- 1.Das Reich der vereitelten Schöpfung
Kelley
Nicht immer sollten gefallene Geschöpfe gerettet werden. Das war mir immer bewusst. Und trotzdem. Als ich vierzehn war, brachte mir eine Freundin ein Vogelküken, streckte es mir auf der Hand entgegen. Auf der Pferdeweide in Florida, wo wir unsere Tage verbrachten, hatte sie es unter Kiefernnadeln entdeckt. Ihre Mom erlaubte nicht, dass sie es mit nach Hause brachte.
Sein kleiner Körper erinnerte an ein mit Reispapier umhülltes bläuliches Häufchen aus Zweigen, geädert und mit weißem Flaum überpudert. Sein Wackelkopf schwankte auf einem dünnen Hälschen, und die wie zugeschweißt wirkenden Augen glotzten blind. Der Mund war ein einziger klaffender Schlund, der große Not verhieß.
Das Vögelchen war exotisch, aufregend. Schon vorher hatte ich die nackten Rattenbabys in unserem Komposthaufen vor der drohenden Schaufel meines Vaters verteidigt oder um das Leben der Waschbärenfamilie auf unserem Dachboden gebettelt. Verschiedentlich hatte ich auch streunende Kätzchen in der Garage, Welpen im Wohnzimmer und Kaninchen auf der hinteren Veranda aufgezogen. So dass ich an jenem Tag, als meine Mutter mich abholte und ich mit meiner Schuhschachtel in ihren alten roten Ford Falcon stieg, nicht auf Einwände gefasst war. Meine Eltern waren bestimmt keine perfekten Menschen, aber sie hatten mir – ob nun in voller Absicht oder vor lauter Erschöpfung – stets Freiräume zum Erkunden und Ausprobieren gelassen.
Ich beendete damals gerade mein erstes Highschool-Jahr, war schüchtern und häufig allein. Ich wusste, dass dieser Vogel eigentlich nichts Besonderes war. Und doch zuckte sein Herz in meinen Händen. Ich trug ihn ins Wohnzimmer und setzte ihn in ein altes gesprungenes Aquarium, das ich in der Garage gefunden hatte. Dann legte ich einige Zweige von der Magnolie in unserem Hof dazu – ein etwas jämmerlicher Versuch, seine Umgebung ein wenig natürlicher erscheinen zu lassen.
Sehr wahrscheinlich hat mich damals jemand gefragt, was das Ganze eigentlich solle. Denn auch wenn ich ihn rettete, konnte er nicht wie ein Sittich bei uns im Haus leben, und einfach davonfliegen konnte er auch nicht. Doch solche Bedenken waren mir noch fremd. Ich weichte Hühnerfutter in warmem Wasser ein und bot es ihm alle zwei Stunden mit einer Futterspritze an. Mit fröhlichem Gluckern glitt es seinen Hals hinunter. Ich spürte die Kluft zwischen Wildheit und Zivilisiertem. War nicht auch ich selbst – wie ich ständig an unsichtbare Grenzen stieß und mir die Gestalt der Welt erst ertasten musste – nur notdürftig zivilisiert? Ich fühlte mich hilflos auf den Schulkorridoren, ratlos angesichts meiner zu großen Zähne, meiner widerspenstigen Haare und meines Vaters, der die Rattenbabys im Komposthaufen enthauptete, mit ballernder Jagdflinte die Waschbären vom Dachboden vertrieb, der meine Welpen verkaufte, meine Kaninchen weggab und meine Kätzchen ins Tierheim schaffte.
Das winzige Leben dieses Vogels lag, was immer auch daraus werden mochte, in meiner Hand. Ich würde es beschützen, solange ich konnte. Am nächsten Tag teilten sich langsam seine wimpernlosen Lider. Das Erste, was er sah, war ich, die ihn durchs Glas des Aquariums hindurch anstarrte.
Der Vogel wuchs und gedieh. Büschelweise sprossen ihm Federn. Und er verwandelte sich in einen schlauen, quäkenden Blauhäher. Er lebte in meinem Zimmer, weit genug vom Hauptwohnbereich des Hauses entfernt, so dass ich eine Weile ungestraft davonkam. Oft hockte er auf meinem Deckenventilator, unter den ich, um die Vogelkacke aufzufangen, die täglich erscheinende St. Petersburg Times platzierte. Jeden Morgen landete er auf meinem Kinn und tippte mit seinem Schnabel an meine Nase. Aufwachen. Aufwachen. Aufgewacht! Er trank Cola vom Rand meiner Dose. Er pickte am Vogelfutter oder an Resten meines Abendessens herum, das ich häufig allein in meinem Zimmer zu mir nahm. Gern setzte er sich auf meine Schulter oder meinen Kopf, wo er sich mit seinen Dinosaurierklauen festklammerte. Manchmal ließ er sich auch von unserem Mops Wrinkles spazieren tragen, der weder klug noch fit genug war, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich nahm ihn mit ins Freie, und er inspizierte die Bäume, doch stets kehrte er auf meine Schulter zurück. Ich hoffte, Fremde würden uns so sehen und glauben, ich besäße magische Kräfte. Denn für mich fühlte es sich so an.
Schließlich meinte meine Mom, ich müsse ihn ziehen lassen. Immer wieder passte er mich auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg ab und ließ sich von mir ein Stück auf dem Kopf mittragen. Einige Wochen später kam ich nach Hause und entdeckte ihn tot neben dem Hintereingang. Vielleicht hatte ich ihn falsch behandelt, ohne es zu wissen? Er hatte keinen anderen Zufluchtsort besessen als mich und kannte kein anderes Zuhause.
