2 Innovative Erklärungsansätze
Bis heute werden in der deutschsprachigen Autismusliteratur und -forschung drei Ansätze herausgestellt, wenn es um Erklärungen und/oder kognitive Theorien des Autismus geht. Dies betrifft (1) die Theory of Mind (Baron-Cohen, Leslie & Frith 1985; Baron-Cohen 1999; Happé & Frith 1995), (2) das Modell der Exekutiven Dysfunktion (Ozonoff 1995; Perner & Lang 2000) und (3) das Modell der Schwachen Zentralen Kohärenz (Frith 1989; Happé 1999; Happé & Frith 2006). Allen drei Ansätzen gemeinsam ist eine Defizitorientierung, indem Schwächen autistischer Personen in Bezug auf Einfühlungsvermögen, Übernahme der Perspektive Anderer, Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen (Theory of Mind), Handlungsplanungen sowie Flexibilität im Denken, Planen und Handeln (exekutive Dysfunktionen) und Erfassen komplexer Situationen (schwache zentrale Kohärenz) konstatiert werden.
Allerdings sind die Forschungsergebnisse und Interpretationen bei allen drei Erklärungsansätzen nicht immer eindeutig (vgl. Fangmeier 2013; Müller 2007a;b; Paul 2001; Schaller 2013; Schmukler 2005).
So wurden zum Beispiel bei Untersuchungen der Theory of Mind bei der Beantwortung von Fragen festgestellt, dass autistische Personen mit veränderten Fragestellungen bessere Ergebnisse erreichen (z. B. statt der Verwendung des Wortes »denken« die Worte »zuerst nachschauen«). Ferner spielen bestimmte Einflussfaktoren (Sprache, Alter und Intelligenz) eine wichtige Rolle.
Hinsichtlich der exekutiven Dysfunktionen wurde beobachtet, dass autistische Menschen eher Probleme im planenden Handeln innerhalb neuer, unbekannter Situationen haben als in einer gestörten Vorstellungskraft. Zudem nehmen Forscher an, »dass mit zunehmendem Alter die exekutiven Fähigkeiten reifen und sich verbessern« (Fangmeier 2013, 55) sowie Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stärker betroffen sind als andere (vgl. Freitag 2008, 53), weshalb die exekutive Dysfunktion »kein notwendiges Merkmal von Autismus« ist (Smith 2005, 498; so auch Thompson, Thompson & Reid 2009, 11).
Wurde ursprünglich die schwache zentrale Kohärenz nur negativ interpretiert, so ist heute von einem »veränderten Wahrnehmungsstil« autistischer Personen (vgl. Happé 1999; Happé & Frith 2006; Müller 2007a) die Rede, der auch seine Stärken (Erkennen von Details) hat.
Keines der genannten Modelle ist in der Lage, das Autismus-Spektrum vollständig zu erfassen. Inwieweit ein Zusammenspiel der Ansätze vorstellbar ist, das eine umfänglichere Erfassung von autistischen Merkmalen ermöglichen kann, wird nach wie vor diskutiert (Schaller 2013, 77; Perner und Lang 2000).
Alles in allem lässt sich aus dieser Befundlage schlussfolgern, dass die genannten Ansätze als Erklärungsmodelle für autistisches Verhalten nicht überbewertet werden sollten. Dieser Einsicht begegnen wir vor allem in der internationalen Autismusforschung einiger hoch entwickelter Industrienationen und insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum, wo heute andere Modelle zur Erklärung von Autismus den Ton angeben, die aus der Sicht von Autist(inn)en wesentlich eher ihrem autistischen Sein entsprechen würden sowie ihren Erfahrungen und Auffassungen sehr nahe kämen (vgl. Cohen-Rottenberg 2009a; Lawson 2011; Kommentare in Markram & Markram 2013). Gemeint sind damit Ansätze wie die Monotropismus-Hypothese (Lawson 2011), die Intense World Theory (Markram, Rinaldi & Markram 2007; Markram & Markram 2010), die Empathy Imbalance Hypothesis (Smith 2005) und das Enhanced Perceptional Functioning (Mottron & Burack 2001; Mottron et al. 2006), die allesamt hierzulande noch wenig bekannt sind und bislang in der deutschsprachigen Autismusliteratur kaum beachtet werden. Umso wichtiger ist es, sie für die hiesige Fachdiskussion aufzubereiten, um den Anschluss an eine zeitgemäße Betrachtung autistischen Verhaltens und entsprechender Unterstützungskonzepte nicht zu verpassen. Denn die Stärke der neueren Ansätze besteht vor allem darin, dass sie mit ihren Erklärungen bisherige Sichtweisen über Autismus erweitern und vor allem zu einem besseren Verstehen autistischer Personen beitragen.
