Kapitel 1
Was ist das Besondere an Gruppen?
»Einzeln ist der Mensch ganz erträglich, im Rudel weniger«, so Hans Magnus Enzensberger (2015). Im Alltagsleben wird häufig von Gruppen und Teams gesprochen, ohne dass man sich Rechenschaft darüber ablegt, was mit diesen Begriffen letztlich gemeint ist. Eine x‑beliebige Ansammlung von Menschen ist noch keine Gruppe. In Psychologie und Soziologie wird eine Gruppe als eine Anordnung von mehr als zwei Menschen definiert, die längere Zeit miteinander interagieren, sich wechselseitig beeinflussen, ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich als »Wir« wahrnehmen. Gruppen besitzen bestimmte Gruppenstrukturen und spezifische Werte sowie Verhaltensnormen.
Wenn Menschen zusammenkommen, sind sie gezwungen, miteinander zu kommunizieren. Diese Kommunikation kann schweigend, sozusagen ohne Worte, vor sich gehen, sie ist aber niemals nicht präsent. Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick et al. 2011). In einer therapeutischen Gruppe ist sprachliche Kommunikation sozusagen ein »sine qua non«; die Gruppenteilnehmer treffen sich, um miteinander zu sprechen. Man kommt in die Gruppe, um mehr von sich selbst, und vielleicht auch den Unterschied zu anderen, zu verstehen (Karterud 2015 a, S. 87). Um aber mehr von sich und den anderen auf der Basis von transpersonalen Beziehungen zu verstehen, ist es günstig, das eigene kommunikative Repertoire stetig zu erweitern. Dies erfordert allerdings ein Sich-Einlassen auf einen Prozess der Selbstreflexion und der kommunikativen Verschiedenheit als eigentliches Ziel. Wenn man Symptome als Ausdruck einer missglückten Kommunikation privater, heimlicher und schambesetzter Phantasien und Bedürfnisse ansieht, ist es die Aufgabe des Gruppentherapeuten, die deformierte Kommunikation zu verstehen und bei der Übersetzungsarbeit hilfreich zu sein. Kommunikation, die das Unbewusste bzw. das Vorbewusste bewusst zu machen und den Prozess zu versprachlichen versucht, ist das Kernstück analytischer Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse bzw. der darüber hinausgehenden Arbeit am sozialen Unbewussten im Individuum, in Gruppen und in Gesellschaften (Hopper & Weinberg 2011, 2016). Dies bedeutet nicht nur eine Neudefinition des Unbewussten, sondern aller analytischen Begriffe aus Gruppenperspektive.
Schon die Evolution begünstigte die Bildung verschiedener Stämme in Form von Gruppen – seien es Bakterien, Insekten und Primaten; es war vermutlich die vor etwa 75 000 Jahren mit der Sprachentwicklung einhergehende Fähigkeit des Mentalisierens einiger weniger Hundert Menschen, die trotz folgenreicher, menschlich induzierter Katastrophen zumindest bis heute zu einem Garant einer ziemlich erfolgreichen Überlebensgeschichte geworden ist (Corballis 2009; Karterud 2011). Allein aus der bisherigen Perspektive der Evolution scheint kein Ort für Mentalisieren geeigneter zu sein als eine Gruppe – allerdings auch für den Zusammenbruch des Mentalisierens, wenn Affekte oder Emotionen ins Spiel kommen; dieser Zusammenbruch kann sich individuell in körperlichen Symptomen als Repräsentanz entstellter oder deformierter Kommunikation oder kollektiv in Form von Verschwörungstheorien äußern (Spitzer 2015). Selbst Großgruppen von gruppenanalytisch ausgebildeten Teilnehmern sind nicht vor einem Versagen des Mentalisierens in Form von paranoiden »Vulkanausbrüchen« geschützt, wie folgende Anekdote belegt: Am Rande einer Sitzung von 400 Teilnehmern wurde plötzlich ein fremder Mann entdeckt, der dort einsam auf- und abging, weil er sich als australischer Chirurg und Ehemann einer Tagungsteilnehmerin verirrt hatte; »[…] ein allgemeiner Aufschrei war die Folge – wie kam er hierher? Was macht er hier überhaupt? Wieso ist man hier von Fremden nicht abgesichert? Spioniert er uns aus? […] sie fühlten sich auf einmal verfolgt von einem einzelnen Mann« (De Mendelssohn 2014, S. 34). Fremdenfeindliche Äußerungen oder gar kriegerische Auseinandersetzungen mit Massenvernichtungswaffen sind dann die Spitze des kommunikativen Zusammenbruchs und/oder des Nichtmentalisierens. Andererseits war die onto- und phylogenetische Fähigkeit, Konflikte und andere lebenswichtige Dinge vorauszusehen, bis jetzt vermutlich ein eminenter Überlebensvorteil für den Homo sapiens, der Raubtieren und Primaten eher nur situationsgebunden und meist auf die Nahrungsaufnahme fokussiert gegeben ist.