Ich wurde älter. Ich hatte Hunde und Pferde. Ich roch nach Heu und Erde. Irgendwann, dachte ich, würde ich eine Farm besitzen, wo Platz wäre für all die wilden und kranken Tierjungen. Und obwohl ich nie babysittete oder mit Puppen spielte, wusste ich auch, dass ich einmal eine Tochter haben würde.
Die würde wild, temperamentvoll und schmutzig sein und immer ein Kätzchen mit sich herumschleppen. Sie würde auf Bäume klettern und singen. Und ich selbst würde nie vergessen, wie es sich anfühlte, Kind zu sein und etwas Warmes und Lebendiges liebzuhaben. Nie vergessen, wie es war, Angst zu haben – Angst, sich mit jemandem anzufreunden, vor allen anderen zu tanzen, am Strand gesehen zu werden, in der Schulklasse den Mund aufzumachen, einen Jungen mit nach Hause zu bringen. Ich würde ihre Wildheit beschützen. Sie würde ein verirrtes Kätzchen, Kaninchen oder Vögelchen anschleppen. Und ich würde ihr zeigen, wie man für es sorgte und seine Wildheit beschützte. Und ich würde sie lehren, wann und wie man es wieder in die Freiheit entließ.
Das war keine Sehnsucht, es war eine Gewissheit. Schon als kleines Mädchen hatte ich meine Mom gefragt, wie man ein Baby bekomme. »Nun«, meinte sie, »als Erstes musst du mal eins wollen.« Sie erklärte mir das nicht näher, weswegen mir wohl im Gedächtnis blieb, dass Wollen die einzige wesentliche Voraussetzung war. Auf das Wollen kam es an.
Als unsere Tochter geboren wurde – und nachdem alles falsch gelaufen war, die Gewissheit sich in Sehnsucht verwandelt hatte und die Sehnsucht alles dominierte –, sah sie genauso aus wie jenes Vogelküken. Sie war zerbrechlich und unfertig – knubbelig, papieren, durchscheinend und blind. Nicht alle gefallenen Wesen sollten gerettet werden, so viel war mir klar. Doch niemand würde es uns abschlagen, wenn wir es doch versuchten. Wer war hilfloser, die Kleine oder wir? Dieser zahnlose, lippenlose, vor Hunger weit aufgesperrte Mund! Durch eine Glaswand starrten wir sie an.
* * *
Um die Unwahrscheinlichkeit ihres Daseins, all die Widrigkeiten zu begreifen, die sich jenem ersten Atemzug entgegenstellten, müssen wir noch einmal zurück in jenen Sommer, als ich den Vogel aufzog. Weil es auch der Sommer war, in dem ich Tom begegnete, der damals einen kurzen, aber entscheidenden Auftritt in meinem Teenager-Leben hatte und viele Jahre später ihr Vater werden sollte. Immer wieder habe ich in den seither vergangenen Jahren mit der Absurdität des Ganzen gerungen. Denn auch wenn die Geschichte damals geendet hätte, wäre sie an sich schon seltsam genug.
Tom war einer der Redner bei einem von mir besuchten Journalismus-Camp an einer Highschool. Er war eine Art Starreporter, Mitte Dreißig, verheiratet und Vater von zwei kleinen Söhnen. Seit der fünften Klasse hatte ich die St. Petersburg Times gelesen. Ich liebte die Boshaftigkeit seiner Kolumnen, in denen er gegen Schulleiter wetterte, die Highschool-Journalisten zensierten. Ich liebte das Mitgefühl und den hohen Anspruch in seiner Artikelserie über eine ermordete Frau aus Gulfport, die beinahe Buchlänge erreichte. Seine Storys waren gewagt und packend wie Romane. Schon wenn ich die Verfasserzeile mit dem Namen Thomas French las, geriet ich in Verzückung.
Er trug ein lila Hemd und schwarzweiß gestreifte Schnürsenkel an jenem Tag, was irgendwie abschreckend wirkte. Sein Gesicht verschwand praktisch hinter der Brille. Die Haare, die ihm dunkel und schlaff in die Stirn hingen, wurden bereits grau. Er war toll, aber er war auch ein Nerd, was ich irgendwie beruhigend fand. Ich besaß damals keinerlei Selbstbewusstsein, und obwohl die Leute mir ständig versicherten, dass ich eine tolle Schreiberin sei, wusste ich, dass sie nur nett sein wollten. Auch Tom litt unter Unsicherheit. Ständig kippte er Coca-Cola light in sich hinein, starrte zum Fenster hinaus und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Seine Nervosität ließ den Job, den er machte, auch für uns irgendwie erreichbarer erscheinen.
Er forderte uns auf, uns von Autoritätspersonen mit ihren Titeln und ihren im Passiv formulierten Verlautbarungen nicht irremachen zu lassen und die inoffizielle wahre Geschichte auszugraben, die unter der Oberfläche brodelte. Er forderte uns auf, den Leser in den »geheimen Garten« zu führen – in den hinteren Teil des Nagelstudios, die Ecke des Lehrerzimmers, dorthin, wo heimliche Absprachen getroffen, Macht übertragen und einander Geheimnisse anvertraut würden. Wahre Geschichten kämen nicht via Pressemitteilung. Sie würden nicht angekündigt, sondern schwirrten überall um uns herum, wir müssten nur beherzt zugreifen. Er versicherte uns, dass unsere Interessen nicht belanglos seien. Auf das, was uns am Herzen liege, komme es an. Auf uns komme es an.
An diesem Abend schrieb ich über ihn. Und im...