Monotropismus-Hypothese
Wie schon in der Einleitung angedeutet, gelingt es dem ASAN mit seiner neutralisierten und erweiterten Perspektive die bisherige defizitorientierte Betrachtung von Autismus zu überwinden – so wie es sich autistische Menschen seit einigen Jahren wünschen. Das betrifft vor allem die Berücksichtigung der Stärken-Perspektive, eines spezifischen Lernverhaltens und insbesondere die Würdigung von Spezialinteressen. Genau dies ist erklärtes Ziel der Vertreter der sogenannten Monotropismus-Hypothese1, welche von Autistinnen erforscht und dem Anschein nach von vielen Betroffenen gestützt wird. Damit scheint sie, obwohl sie noch keine ausreichende empirische Unterstützung erfährt (Lawson 2011, 132), verheißungsvoll zu sein. Hinzu kommt, dass die Monotropismus-Hypothese für eine funktionale Betrachtung autistischer Verhaltensweisen richtungsweisend und somit zum Verstehen von Menschen im Autismus-Spektrum hilfreich ist. Daher lohnt es sich, den Ansatz näher zu betrachten und daraus Folgerungen für die Praxis zu ziehen.
Die Monotropismus-Hypothese wird vor allem von Lawson (2011) in enger Zusammenarbeit mit Murray und Lesser (2005)2 erforscht und vertreten.
Nach dem aktuellen Forschungsstand im Bereich der Humangenetik und Neurowissenschaften wird davon ausgegangen, dass Autismus vermutlich durch eine Veränderung mehrerer Gene, die noch exakt bestimmt werden müssen, verursacht wird (Poustka 2009), wobei die genetische Komponente als Dispositionsfaktor anzusehen ist und ein späteres Auftreten von Autismus gleichermaßen von einer Exposition gegenüber bestimmten, zum Teil noch unbekannten, Umweltfaktoren während der Schwangerschaft abzuhängen scheint (Zarembo 2011). Der genaue Zusammenhang zwischen einem veränderten Genom, veränderten neurobiologischen Strukturen, einer veränderten Synapsentätigkeit bestimmter Neurone, einer veränderten neuronalen Konnektivität und Funktionsweise im Gehirn (z. B. einer verringerten oder erhöhten Konnektivität zwischen sensorischen und kognitiven Prozessen), einer veränderten Zusammenarbeit zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, spezifischen Veränderungen in Hirnarealen wie beispielsweise im limbischen System (Amygdala, Gyrus angularis) sowie im Neurotransmittersystem und den konkreten Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben einer Person im Autismus-Spektrum ist gleichfalls noch unbekannt (vgl. Lawson 2011, 130).
Auch Vertreter der Monotropismus-Hypothese gehen von veränderten neurobiologischen Strukturen, Prozessen und Funktionsweisen im Gehirn aus, allerdings versuchen sie nachzuweisen, dass eine veränderte Hirnstruktur nicht konsequenterweise mit einem Defizit gleichzusetzen ist (vgl. Lawson 2011, 27, 108).
Ausgangspunkt ihres Ansatzes ist die Annahme, dass die Aufmerksamkeit eines Menschen quantitativ begrenzt sei, sodass es einen »Wettbewerb zwischen mentalen Prozessen um die knappe Aufmerksamkeit … bei der Formung des kognitiven Prozesses« gebe (Murray, Lesser & Lawson 2005, 140). Die Strategien, die zur Verteilung der Aufmerksamkeit angewandt werden, seien weitgehend genetisch bestimmt und würden einer Normalverteilung entsprechen (ebd.).
Während »neurotypische« (nicht-autistische) Menschen in der Lage seien, sich auf viele Aktivitäten und Interessengebiete gleichzeitig zu konzentrieren, ihre Aufmerksamkeit flexibel anzuwenden und zu verteilen (z. B. Konzentration auf das Wesentliche in einem Gespräch bei gleichzeitiger Beobachtung des Verhaltens des Gesprächspartners), würden Autist(inn)en hingegen ein breites Feld an Informationen »ignorieren« und nur wenige Interessen3 fokussieren – ein Phänomen, das als »tunnel vision« (Attwood zit. n. Lawson 2011, 101) beschrieben wird. Hören wir hierzu den Autisten T. Mukhopadhyay (2005, 115): »Wenn ich mich auf den Klang von etwas konzentrierte, merkte ich, dass meine Augen und meine Nase abschalteten. Ich konnte nie alles gleichzeitig wahrnehmen. Das heißt, ich konnte nicht jemanden sehen und ihn gleichzeitig auch hören. Mein Gehör war immer schärfer als mein Sehsinn. Das ist der Grund, weswegen ich nie meine Augen benutze, um mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Die Psychologen nennen das fehlenden Blickkontakt.«
Diese Konzentration auf wenige, »hoch-erregende« (highly aroused) und miteinander unverbundene Interessen erfolge dafür wesentlich intensiver und sei als eine monotropistische Form der Wahrnehmung Ursache für ein verändertes Denken, Erleben und Handeln von Autist(inn)en im Vergleich zu »neurotypischen«...