sterbehilfeformen zu differenzieren wissen – beziehungsweise die Suizidassistenz zu kriminalisieren versuchen, indem sie diese mit aktiver Sterbehilfe gleichsetzen. Freitodhilfe unterscheidet sich nämlich ganz wesentlich von aktiver Sterbehilfe. Unter aktiver Sterbehilfe versteht man eine Tötung auf Verlangen, das heißt die Tötung eines anderen Menschen aufgrund seines geäußerten oder mutmaßlichen Willens. Diese Praxis birgt insofern die Gefahr des Missbrauchs, als sich ein solcher Wille nicht immer zweifelsfrei feststellen lässt – dies ist der Fall, wenn ein Patient nicht bei Bewusstsein ist und sich auch in seiner Patientenverfügung kein entsprechender Vermerk findet. Sie ist in den Niederlanden und Belgien erlaubt, in Deutschland aber durch den Paragraphen 216 genauso verboten wie in der Schweiz durch den entsprechenden Artikel 114.
Um eine Beihilfe zur Selbsttötung hingegen handelt es sich, wenn der Sterbewillige selbst die entscheidende,...