24. SEPTEMBER 2017
PROLOG
Zum zehnten Mal ragen zu unserer Rechten die Masten der großen Schiffe auf. Wie immer an dieser Stelle ändert sich der Duft, der mir in die Nase steigt. Von der feuchten Kühle eines skandinavischen Wochenendnachmittags zum Geruch des Hafens, durchtränkt von dem rauchigen Versprechen der Fast-Food-Grills, die alle nur erdenklichen Sorten Fisch oder Fleisch anbieten, die man zwischen zwei Brötchenhälften packen und an einen hungrigen Radsportfan verkaufen kann.
Es ist die lange, geschwungene Linkskurve, die das Ufer von den bunten Stadthäusern trennt, die diesen wunderschönen alten Hafen prägen. Als wir zum ersten Mal hier vorbeikamen, fuhren wir recht gemächlich, mit einer Geschwindigkeit von vielleicht 40 Stundenkilometern. Das muss kurz nach elf Uhr heute Morgen gewesen sein. Das nächste halbe Dutzend Mal etwa, wenn wir die schaukelnden Masten und klappernden Takelagen passierten, zog das Rennen so an, dass immer weniger Fahrer mithalten konnten. Heute Morgen waren wir noch etwa 200 gewesen; jetzt, nach den letzten zwei oder drei harten Runden auf diesem kleinen, hügeligen Rundkurs in Bergen, sieht es so aus, als wären nur noch etwa sechzig von uns übrig. Ein Vertreter der UCI beginnt wie wild mit einer Messingglocke zu läuten, um uns anzuzeigen, dass nur noch eine Runde zu fahren ist. Plötzlich wird mir siedend heiß bewusst, dass auf meinem Rücken die Nummer eins prangt. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags, und mir bleibt vielleicht noch eine halbe Stunde als Weltmeister.
Das Rennen war sehr verwirrend. Es hatte langsam begonnen, was mir gut passte. Ich hatte ein paar Tage lang wenig gegessen und getrunken, da ich zur absoluten Unzeit – am Freitag – zu Hause in Monaco Magenprobleme bekommen hatte. Das war obendrein nach einer Woche Zwangspause gewesen, weil ich mir ein Grippevirus eingefangen hatte. Ich will nicht jammern, dass ich krank war, weil das nicht besonders häufig vorkommt, doch waren die letzten zwei Wochen nicht gerade das gewesen, was ich mir als Vorbereitung auf eines der wichtigsten Ereignisse im Rennkalender vorgestellt hatte. Ich war nun seit zwei Jahren Weltmeister, und alles sah danach aus, dass ich das Regenbogentrikot heute verlieren würde, selbst bei gesundheitlicher Topform. Die meisten Leute sagten voraus, die Strecke sei zu schwierig für einen Fahrer, den sie mehr als »Sprinter, der einen Hügel überwinden kann« betrachteten denn als wahren Puncheur wie Julian Alaphilippe oder meine Vorgänger als Weltmeister, Philippe Gilbert und Michał Kwiato (eigentlich Kwiatkowski). Außerdem glaubten sie, dass ich kaum ein drittes Mal in Folge erfolgreich sein könne, da die größeren Teams sich sagten: »Diesmal lassen wir uns nicht mehr an der Nase herumführen.« Die schlauen Investoren vermuteten derweil, dass eben jene größeren Teams unsere kleine slowakische Bruderschaft überrollen würden, wenn wir die Führung des Rennens zu übernehmen versuchten.
Schon früh hatte sich eine Ausreißergruppe abgesetzt. Das Rennen startete in einer nicht weit entfernt gelegenen Kleinstadt, bevor es in die unzähligen Kurven in der Innenstadt von Bergen ging, durchs Hafenviertel, am Meer entlang und den Salmon Hill hinauf. Viele Rennen sind zu Beginn ein heilloses Durcheinander, weil jeder in die Führungsgruppe gelangen will, die das Rennen den Tag lang bestimmt, schließlich aber doch von den stärksten Fahrern eingeholt wird. Zum Glück für meinen angeschlagenen Magen geschah dies jedoch nicht. Die Gruppe bildete sich. Sie setzte sich ab. Als sie zehn Minuten vor uns lag, begann der Rest von uns ein wenig in die Pedale zu treten, und endlich fühlte ich mich langsam wieder wie ein Radrennfahrer.
Ich hätte schon seit etwa zehn Tagen hier sein sollen. Ich hatte geplant, mich vor einer Woche hier mit meinen Kameraden vom Team BORA – hansgrohe zum Team Time Trial, dem Mannschaftszeitfahren, zu treffen. Das TTT ist ein relativ neues Element im Rahmen der UCI Road World Championships, und es ist ein bisschen seltsam, weil man weiterhin für sein Team fährt statt, wie bei jedem anderen Ereignis der »Worlds«, für sein Land. Die Gelegenheit, eine patriotische Flagge zu schwenken, anstatt die Baseballmütze einer Bank, eines Fahrradherstellers oder eines Kochfeldabzugsfabrikanten zu tragen, ist es ja gerade, was die Weltmeisterschaft zum Publikumsmagneten macht. Da das Rennen auf einem Rundkurs statt auf einer Strecke stattfindet, ist es außerdem viel zuschauerfreundlicher, sodass die Fans aus der ganzen Welt anreisen, rufen, jubeln, trinken und – hoffentlich – feiern. In all diesen Disziplinen sind die Slowaken sehr gut.
Das Team BORA – hansgrohe hatte während meiner Abwesenheit ein Top-Ten-Finish im Mannschaftszeitfahren verbucht, und meine slowakischen Teamkameraden erwarteten, auch das Straßenrennen ohne mich zu bestreiten. Ich hatte meinen armen, verschwitzten Hintern aus dem Bett gehievt und war gestern Morgen von Nizza aus hierher geflogen, wobei ich einen Großteil der 2500 Kilometer auf der Toilette verbracht hatte.