Aristoteles wird der berühmt gewordene Satz zugeschrieben, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile. Dies begründete in verschiedenen Gruppentheorien die Annahme, Gruppenphänomene seien nicht als Summe oder Aggregation individueller Psychopathologien anzusehen, sondern als eine »Organisationsform auf einem neuen Niveau […], das über die Einzel-Pathologien hinausgeht (Potthoff 2014, S. 144). So konnten Johnson & Dunbar (2016) in einer experimentellen Studie zeigen, dass sich mit der Größe des Netzwerks aus guten Bekannten, auf das sich die Versuchsteilnehmer verlassen konnten, Schmerz offensichtlich länger aushalten ließ.
Experimentelles Studiendesign Mehr als 100 Studenten wurden dazu aufgefordert, sich mit dem Rücken gegen eine Wand zu lehnen und dabei ein Knie im 90 -Winkel gebeugt zu halten. Unabhängig vom jeweiligen Fitness-Grad beginnt der Oberschenkel irgendwann unerträglich zu schmerzen.
Nachdem der Fitness-Grad herausgerechnet worden war, stellte sich heraus: Wer früher aufgeben musste, verfügte über weniger Freunde und Bekannte als Versuchsteilnehmer, die erst später ihren Schmerzen nachgaben. Für die Schmerztoleranz kam es besonders auf die Größe jener Gruppe guter Bekannter an, die von Johnson & Dunbar (2016) als »äußere Schicht des Freundeskreises« definiert worden war, wozu Leute gehörten, zu denen die Teilnehmer wenigstens einmal im Monat, aber seltener als einmal pro Woche Kontakt hatten.
Die Autoren vermuteten, dass Menschen mit einem größeren Freundeskreis mehr körpereigenes β-Endorphin – ein Neuropeptid – bilden, das sich an die endogenen μ-Opioid-Rezeptoren mit der Folge verminderten Schmerzerlebens bindet.
Dieses zugegebenermaßen etwas einfache Beispiel belegt, dass jede, auch nichttherapeutische, Gruppe ein eigener Organismus ist, zu dem der Einzelne zwar seinen Teil beiträgt, der aber über seine Vordergrund-Hintergrund-Dynamik und die Art der Vernetzung über das Individuum sofort hinausweist. Diese Besonderheit begründet, dass die verschiedenen Gruppenpsychotherapien mit vielen Nachbarwissenschaften interdisziplinär verbunden sind und von ihnen profitieren, gleichzeitig aber als eigenständiges Verfahren mit zahlreichen Modifikationen anzusehen sind. Vor diesem Hintergrund können für Gruppenpsychotherapien implizit spezifische Wirkfaktoren angenommen werden. Während unspezifische oder allgemeine Wirkfaktoren allen Psychotherapien gemeinsam sind (Orlinsky et al. 2015), sind spezifische Wirkfaktoren, wie z. B. »interpersonelles Lernen«, »Katharsis«, »Kohäsion«, »Altruismus« und »Reinszenierung der Familiensituation« (Yalom 2005 b) bevorzugt in Gruppenpsychotherapien zu beobachten. Darüber hinaus können wir angesichts der hier vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Mentalisieren in Gruppen annehmen, dass gerade Gruppenpsychotherapien in besonderem Maße zur Verbesserung des Mentalisierens sowie des epistemischen Vertrauens und zur Förderung von Resilienz beitragen.
Ohne die Existenz von »Gruppe(n)« und deren Fähigkeit zum Lernen durch Imitation, zum Lernen durch Unterricht und zum Lernen durch Zusammenarbeit bzw. der Fähigkeit zur kulturellen Weitergabe kognitiver Fertigkeiten, hätte es wahrscheinlich die Spezies »Homo sapiens« niemals gegeben (Tomasello 1999, S. 16 f.). Menschen haben nicht nur die Fähigkeit erworben, zu lernen, sondern auch zu lehren, was unter dem Begriff »natürliche Pädagogik« in jüngerer Zeit Interesse geweckt hat. Menschliche Kommunikation ist das evolutionäre Produkt des Bedürfnisses, kulturelles Wissen miteinander zu teilen; dies erzeugt in der Regel sofort eine Erwartung, dass andere bzgl. dieses Wissens zur gleichen Gruppe, zum gleichen Gruppenprozess gehören.
Seit Beginn des letzten Jahrhunderts ist die Literatur zu Gruppen voll von Hinweisen, dass »Gruppe« im psychischen Sinn ansteckend ist und dass die »Ansteckungsgefahr« mit der Größe einer Gruppe zunimmt, was z. B. in Paniksituationen ebenso zu beobachten ist wie in Massenveranstaltungen, in denen einem politischen »Führer« allein mit seiner Rede gelingt, eine Menschenmenge zu »hypnotisieren« (McDougall 1920).
Andererseits...