An der Startlinie war ich ziemlich still gewesen; froh und schlicht verblüfft darüber, dass ich überhaupt da war. Als wir den Bergen-Rundkurs erreichten und zum ersten Mal die Ziellinie überquerten, wandte ich mich an meinen Bruder Juraj, der neben mir fuhr. Wie ich trug er einen Ganzkörperanzug in den slowakischen Nationalfarben Weiß, Blau und Rot. »Schau’s dir gut an«, sagte ich zu ihm. »Ich glaube nicht, dass wir diese Linie noch mal zu Gesicht bekommen.«
Doch das stete Tempo war gut für mich, ebenso wie die milde Temperatur. Ein Jahr zuvor hatte ich den Titel in der sengenden Hitze Katars geholt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein dehydrierter Körper damit noch einmal zurechtgekommen wäre; Norwegen war dagegen wesentlich angenehmer.
Ich vergrub mich in der großen Masse, die mit fortschreitender Renndauer zahlenmäßig abnahm. Aus mehreren Gründen hat die Weltmeisterschaft immer eine hohe Ausfallquote. Grund Nummer eins: Viele Länder schicken ihre Fahrer nur deshalb zum Rennen, um mit den vorhandenen Ressourcen einen Fuß in der Tür zu behalten und diese Positionen für künftige Jahre zu sichern. Zweitens: Viele Fahrer sind nur dort, um für ihre Teamführer in der ersten Hälfte des Rennens Ausreißergruppen zu bilden, zu verfolgen oder anzuführen. Ihre Aufgabe ist erfüllt, bevor das Ganze richtig losgeht. Drittens: Es ist ein ungemein langes Rennen – 2017 waren es 267 Kilometer – am Ende einer langen Saison, und man muss häufig an dem verlockenden, warmen, trockenen Versorgungsbereich vorbeifahren. Man spürt, wie sich der Lenker von selbst dorthin wendet, und die magnetische Anziehungskraft wird mit jeder Runde stärker. Bisweilen kann man unterwegs sogar sein Hotel sehen.
Das Rennen verlief ziemlich gleichmäßig, bis etwa noch fünf Runden zu fahren waren. Dann setzten sich die Holländer an die Spitze, und von einem Augenblick zum anderen wurde das Ganze ziemlich ungemütlich. Die Niederlande kommen immer mit einer scheinbar endlosen Zahl kräftiger Zugpferde zur Weltmeisterschaft. Wenn man im Hauptfeld fährt und plötzlich sieht, wie Dutzende 80 Kilo schwerer, über 1, 80 Meter großer Muskelmänner in orangenen Trikots an einem vorbeiziehen, weiß man, dass es nun an der Zeit ist, tief durchzuatmen und die Zähne zusammenzubeißen. Im Kopf ertönt das »Fasten Seat Belts«-Signal. Man weiß, dass es jetzt zur Sache geht.
Paradoxerweise hat zu meinen Lebzeiten noch kein einziger Holländer dieses Rennen gewonnen. Sie mögen zwar seit langer Zeit keinen König mehr gestellt haben, doch besitzen sie die Fähigkeit zum Königsmacher, ob sie nun wollen oder nicht.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Prüfungen hinter mir, die ich im Geiste noch einmal durchging. Prüfung eins: nach Bergen gelangen. Erledigt. Prüfung zwei: Rennen beginnen. Erledigt. Prüfung drei: eine Stunde lang wie ein Radrennfahrer aussehen. Erledigt.
Dies war nun die vierte Prüfung: das plötzlich angezogene Tempo überleben. Na ja, ich bin nicht der Typ, der sich mit langem Nachdenken aufhält. Sieh lieber zu, dass du weiterkommst, Peter.
Rund hundert von uns waren übrig. Nach einem Rennen werde ich oft gebeten, seinen Verlauf zu erklären, besonders dann, wenn ich gewonnen habe, als wäre es ein von mir verfasster Roman, in dem ich die Hauptfiguren agieren lassen, den Plot ersonnen, ein paar Fallstricke ausgelegt und den Helden großer Gefahr ausgesetzt hätte. Diese Vorstellung ist verlockend, und ich kann verstehen, was man von mir erwartet, doch es ist schlicht nicht möglich. Es stimmt, es gibt etwas zu erzählen, aber das ist nur meine ganz persönliche Geschichte. Von den anderen hundert Jungs hat jeder seine eigene Version, die sich wiederum von allen anderen unterscheidet. Ich kann nur meine erzählen. Kennen Sie diese GoPro-Kameras? Toll, nicht? Bringt man eine vorn an einem Rad an, erhält man einen spannenden Einblick in die inneren Abläufe eines Rennens. Stellen wir uns nun aber vor, dies wäre der einzige Blick auf das Rennen. Die Straßen-Weltmeisterschaft in Bergen ohne das Bildmaterial von Hubschrauber-, Motorrad- oder Ziellinien-Kameras, ohne Kommentator, die ganzen sechseinhalb Stunden lang. Nun, das ist meine Geschichte, mein Film, meine eingeschränkte Sicht neben den hundert anderen Versionen, und ich bezweifle, dass man dafür viele geneigte Zuschauer fände.
Ich blieb dran. Konzentrierte mich auf das Hinterrad vor mir. Versteckte mich sogar. Ich bin es gewohnt, nahe der Spitze zu fahren, um zu sehen, was dort los ist, und es zeigte sich, dass 15 Radlängen weiter hinten alles ein wenig drunter und drüber ging. Aber ich dachte nicht ans Gewinnen. Ich...